ADHS bei Kindern: Was Eltern wissen müssen
Die Diagnose ADHS löst viele Fragen und Unsicherheiten aus. Was bedeutet sie genau? Wie kann man betroffene Kinder unterstützen? Erklärungen und Tipps von Fachpersonen.
Was ist eigentlich ADHS?
Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Betroffene haben Mühe mit der Aufmerksamkeitslenkung und/oder der Impulskontrolle. Manchmal kommt zusätzlich eine starke körperliche Unruhe hinzu.
Man kann ADHS auch als ein Problem der Selbststeuerung beschreiben. Betroffene haben Probleme mit der Planung und Organisation, können ihre Gefühle schlechter regulieren, schieben häufiger auf, sind oft vergesslich und wirken abwesend.
Also ist ADHS keine Krankheit?
Wir sprechen lieber von einer Auffälligkeit. Menschen mit ADHS verhalten sich anders und erleben die Welt anders als andere.
Sie haben durchaus auch Stärken und Besonderheiten, die je nach Kontext hilfreich sein können.
In der Psychologie spricht man bei ADHS von einer Störung, also von einer problematischen Abweichung von der Norm.
Das Wissen über ADHS hilft im späteren Leben
Warum problematisch?
ADHS führt sehr oft zu gravierenden Folgeproblemen – wenn die Betroffenen nicht wissen, wie sie mit ihren Schwierigkeiten umgehen können. Verschiedenen Studien zufolge entwickeln zirka 80% der ADHS-Betroffenen im Laufe der Zeit eine zusätzliche psychische Störung.
Viele können keinen Schulabschluss machen, der ihren Fähigkeiten entspricht, sind beruflich durchschnittlich signifikant weniger erfolgreich, häufiger arbeitslos, haben eine höhere Scheidungsrate und begeben sich deutlich häufiger in Risikosituationen – sei es beim Autofahren, in der Sexualität oder beim Experimentieren mit Drogen. Oft ecken sie auch im sozialen Bereich an.
Wieso das?
Für die Bezugspersonen ist das Verhalten von hyperaktiv-impulsiven und sehr unaufmerksamen Kindern und Erwachsenen oft schwer auszuhalten. Beispielsweise, wenn ein Kind im Unterricht ständig aufsteht und herumgeht, sich nicht an Regeln hält oder kaum etwas mitbekommt, weil es vor sich hinträumt.
Auch als Erwachsene reagieren Betroffene bei Konflikten oft sofort aufbrausend und aggressiv, schieben Aufgaben vor sich her oder halten sich nicht an Abmachungen. Meist erschweren es diese Verhaltensweisen, Freundschaften oder eine Partnerschaft aufzubauen und zu erhalten oder im Arbeitsleben seinen Platz zu finden.
Oft wird behauptet, ADHS gäbe es gar nicht. Was meint Ihr dazu?
Jede psychische Störung ist letztlich eine Definitionsfrage: Ein Expertengremium entscheidet darüber, welche Auffälligkeiten als Störung anerkannt werden und bei welchen Symptomen man eine Diagnose stellt. Man könnte also analog behaupten, dass es Depressionen oder Anorexie (Magersucht) nicht gibt.
Dass manche Kinder grosse Probleme bei der Aufmerksamkeitslenkung und Selbststeuerung haben, wird wohl jede Person, die mit Kindern zu tun hat, bejahen. Die Frage, die wir uns stellen können, ist: Ist es sinnvoll, dass man diese Probleme ab einem bestimmten Ausmass als Störung bezeichnet?
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Eine ADHS-Diagnose ist nötig, um die richtige Hilfe zu erhalten
Und? Was ist Eure Meinung?
Kinder und Erwachsene mit ADHS sind in den meisten Fällen auf Hilfe angewiesen. Und im gegenwärtigen Gesundheitssystem ist diese Unterstützung meist an eine Diagnose gebunden. Das gilt für eine Therapie, die von der Krankenkasse nur in diesem Fall übernommen wird, genauso wie für einen Nachteilsausgleich in der Schule.
Viele Kinder mit ADHS haben zudem Schwierigkeiten beim Lernen und benötigen die Unterstützung einer Heilpädagogin. In vielen Fällen wird dies nur denjenigen Kindern zuteil, die einen ausgewiesenen Förderbedarf haben, sprich: eine Diagnose.
Eine Diagnose ist also eine Voraussetzung für Hilfsangebote…
Ja. Sie kann aber auch dabei helfen, wirksamere Unterstützungsmöglichkeiten zu finden. Denn wenn man ähnliche Schwierigkeiten in einer Diagnose zusammenfasst, ihnen also einen Namen gibt, können Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt sich mit einer bestimmten Auffälligkeit befassen, dazu forschen und sich darüber austauschen.
Und was bedeutet das für die Eltern von Kindern mit einer ADHS-Diagnose?
Die Eltern können sich zielgerichteter informieren und sich auch mit anderen betroffenen Familien austauschen. Wenn wir beispielsweise ein Seminar zum Thema Lernen mit ADHS für Eltern leiten, fragen wir zu Beginn, welche Schwierigkeiten sie zu Hause beim Lernen und bei den Hausaufgaben erleben.
Die Familien sind jeweils überrascht, wie ähnlich die Situation bei allen ist.
Das ist für die Eltern entlastend. Und wir können das Seminar ganz auf diese Probleme zuschneiden und dabei auf die wissenschaftliche Forschung zurückgreifen, die zeigt, was ADHS-betroffenen Kindern das Lernen erleichtert.
Viele betroffene Erwachsene leiden heute noch
Sagte man früher diesen Kindern mit ADHS nicht einfach Zappelphilipp? Oder Träumer?
Wahrscheinlich. Allerdings sind Bezeichnungen wie Zappelphilipp oder Hans-Guck-in-die-Luft per se auch problematisch. Diese sowie weitere Geschichten wie der Struwwelpeter oder Max und Moritz verdeutlichen die damalige Ansicht, dass man Kindern solches Verhalten austreiben müsse – zur Not mit blanker Gewalt. Und dass das Leben ihnen früher oder später eine Lektion erteilen wird – wenn sie so bleiben.
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Dem Struwwelpeter werden die Finger abgeschnitten, Max und Moritz werden durch die Mühle gemahlen. Grausam!
In der Generation unserer Eltern wurden Kinder mit ADHS-Symptomatik in der Schule oft bestraft.
Kinder mit Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwächen sowie einer ADHS wurden oft als dumm oder unerzogen bezeichnet und schulisch abgeschrieben.
Aber werden Kinder heute nicht zu rasch in Schubladen gesteckt?
Das kann durchaus sein. Allerdings lässt sich die Ansicht, dass es diese Auffälligkeiten früher nicht gegeben hätte oder die romantische Verklärung, dass das früher keine Rolle spielte, weil die Kinder noch Kinder sein durften, nicht halten. Das zeigt sich, wenn man mit Erwachsenen zwischen 30 und 90 spricht, die mit diesen Auffälligkeiten aufgewachsen sind.
Viele von ihnen leiden noch heute darunter, dass sie von Mitschüler:innen gemobbt und ausgeschlossen, von Lehrkräften blossgestellt und bestraft und von den Eltern abgewertet wurden.
Zurück bleibt oft das Gefühl, dass niemand einen versteht, man als Person insgesamt unzulänglich ist und die eigenen Besonderheiten keinen Platz haben.
Nicht jedes zappelige Kind hat ADHS
Jetzt gibt es aber Eltern, die sich mit einer Abklärung schwertun. Ist diese denn wichtig?
Nur weil das eigene Kind ein wenig verträumt oder stellenweise impulsiv ist, ist eine Abklärung nicht gleich nötig. Wir würden zu einer Abklärung raten, wenn bei Eltern und / oder dem Kind ein entsprechender Leidensdruck besteht. Eine Abklärung kann auch deshalb wichtig sein, weil dabei nicht nur festgestellt wird, ob eine ADHS vorliegt, sondern auch, weil andere Ursachen ausgeschlossen werden.
Könntet Ihr da ein Beispiel geben?
Wenn ein Kind beispielsweise im Unterricht über einen längeren Zeitraum sehr abwesend oder unruhig wirkt, dann könnte dies daran liegen, dass es mit dem Stoff generell über- oder unterfordert ist, eine Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche hat oder sich aufgrund von Ängsten oder emotionalen Belastungen (z.B. eine Mobbingsituation in der Klasse, familiäre Konflikte etc.) in sich zurückzieht.
Auch körperliche Ursachen kommen in Frage: Vielleicht sieht oder hört das Kind schlecht, leidet unter einem Mangelzustand (z.B. einem Eisenmangel oder einer Schilddrüsendysfunktion) oder eine unerkannte Epilepsie führt zu Absenzen.
Wir haben auch schon erlebt, dass ein Kind jahrelang im Unterricht schnell ermüdet und abschweift, weil es durch angestrengtes Schauen ein verdecktes Schielen und eine Sehschwäche kompensiert. Ist aber beispielsweise lediglich die Lernsituation zu Hause schwierig, kann man sich auch einfach ein Buch kaufen, das bei diesen Schwierigkeiten weiterhilft, oder sich punktuell von einer Fachperson beraten lassen.
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Eine Diagnose bedeutet Handlungsspielraum
Seht Ihr auch Nachteile einer Diagnose?
Eltern erzählen uns oft, dass bei ihrem Kind viel Zeit und Energie auf die Abklärung verwendet wurde, man als Familie aber im Anschluss kaum Beratung und Begleitung erfahren hat – das ergibt keinen Sinn. Wenn das Ergebnis einer Abklärung lediglich ist, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt und man dafür einen Namen findet – ohne den Handlungsspielraum zu sehen und auszunutzen, dann schadet eine Diagnose mehr als sie nützt.
Also dass sich ein Kind zum Beispiel auch weniger zutraut durch die Diagnose ADHS?
Ja. Wir sehen manchmal Kinder und Jugendliche, die denken, dass sie sich sowieso nicht konzentrieren können, weil sie halt ADHS haben. Aber auch Eltern und Lehrpersonen sehen ADHS oft als Problem, das beim Kind liegt.
Wichtig wäre, dass man anerkennt, dass es Kindern mit ADHS beispielsweise schwerer fällt als ihren Klassenkameraden, still zu sitzen oder sich zu konzentrieren und sie daher auf einiges angewiesen sind. Zum Beispiel:
Dass man ihre Bemühungen sieht und würdigt, ihnen kleine Fortschritte zurückmeldet.
Dass man ihnen die Konzentration erleichtert, indem man auf regelmässige kurze Pausen achtet, einen geeigneten Sitzplatz sucht und ihnen dort entgegenkommt, wo sie auf mehr Hilfe angewiesen sind.
Was Kinder mit ADHS in der Schule brauchen
Die Schule ist also ein grosses Thema für Kinder mit ADHS?
Ja, weil die Auffälligkeiten wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität in diesem Kontext am meisten ins Gewicht fallen. Zudem wird von Kindern heute in der Schule sehr viel im Bereich der Selbststeuerung erwartet.
Sie sollen selbst organisiert lernen, sich die Hausaufgaben mittels Wochenplan selbst einteilen, sich in vielen unterschiedlichen Lernsettings zurechtfinden. All das bereitet Kindern mit ADHS grosse Schwierigkeiten.
Was können denn Lehrpersonen tun, damit die Kinder bei der Selbststeuerung nicht überfordert sind?
Diese Kinder benötigen mehr Anleitung, Struktur und Hilfe bei der Organisation und Planung. Weiss eine Lehrperson, dass ein Kind ADHS hat, kann sie beispielsweise kurz mit ihm überprüfen, ob es die Hausaufgaben eingetragen hat. Und sie kann mit ihm überlegen, wie es daran denken kann, das nötige Material einzupacken, anstatt ihm ständig Striche und Strafaufgaben zu geben.
Während man beispielsweise Kindern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche entgegenkommt, sehen wir bei ADHS-betroffenen Kindern leider immer noch, dass diese oft lediglich kritisiert und bestraft werden und sich mit der Zeit zunehmend als das schwarze Schaf fühlen und anfangen, die Schule zu hassen.
Euer Fazit?
Die Diagnose ADHS ist aus unserer Sicht nur dann sinnvoll, wenn sie dazu beiträgt, dass sich das ändert und diese Kinder das bekommen, was sie brauchen, um sich gut entwickeln zu können. Wenn das gelingt – da sind wir uns sicher – sind ADHS-Betroffene eine Bereicherung für unsere Gesellschaft und in der Lage, ihre Stärken und Besonderheiten auszuspielen.
Bücher zum Thema ADHS und ADS
Stefanie Rietzler, Fabian Grolimund: Lotte, träumst du schon wieder?
Stefanie Rietzler, Fabian Grolimund: Erfolgreich lernen mit ADHS und ADS
Saskia Niechzial: Wilma Wolkenkopf
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 15. November 2020 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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