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Ein Kind mit Behinderung: «Ich fürchtete mich vor der Zukunft»

Down-Syndrom, Herzfehler – eine niederschmetternde Diagnose. Und das in der 27. Woche. Schwangerschaftsabbruch? Nein, finden Sandra und ihr Mann.

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Text: Sandra Trupo

Diagnose Down-Syndrom und Herzfehler in der Schwangerschaft. Wie soll ich mich entscheiden? Ein Erfahrungsbericht. - www.mal-ehrlich.ch

So weit ich mich zurückerinnern kann, habe ich mich immer gern ein wenig abseits der Norm bewegt. Es ging mir nicht ums Auffallen, aber stinknormal zu sein, das fand ich langweilig.

Ich war gerne das Mädchen, das Fussball spielt. Die Studentin, die während der Vorlesung auf dem Tisch ein Nickerchen hält. Die Mutter, die ihr Kind beim Sprung in eine riesengrosse Dreckpfütze anfeuert statt zu schimpfen.

Dann kam der Tag, an dem das Besonderssein einen neuen Beigeschmack erhielt.

«Sehen Sie da, das Loch zmitzt im Herzen?» Der Professor fuhr mit der Ultraschallsonde über meinen Bauch.

Ich sah es nicht. Wollte es auch nicht sehen. Und schon gar nicht hören.

Doch er fuhr unerbittlich fort:

«Das ist ein Atrioventrikulärer Septumdefekt … muss im Säuglingsalter operiert werden … zusammen mit den anderen Softmarkern ein starkes Indiz für Trisomie 21«.  Soweit meine bruchstückhafte Erinnerung.

Das war im April 2014.

Ich war 29 Jahre alt und in der 27. Woche schwanger mit unserem zweiten Kind.

Und wie ich nun wusste: Mit einem Kind mit Behinderung.

Nie im Leben hätten mein Mann und ich mit dieser Diagnose – Down-Syndrom und Herzfehler – gerechnet. Es trifft ja immer nur die anderen – und nun waren wir plötzlich diese anderen, die Besonderen. Es zog mir den Boden unter den Füssen weg. Ich war verzweifelt, fühlte mich hilflos, wollte die Zeit zurückdrehen.

Das Besonderssein war plötzlich gar nicht mehr reizvoll.

Zumal die Ärzte ein ziemlich düsteres Bild von der Zukunft mit so einem besonderen Kind malten und eigentlich alle Fachpersonen von einer Abtreibung ausgingen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass eine Abtreibung so spät überhaupt noch möglich war. Nun erfuhr ich, dass sich rund 90 Prozent der werdenden Eltern, deren ungeborenes Kind die Diagnose Down-Syndrom erhält, für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.

Was bedeutet es, ein Kind mit Trisomie 21 zu haben?

Das fragten wir uns unablässig. Für die Mediziner war die Antwort klar. Ein Kind mit dieser Behinderung bedeutet: viele Risiken, Probleme, Einschränkungen.

Bereits vor der ersten Schwangerschaft hatten mein Mann und ich mal grob darüber nachgedacht, ob wir uns denn auch ein Leben mit einem Kind mit Behinderung vorstellen könnten. Für mich war die Antwort ein klares Ja. Damals.

Aber seien wir ehrlich: Das ist alles nur graue Theorie, wenn man nicht wirklich im realen Leben vor diese Frage gestellt wird. Und so kreisten meine Gedanken. Und kreisten. Und kreisten.

Ich fürchtete mich vor der Zukunft, vor allem vor meiner eigenen.

Werde ich je wieder ein eigenes Leben haben? Je wieder glücklich sein können? In ein paar schwachen Sekunden hätte ich die Schwangerschaft am liebsten einfach rückgängig gemacht und von vorne begonnen. Und gleichzeitig war da dieses Kind, unser Kind, das in meinem Bauch kräftig strampelte und dessen Name wir schon bestimmt hatten. Längst war es ein Teil unserer Familie.

Wann ist ein Leben lebenswert, fragten wir uns.

Wenn unser Kind doch nur dieses eine Leben hat. Dieses Leben oder keines.

Und so wurde uns nach einigen Tagen klar, dass wir zu den anderen 10 Prozent gehören würden.

Ab dem Moment, in dem wir unsere Entscheidung klar kommunizierten, änderte sich auch der Grundtenor der Mediziner. Der Pränatal-Kardiologe, die Frauenärztin, die Hebamme, die Doula, alle bewunderten uns plötzlich – für unseren Mut, dieses besondere Kind zu bekommen. Und von überall her hörten wir nun, was für ein sonniges Gemüt Menschen mit Down-Syndrom doch hätten, wie viel Freude sie versprühten. Plötzlich tönte alles wieder viel positiver.

Doch die Trauer über das verloren geglaubte Wunschkind, sie blieb.

Und die Sorge, die Angst vor der Zukunft. Aber auch die Vorfreude kam nach und nach zurück.

Unser Sohn kam im Juli 2014 zur Welt und überraschte uns alle. Denn all die Horrorszenarien der Mediziner, sie trafen nicht ein. Er musste nach der Geburt nicht auf die Neo, ich konnte ihn voll stillen, er wuchs und gedieh trotz Herzfehler. Mit vier Monaten wurde er am offenen Herzen operiert. Neun Tage später waren wir wieder zu Hause und seither gilt er als herzgesund.

Aus heutiger Sicht war meine Furcht vor der Zukunft nicht berechtigt.

Abgesehen von den vielen Therapieterminen fühlt sich unser Leben ziemlich normal an. Unser Sohn hat inzwischen noch einen kleinen Bruder bekommen, besucht die Spielgruppe und wird ab August in den Kindergarten bei uns im Dorf gehen können.

Das Leben mit einem Kind mit Behinderung? Eigentlich recht gewöhnlich.

Manchmal werden wir mit der Frage konfrontiert, ob wir das denn nicht vorher gewusst hätten. Dafür hat uns nie jemand gefragt, ob unser Sohn mit vier Monaten denn schon durchschlafe oder mit jährig schon laufe und Zweiwortsätze bilde.

Er läuft ausser Konkurrenz. Manchmal dauert ein Entwicklungsschritt ewig. Und dann wieder überrascht er uns mit etwas, das wir ihm gar nicht zugetraut hätten.

Auch mein eigener Anspruch an Perfektion ist stark gesunken – nicht nur gegenüber meinen Kindern, besonders gegenüber mir selbst. Chaotischer Haushalt? Eintöniges Mittagessen? Unrasierte Beine? Alles nicht so wichtig. Auch ich als Mutter laufe in gewisser Weise ausser Konkurrenz. Und das ist sehr entspannend.

Klar gibt es Mühsames, Anstrengendes.

Sachen, die ich lieber anders hätte. Aber das gibt es bei allen unseren drei Jungs. Genauso wie alle drei ihre tollen Seiten haben.

Nur das versprochene sonnige Gemüt, das ist bei unserem Sohn leider noch nicht so recht zum Vorschein gekommen. Er war ein ziemlich entspanntes Baby, das selten weinte, das stimmt schon. Aber jetzt? Eher wolkig. Und sehr stur. Sehr, sehr, sehr stur. Aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf. Wer weiss, vielleicht wird er mal ein besonders sonniger Teenager? Haha.

Was ich damit sagen will: Unser Kind mit Behinderung ist weder das Ende unseres Lebens, noch die personifizierte Sonne in unserem Leben.

Es ist einfach nur unser Kind, nicht mehr und nicht weniger.

Unser Sohn geht mir fürchterlich auf die Nerven. Macht mich unglaublich stolz. Bringt mich an den Rand des Wahnsinns. Lässt mich Tränen lachen. Genauso wie seine beiden Brüder auch.

Und was ist mit mir, bin ich nun auch etwas Besonderes?

Mitnichten. Aber zum Glück auch nicht stinknormal. Bin ich bewundernswert? Ich finde nicht. Jedenfalls nicht dafür, dass ich unsere Kinder – und zwar alle drei – so annehme und liebe, wie sie sind. Oder es zumindest jeden Tag aufs Neue versuche.

Falle ich auf? Ja, vielleicht. Das fällt mir selbst aber nicht auf. Dafür bin ich viel zu beschäftigt, unseren Sohn unterwegs am Ausbüxen zu hindern. Und beim Dreckpfützen-Springen anzufeuern.

Porträtfoto von Sandra Trupo-Kuhn - Redaktion mal ehrlich AG - www.mal-ehrlich.ch

Autorin

Als freie Journalistin schreibt Sandra Trupo-Kuhn (Jg. 1984) über all das, wofür ihr Herz schlägt, vom Muttersein über Inklusion bis zum Regionalfussball – am liebsten mitten in der Nacht. Sie lebt als «Huhn im Korb» mit ihrem Mann, drei Söhnen (geboren 2012, 2014 und 2017) und einem Kater im Zürcher Unterland, schwankt täglich zwischen Chaos und Perfektionismus und ist immer für absurde Abenteuer zu haben. Sandra ist seit 2019 Teil unserer Redaktion.

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 18. Juni 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.


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23 Antworten

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  1. Avatar von Nini
    Nini

    Habe dasselbe Schicksal: bei mir wurde beim Organscreening bei meinem Kind ein AVKanal entdeckt, zuvor waren alle Untersuchungen inklusive Ersttrimesterscreening völlig unauffällig gewesen. Nach der angeratenen Fruchtwasseruntersuchung war auch klar, dass es Trisomie 21 ist. Die Ärzte haben völlig anders reagiert: alles an meinem Kind sei ja so schön und unauffällig, gerade der Herzfehler sei da, aber heutzutage wäre das kein Problem mehr, den zu operieren, Kinder seien dann herzgesund, würden dann keine Medikamente brauchen…uns hat das sehr entspannt. Wir haben uns dafür entschieden, bei uns ist es jetzt aber eher umgekehrt. Gleich nach der Geburt kam ein weiteres Problem dazu, jetzt wurde unser Kind operiert und eine Klappe konnte nicht gut gemacht werden – plötzlich heißt es, ein AVKanal sei doch kein so einfach zu operierender Herzfehler,…sehr komplex sogar, – auch bräuchten dann viele Kinder einen Herzschrittmacher, weil genau beimReizleitungssystem operiert wird. Dinge, von denen wir vorher noch nie etwas gehört haben und die jetzt völlig normal bei diesem Herzfehler sein sollen…ich liebe unser Kind und wäre ewig traurig, hätte ich es in der 25. Woche gehen lassen. Dennoch wäre ich froh gewesen, man hätte da ein realistischeres Bild von dem, was auf einen zukommt, gezeichnet .

    1. Avatar von Sandra Trupo
      Sandra Trupo

      Liebe Nini, Danke fürs Teilen deiner Erfahrung. Interessant, dass ihr nach der Diagnose in der Schwangerschaft ganz andere Reaktionen von den Ärzt*innen erhalten habt. Einerseits finde ich es schön, dass sie ein positives Bild gezeichnet und euch Mut gemacht haben. Andererseits macht das den Umgang mit unerwarteten Rückschlägen natürlich schwieriger. Im Endeffekt geht es uns wahrscheinlich ähnlich, wir hätten uns beide realistischere Einschätzungen gewünscht. Ich habe in den letzten sieben Jahren die Erfahrung gemacht, dass man die besten Einschätzungen und Tipps oft nicht von Ärzt*innen und anderen Fachleuten, sondern von anderen Eltern mit Kindern mit Trisomie 21 bekommt. Ich wünsche euch und eurem Kind alles Gute!

  2. Avatar von Sonja
    Sonja

    So schön und ehrlich gschriba❤miar hän vum extra vu üssera 17 monatiga tochter erst noch da geburt erfahra, aber miar hetten au in da schwangerschaft zu däna 10% kört🙏❤

  3. Avatar von Bettina
    Bettina

    Einfach nur wunderschön ❤️! Ich bin tief gerührt. Vielen Dank für deine ehrlichen Worte.

  4. Avatar von Eveline
    Eveline

    Ein super Text, sehr sympathisch geschrieben!

    Liebe Grüsse auch von einem Huhn im Korb (8/4)

  5. Avatar von Tamara
    Tamara

    Vielen lieben Dank!! Endlich mal ein Text mit dem ich mich voll identifizieren kann. Endlich mal ein Text von einer Mutter, die weiss, wovon sie spricht. Ich habe es so satt, Texte über das Leben mit einem Kind mit T21 zu lesen, geschrieben von Personen, die nicht betroffen sind. Ich habe auch ein solches Exemplar zuhause, geboren im Jahr 2015 und ebenfalls sehr, sehr, sehr stur und gleichzeitig das witzigste und schlaueste Wesen, das ich kenne. Alles liebe.

  6. Avatar von Tamara
    Tamara

    Vielen lieben Dank!! Endlich mal ein Text mit dem ich mich voll identifizieren kann. Endlich mal ein Text von einer Mutter, die weiss, wovon sie spricht. Ich habe es so satt, Texte über das Leben mit einem Kind mit T21 zu lesen, geschrieben von Personen, die nicht betroffen sind. Ich habe auch ein solches Exemplar zuhause, geboren im Jahr 2015 und ebenfalls sehr, sehr, sehr stur und gleichzeitig das witzigste und schlaueste Wesen, das ich kenne. Alles liebe.

  7. Avatar von andrea
    andrea

    mir liefen die Tränen wie ein Bergbächli herunter beim lesen dieses Textes. ich wünsche eurer Familie alles Liebe und Gute 💓

  8. Avatar von Gabriela
    Gabriela

    …so en wunderschöne, berührende text, sandra. du bisch es tolls mami und e grossartigi frau. schön, gits mänsche wie dich. witerhin viel spass bim pfützegumpe und zwüschedure ganz viel schlaf 😉.

  9. Avatar von Melanie
    Melanie

    So ein toller und vor allem positiver Text. Euer Schatz hat sich euch “ausgesucht” und ist bei euch goldrichtig 🤗
    Wir gehören übrigens auch zu den “anderen 10%” und vieles in deinem Text kommt mir sehr bekannt vor.

  10. Avatar von Dayana
    Dayana

    Grossartig, echt bewundernswert und so natürlich aus dem Leben, so wie es eben ist – und sein tun wir alle mit Wolken und Sonne! Bravo, du hast mich sehr berührt und ich finde es ganz ganz toll wie ihr damit umgeht. Genau deshalb hat euch Nino wohl ausgesucht – ein Geschenk für euch und ihn. Wirklich wunderschön, alles Liebe der Familie, Kraft, Energie und Nerven – vor allem aber eines Tages wieder Schlaf 😉

  11. Avatar von Melanie
    Melanie

    Ganz toller Text! Bitte weiterschreiben (nicht nur IV-Anträge und co. 😉).

  12. Avatar von Karin
    Karin

    Wunderbarer Herzenstext….. Oh doch: Du bist bewundernswert. Einfach, weil Du den wahren Sinn des Lebens entdeckt hast. Du auf Dein Herz gehört hast und JA zum Leben sagst.

  13. Avatar von Howzee
    Howzee

    Wunderschön geschrieben – aus der Feder mitten ins Herz! Eine tolle „Mann“schaft scheinst du da beieinander zu haben. Noch schöner zu wissen, dass solch tolle Menschen ganz in der Nähe wohnen.
    Weiterhin viel Durchhaltewillen bei den „wolkigen Tagen“ und viel viel Spass beim Pfützenspringen! Yeeeah!

  14. Avatar von Nadine
    Nadine

    Danke für diesen Text, der mich berührt hat! Es ist schön zu lesen von Menschen, die zu diesen 10% gehören.

  15. Avatar von Imelda
    Imelda

    Einfach toll und sehr berührend. Vielen Dank fürs Teilen.

  16. Avatar von betzgi
    betzgi

    wie ich dich auch kennen und schätzen lernte, gearbeitet an solchen sachen wird in der nacht, weil der tag so viel mehr zu bieten hat 🙂

  17. Avatar von Mami vo de Joelle
    Mami vo de Joelle

    Fantastisch Sandra!!! Und doch, du bisch bewunderswert! Ich denks immer wieder:-*

  18. Avatar von Andrea
    Andrea

    Toller Text von einer tollen Frau! Danke!

  19. Avatar von Vera
    Vera

    Danke für diesen Text mitten aus dem Alltag.

  20. Avatar von Barbara
    Barbara

    Herzlichen Dank für diesen erfrischenden Text! Liebe Grüsse von Huhn im Korb (9, 6, 3) an Huhn im Korb.

  21. Avatar von Nina
    Nina

    Was für ein wunderschöner Text! Danke dafür!

  22. Avatar von Barfussauflego
    Barfussauflego