Mädchen oder Junge – ganz egal? Nein. Mein Umgang mit Gender Disappointment
Was bin ich nur für eine Mutter? Unsere Gastautorin hätte sich ein Mädchen gewünscht, wird enttäuscht – und schämt sich dafür.
Während der Ultraschalluntersuchung in der 20. Schwangerschaftswoche steigen meine Neugier und Spannung ins Unermessliche. Welches Geschlecht wird das Kind haben? Bitte ein Mädchen, bitte ein Mädchen.
Meine Ärztin sieht zufrieden vom Monitor auf und verkündet „Sie bekommen einen Bub.“ Ihre Worte sind wie ein Schlag in die Magengrube und ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen, schnappe nach Luft. Dabei stammle ich irgendetwas und versuche, möglichst fröhlich zu klingen. Ein kläglicher Versuch. Meine Ärztin seufzt leise und sagt nur: „Es ist absolut okay, enttäuscht zu sein. Die Freude kommt dann noch.“
Also nochmal ein Bub. Ich bin zum zweiten Mal schwanger, unser Sohn ist gerade anderthalb Jahre alt. Für den Rest des Tages funktioniere ich irgendwie und schleppe mich ins Büro. Erst am Abend, nachdem unser Sohn im Bett ist, kann ich mich mit dem Gedanken richtig auseinandersetzen.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Ich werde nie eine Tochter haben!
Diese Gewissheit über das Geschlecht des Babys und die damit verbundene Endgültigkeit treffen mich mit einer unerwarteten Wucht. Denn für uns ist klar, dass die Familienplanung nach diesem Kind abgeschlossen ist.
Ich war noch ein Teenager, als mein Vater ganz plötzlich und unerwartet starb. Wir standen uns sehr nahe und sein Tod hat mich hart getroffen. In dem Moment, wo mir klar wird, dass ich niemals eine Tochter haben werde, empfinde ich ein ähnliches Gefühl wie damals. Eine tiefe Trauer, so als wäre jemand gestorben. Dabei geht es vielmehr um jemanden, der gar nie geboren werden wird. Ich werde nie eine Tochter haben! Der Gedanke ist einfach zu überwältigend.
Als ich meinem Mann das Geschlecht verkünde, freut er sich und strahlt bis über beide Ohren – während ich in Tränen ausbreche. Und wie ich mich für meine Tränen schäme! Sollte ich nicht einfach glücklich sein, dass das Baby gesund ist? Gibt es nicht unzählige Frauen, die alles dafür geben würden, überhaupt schwanger zu werden?
Was bin ich für eine Mutter, die über das Geschlecht ihres Babys enttäuscht ist?
Er sagt gar nichts und nimmt mich nur in den Arm. Ohne jede weitere Erklärung versteht er, ohne zu urteilen. Ich liebe diesen Mann.
In den kommenden Tagen und Wochen versuche ich nachzuvollziehen, warum ich so unendlich enttäuscht und traurig bin. Mein Sohn bedeutet mir alles, also wo ist denn bitteschönverdammtnochmal das Problem? Ich begehe den Kardinalfehler und konsultiere Dr. Google. Oh, die Foren! Sie ziehen mich in ihren Strudel.
Mit meinen Suchwörtern spuckt es mir nach einer Weile den Begriff „Gender Disappointment“ aus und wie sich herausstellt, bin ich mit diesem Gefühl nicht allein. Sehr viele Frauen (und teilweise Männer) leiden unter Gender Disappointment. Dabei kommt das Phänomen natürlich auch in umgekehrter Ausprägung vor – es betrifft also auch jene, die sich sehnlichst einen Jungen wünschen und stattdessen ein Mädchen bekommen.
Viele Eltern erträumen sich ein bestimmtes Geschlecht.
Es gibt verschiedenste Erklärungsversuche und Auslöser für Gender Disappointment. Da wären beispielsweise die Erwartungen des Partners oder anderer Familienmitglieder, die erhoffte Fortführung des Familiennamens mit einem Jungen, die eigene innige Beziehung zur Mutter oder zum Vater, die man auch erleben möchte. Oder im Gegenteil die Befürchtung, mit einem Jungen bzw. Mädchen keine innige Beziehung aufbauen zu können, bis hin zu sexuellem Missbrauch und der damit verbundenen Ablehnung für ein bestimmtes Geschlecht.
So vielfältig die Gründe für Gender Disappointment auch sein mögen, eine Erkenntnis scheint mir nach all der Gedankenwälzerei und der endlosen Lektüre von Fach- und Forenbeiträgen ganz besonders wichtig zu sein: Man kann sein Baby über alles lieben und trotzdem Gender Disappointment empfinden.
Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun und es gibt keinen Grund, sich für seine Enttäuschung über das Geschlecht zu schämen. Sie hat nämlich im Grunde nichts mit dem Kind zu tun, das man bekommt, sondern vielmehr mit der Traumvorstellung des Kindes, das man nicht bekommt. Mit dem unerfüllten Traum, einen Sohn oder eine Tochter aufwachsen zu sehen oder vielleicht einem älteren Kind einen Bruder oder eine Schwester zu schenken.
Eine weitere tröstliche Erkenntnis ist, dass sich Gender Disappointment in den meisten Fällen offenbar ganz von selbst auflöst.
Nämlich spätestens dann, wenn das Kind geboren ist.
Auch der Grund für meine eigene Enttäuschung kristallisiert sich mit der Zeit heraus. Ich habe diese fixe Vorstellung im Kopf, dass Töchter den engeren Kontakt zu ihrem Elternhaus pflegen, während Söhne sich tendenziell eher an der Familie der Frau orientieren. In meiner eigenen Beziehung ist es so und auch in meinem Freundeskreis beobachte ich es immer wieder. An dem englischen Sprichwort „A daughter is a daughter all her life, a son is a son until he gets a wife” scheint mir jedenfalls etwas dran zu sein.
Ich versuche Frieden zu schliessen mit dieser latenten Angst, die sich ohnehin erst weit in der Zukunft bewahrheiten könnte. Und gleichzeitig hoffe ich einfach, dass es bei mir und meinen Söhnen anders sein wird. (Abgesehen davon bekomme ich vielleicht gar keine Schwiegertöchter, sondern Schwiegersöhne! Dann werden die Karten ohnehin ganz neu gemischt!)
Doch es gibt noch einen weiteren Grund für meine Enttäuschung. Mein Mann wird nie ein „Daddy’s Girl“ haben, das zu ihm aufsieht, so wie ich damals zu meinem Vater aufgesehen habe.
Das macht mich unendlich traurig.
Auch weil ich davon überzeugt bin, dass er als Vater einer Tochter ganz neue Seiten an sich entdeckt hätte. Ich hätte diese Seiten an ihm so gerne kennengelernt und jetzt wird es mir für immer verwehrt bleiben. Doch auch mit diesem Gefühl versuche ich meinen Frieden zu schliessen.
Denn da ist dieses kleine Wesen, das in meinem Bauch heranwächst und absolut nichts für meine Gefühle kann. Ich bin für dieses Wesen verantwortlich und muss ihm alles geben, was es braucht.
Mittlerweile bin ich in der 38. Woche schwanger und kann es kaum erwarten, meinen Sohn endlich kennenzulernen (und meine eigenen Füsse wieder sehen zu können!). Zugegeben: Es gibt mir immer noch einen Stich, wenn wir von Freunden oder Familienmitgliedern die freudige Nachricht erhalten, dass sie ein Mädchen erwarten. Auch finde ich es nach wie vor unpassend, wenn Leute Kommentare bezüglich des Geschlechts machen à la „Nochmals ein Bub? Tja, dann müsst ihr halt einfach so lange weitermachen, bis es ein Mädchen gibt!“ Toll ist auch die Frage von teils Wildfremden, ob ich enttäuscht sei oder ob ich nicht lieber ein Mädchen gehabt hätte. Ich antworte dann immer ganz beiläufig „Neinei, ich freue mich auf mein Haus voller Männer. Ich und drei Jungs, weisch wiä!“ Wenn die Leute nur wüssten, wie unangebracht und unsensibel diese Kommentare sind.
Fest steht, dass ich meinen Sohn lieben werde.
Und zwar kein bisschen weniger, wie ich eine Tochter geliebt hätte. Mein Herz wird sicherlich vor Freude platzen, sobald ich den kleinen Mann endlich im Arm halten darf. Meine Ärztin sollte also recht behalten. Es ist okay, enttäuscht zu sein über das Geschlecht. Die Freude kommt dann noch.
Autorin
Die Autorin lebt mit Mann und Sohn in der Stadt Zürich. Bevor sie Mutter wurde, war sie in der Unternehmenskommunikation tätig. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes hat sie auf Agenturseite gewechselt – Stichwort Vereinbarkeit.
Das Muttersein empfindet sie als grösstes Geschenk, aber auch als grösste Herausforderung ihres Lebens. Gleichzeitig versuchen sie und ihr Mann, sich immer wieder bewusst zu machen, dass sie nicht nur Eltern sind. Dank gegenseitiger Unterstützung sowie der Hilfe aus dem Umfeld schaffen sie es mal mehr, mal weniger, gut nach diesem Leitsatz zu leben.
Kennt ihr dieses Gefühl des Gender Disappointment? Wir würden uns über eure Erfahrungen im Umgang damit freuen! Für Kommentare auf dem Handy bitte gaaaanz nach unten scrollen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 19. Dezember 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.