«Ich liebe alle meine Kinder gleich.» So ein Quatsch
Man getraut sich fast nicht, das zu sagen: Kinder sind unterschiedlich, also auch unsere Liebe zu ihnen.
Marvin* ist mein Lieblingsenkel. Ja, das kann ich sagen, jetzt als Grossmutter. Da darf man gewisse Vorlieben haben. Von den fünf Kleinen, deren Grosi ich bin, habe ich einfach den besten Draht zu Marvin. Das ist nicht so schlimm, oder? Bei Enkeln darf man Lieblinge haben.
Gleiche Liebe für alle Kinder?
Und wenn man es nicht tut, ist man ein ganz schlimmer Mensch. Dieses Gefühl hatte ich immer.
Ich habe zwei Töchter und einen Sohn – Sandra, Jasmin und Thomas. Natürlich liebe ich alle drei, aber halt nicht gleich fest. Lag es daran, dass Jasmin ein totales Papi-Kind war, schon als kleines Baby lieber mit ihm kuschelte und mir gegenüber oft ablehnend wirkte? Oder dass Thomas beim Spielen immer derart schnell wütend wurde, dass ich bald an meine Grenzen kam mit meinem Erziehungswissen? Und dass Sandra als Kleinkind halt einfach so total pflegeleicht und anhänglich war, dass ich die Zeit mit ihr ganz besonders genoss?
Schuldgefühle und Vorwürfe
Ich spürte einfach diese unterschiedlichen Intensitäten, mit denen ich meine Kinder liebte – und machte mich deswegen jahrelang fertig. Immer wieder versuchte ich, zu Jasmin eine Verbindung zu finden. Ich habe mit ihr vielleicht mehr unternommen als mit Sandra, weil ich unbedingt dieselben Emotionen für sie entwickeln wollte. Aber sie war bis ins Teenageralter eher auf den Papi fixiert, wollte mit ihm spielen, ernste Gespräche führen und so weiter. Und statt geniessen zu können, dass er mich deshalb in vielen Bereichen entlastet, habe ich mir Vorwürfe gemacht.
Bin ich eine Rabenmutter oder liebe ich ganz normal?
War ich während der Schwangerschaft mit Jasmin zu gestresst gewesen? Nach der Geburt zu sehr darauf bedacht, dass Sandra nicht eifersüchtig wird wegen zu viel Geschmuse mit dem Baby? So viele Fragen quälten mich, eine Antwort gab es natürlich nicht.
Und als ich dann auch noch Mühe hatte mit meinem so oft wütenden Buben, war ich irgendwann fest davon überzeugt, ich sei eine Rabenmutter. Eine, die wohl nur für ein Kind gemacht war, weil alles andere zu stressig ist. Die drum nicht genügend Energie für die grenzenlose Liebe hatte, die ich bei Sandra empfand.
Mein Mann half mir. Und auch nicht.
Ich wäre für alle meine Kinder durchs Feuer gegangen, sicher! Aber wenn ich in einer Gefahrensituation nur eines von ihnen hätte retten können, wäre meine Entscheidung wohl schnell getroffen gewesen. Wie furchtbar das klingt!
Mit meinem Mann habe ich ein paar Mal darüber geredet.
Er hat mir ein bisschen helfen können, weil es ihm ähnlich ging, auch er hatte ein Lieblingskind: Jasmin.
Aber was mir nicht half: Er fand das überhaupt kein Problem. Sie suchte halt am meisten Kontakt zu ihm, drum stand er ihr am nächsten. Punkt. Er nahm das total entspannt, während ich mich innerlich zerfleischte.
Der Austausch hilft!
Mütterberaterinnen gab es damals noch nicht so wirklich, drum habe ich mit einer Hebamme geredet. Gebracht hat es mir nichts, sie hat mir gesagt, dass jedes Kind ein Wunder ist und ich dankbar sein soll für drei gesunde Geschöpfe, auch wenn sie unterschiedlich sind. Als ob ich das nicht wäre! Heute weiss ich, dass ich besser zu einer Psychologin gegangen wäre – zu jemandem, der richtig zuhören kann und nicht einfach seine eigene Meinung sagen will.
Als meine Kinder schon fast erwachsen waren, hat sich mir eine Freundin anvertraut. Sie hat zwei Kinder, eines total schwierig und anspruchsvoll. Sie sagte: «Und trotzdem spüre ich für dieses Mädchen eine innigere Liebe, obwohl fast keine Woche vergeht ohne riesige Streitereien. Ist das nicht krank von mir?»
Ich war so erleichtert! Wir haben uns stundenlang ausgetauscht, ein paar Jahre später auch mit anderen Frauen.
Weil es so gut tat, zu sagen und zu hören:
«Ja, das kenne ich. Du bist nicht allein mit diesem Gefühl.»
Ich hoffe sehr, dass meine Kinder in einer solchen Situation andere Eltern um sich haben, die ihnen das sagen. Dass sie sich nicht schuldig fühlen und besser annehmen können, dass man verschiedene Kinder halt unterschiedlich fest gern hat.
*Alle Namen in diesem Gastbeitrag wurden geändert. Die Autorin möchte anonym bleiben, um keines ihrer Kinder zu verletzen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 5. April 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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