«Ich werde nicht informiert, sondern eingeschüchtert»
Naomi ist schwanger mit Zwillingen und möchte wissen, inwiefern sie bei der Geburt mitentscheiden kann. Die Reaktion? Massive Gegenwehr.
Wer hat unter der Geburt von Zwillingen das Sagen? Ich bekomme schnell zu spüren: Nicht ich.
Bereits nach fünf Minuten ist klar, dass dieses Gespräch normalerweise anders abläuft. «Sie sind aber gut vorbereitet», sagt die Oberärztin und schaut beunruhigt. Wir sitzen in der sogenannten «Risiko-Sprechstunde», die mir und meinem Partner ermöglichen soll, all unsere Fragen zur bevorstehenden Geburt stellen zu können.
Ich bin im achten Monat schwanger und erwarte eineiige Zwillinge. Die Schwangerschaft verlief bisher komplikationslos, einer Spontangeburt steht nichts im Weg.
Beunruhigt ist man trotzdem, immer. Besonders wenn ich die Fragen stelle.
Dass meine Schwangerschaft eine Risiko-Schwangerschaft ist, wurde mir bereits in der 12. Woche gesagt. «Das wird jetzt ganz anders ablaufen als bei Ihrem ersten Kind», verkündete meine Frauenärztin.
Unser Sohn war zwei Jahre zuvor nach einer beschwerdefreien Schwangerschaft im Geburtshaus auf die Welt gekommen. Es war ein fantastisches Erlebnis: Die Geburt verlief ohne Komplikationen, nach 13 Stunden gebar ich ein vier Kilogramm schweres Baby. Keine Geburtsverletzungen, keine Angst, keine Unsicherheit.
Ich gebar in dem Gefühl, mich komplett hingeben zu können.
Dieses Mal würde es also anders ablaufen. Das war okay für mich. Als Journalistin, die über Gesundheit schreibt, habe ich öfters mit den Themen Schwangerschaft und Geburt zu tun.
Ich weiss, dass man sich seine Geburt nicht auswählen kann.
Dass man nicht wissen kann, wie eine Geburt ablaufen wird, geschweige denn wünschen, wie sie ablaufen soll. Aber ich weiss auch, dass man sich informieren kann. Und dass Informationen einem helfen können, diesem so vagen wie ubiquitär verwendeten Begriff «Risiko» die Stirn zu bieten.
Deshalb sitze ich jetzt also hier und bin gut vorbereitet. Ich weiss,
… dass ich befugt bin, vaginal zu gebären, weil beide Zwillinge in Schädellage liegen.
… dass man allerspätestens in Woche 38 einleiten wird.
… dass man mir eine PDA legen will und die zu Beginn einmal aufspritzt, um festzustelllen, ob sie funktioniert.
… dass man nach der Geburt des ersten Kindes Wehenmittel gibt, damit die Kontraktionen nicht versiegen und das zweite Kind so schnell wie möglich auf die Welt kommt.
… dass ich nicht im Wasser gebären darf.
… dass ich während der ganzen Geburt ein Band mit Sonden um meinen Bauch tragen muss, die Herztöne und Wehen aufzeichnen.
… dass man die Nabelschnur beim ersten Zwilling nicht komplett auspulsieren lassen wird.
… dass ich zum Schluss noch einmal Wehenmittel verabreicht bekomme, damit sich die Plazenta schneller löst.
Das alles muss man mir nicht mehr erklären. Ich will nicht wissen, was gemacht wird, sondern warum.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Und wo es bei einer Geburt von Zwillingen möglicherweise Spielraum für Kompromisse gibt.
Für die Ärztin offenbar eine komplette Überforderung. Ihre Antworten fallen hilflos aus: So gehe man eben vor. Spitalvorschrift. Und Spielraum? Sie schaut verwirrt. Wozu Spielraum?
Nach zwanzig Minuten verlassen wir enttäuscht die Sprechstunde. Das war jetzt einfach Pech, sagen wir uns. Grosses Spital, unterschiedliche Oberärztinnen. Die nächste wird besser sein.
«Sie müssen wissen», die Oberärztin schaut mich mit ernstem Blick an. «Ihr Körper hat diese Zwillinge zwar produziert. Das bedeutet aber nicht, dass er auch dazu gemacht ist, sie ohne Hilfsmittel zu gebären.» Zwei Wochen sind vergangen und ich bin jetzt offenbar nicht mehr nur gut vorbereitet, sondern auch unfähig, meine Kinder zu gebären.
Diese Oberärztin ist jünger als die letzte – und selbstbewusster. Sie klärt mich auf, wieso etwa PDA und Wehenmittel von äusserster Wichtigkeit sind und wie rücksichtslos es sei, diese Hilfsmittel nicht in Anspruch zu nehmen. «Schauen Sie», sagt sie, «wir beide wollen doch dasselbe: dass es Ihnen und den Kindern gut geht.»
Das Killer-Argument.
Aber ich weiss, was ich will.
Mir geht es nicht darum, jegliche Massnahmen zu verweigern. Ich will nur nicht pro forma zu unnötigen Mitteln greifen müssen.
Etwa das mit der PDA, das bedeuten würde, dass man mir zu Beginn ohne jegliche Notwendigkeit Schmerzmittel spritzt. Ob es möglich sei, statt der Periduralanästhesie einen venösen Zugang zu bekommen? «Wieso würden Sie das wollen?», fragt die Ärztin forsch und beginnt, die Vorteile einer PDA aufzuzählen.
Als ich ihr sage, dass sie damit meine Frage nicht beantwortet, versucht sie es mit den Situationen, in denen eine PDA nötig ist. Etwa wenn sich das zweite Kind nicht von selbst in den Geburtskanal absenke und man schnell reagieren müsse. Was üblicherweise bedeute: in die Gebärmutter greifen und das Kind manuell rausholen. «Bis zum Ellenbogen. Da wollen Sie nicht ohne PDA dastehen, glauben Sie mir.»
«Sie haben mir meine Frage immer noch nicht beantwortet», sage ich.
Der Höhepunkt unseres Gesprächs ist erreicht, als sie ihren Ärger darüber kundtut, dass Menschen überhaupt mit Vorstellungen, wie sie gebären möchten, ins Spital kommen. Als würde man ihr nicht vertrauen.
Dabei wisse sie genau, was sie tue. Es sei ihr Job, von Anfang an dafür zu sorgen, dass es nicht zu Notfällen kommt. «Männern ab 60 empfehlen wir auch, sich jedes Jahr auf Darmkrebs untersuchen zu lassen. Wir lassen nicht einfach den Krebs kommen, um ihn zu entfernen, wenn es schon fast zu spät ist», sagt sie.
Der Vergleich mit dem Darmkrebs ist so absurd, dass ich lachen muss. Aber es tut auch weh:
Zu keinem Zeitpunkt dieses Gespräches wird mir eine Mündigkeit zugestanden.
Ich werde nicht informiert, sondern eingeschüchtert. Mir werden keine Kompromisse vorgeschlagen. Jede meiner Fragen endet im Argument, dass ich meine Kinder und mich gefährde, wenn ich mich nicht nach Vorschrift verhalte.
Dabei will ich mich gar nicht verweigern. Ich will über Möglichkeiten einer Geburt von Zwillingen aufgeklärt werden und dann informierte Entscheidungen treffen dürfen, im Wissen um alle Vor- und Nachteile.
Offenbar ist das nicht die Art und Weise, wie man hier diskutiert. «Wir können Sie zu nichts zwingen», sagt die Oberärztin immer wieder. «Aber wir werden beharrlich sein.»
Ein paar Mal frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn ich als Erstgebärende in diesem Sprechstundenzimmer sässe. Wenn ich keine Ahnung von dem hätte, was mich erwartet. Mich nicht in Abläufe und Studien eingelesen hätte.
Was würden Sätze wie «Ihr Körper kann das nicht» für mein Erlebnis einer Geburt von Zwillingen bedeuten?
Ich würde aufhören, an mich zu glauben.
Ich würde allem zustimmen, aber nicht aus einer Informiertheit heraus, sondern aus Angst vor möglichen Komplikationen, die niemand, auch keine Fachärzt:innen, vorhersehen können.
Meine Geburt wäre kein selbstbestimmtes Erlebnis, sondern eine Folge von Eingriffen, durchgeführt von Personen, die sich ihre Orientierungswerte selbst geschaffen haben. Wie soll man vertreten, dass eine PDA nicht Standard sein muss, wenn man jeder Zwillingsgebärenden eingetrichtert hat, sich eine legen zu lassen?
Vielleicht würde ich trotzdem eine gute Geburt erleben. Gut würde in diesem Fall bedeuten, dass nichts schiefgegangen ist. In der ständigen Antizipation, dass Etliches hätte schiefgehen können. Will ich wirklich unter dieser Prämisse gebären?
Nein. Eine positive Geburt bedeutet für mich nicht, dass nichts schiefgegangen ist.
Ich kann auch mit einem sekundären Kaiserschnitt eine gute Geburt erlebt haben. Der Schlüssel ist für mich, dass ich mitentscheiden durfte, wie der Rahmen dieser Geburt aussieht. Dass es trotz möglicher Interventionen meine Geburt war.
Meine Babies, mein Körper, meine Entscheidungen. Trotz der ganzen Risiken.
Mir ist klar, dass dies eine privilegierte Einstellung ist. Hätte ich bei meiner ersten Geburt von medizinischen Interventionen profitiert, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht in diesen Sprechstundenzimmern sitzen und so viele Fragen stellen.
Es ist richtig und wichtig, dass die moderne Geburtshilfe über Mittel verfügt, Geburten zu erleichtern oder zu retten. Mir ist auch bewusst, dass meine Situation ein Spezialfall ist. Risiko-Schwangerschaften sind nicht umsonst als solche gekennzeichnet.
Ich verstehe, dass man als Krankenhaus bei der Geburt von Zwillingen auf der sicheren Seite stehen will.
Nur bin ich nicht per se in Gefahr.
Dieses Detail ist von grosser Bedeutung: Eine gesunde, schwangere Person befindet sich in einer aussergewöhnlichen Situation. Krank ist sie nicht. Auch nicht, wenn potenziell ein Risiko besteht.
Für ein Spital ist das schwierig: Es ist darauf ausgerichtet, kranke Menschen zu heilen. Bei einer komplikationslosen Schwangerschaft und ihrer anstehenden Geburt gibt es vorerst nichts zu heilen.
Will die gebärende Person trotzdem auf Nummer sicher gehen, ist das ihr Recht. Will sie es nicht, ist es das ebenso.
Ich habe unter meinen Geburtshelfer:innen im Spital niemanden, der mich in diesem Recht unterstützt. Für jede meiner Fragen muss ich mich rechtfertigen.
Mir wird das Gefühl vermittelt, ich nähme meine drohende Geburt von Zwillingen nicht ernst.
Denn das scheint sie zu sein: ein nahendes Desaster, das nur darauf wartet, mir meine naive Einstellung um die Ohren fliegen zu lassen.
Ich soll froh sein um die Möglichkeiten der modernen Medizin. Dankbar, dass man sich so ausgiebig um dieses Unheil kümmert, das sich da womöglich in meiner Gebärmutter zusammenbraut.
Da liegt das wahre Problem: in mir und meinem furchteinflössenden Mutterleib. Er und ich müssen unter Kontrolle gebracht werden. Doch wer grundsätzlich eine Geburt kontrollieren will, hat schon verloren. Man kann sich seine Geburt nicht auswählen, auch als Spital nicht.
In rund zwei Wochen werde ich nun also meine zwei Kinder gebären. Ich habe durchgesetzt, dass ich einen venösen Zugang bekomme statt einer PDA. Der Anästhesist meinte beim Gespräch, das sei zwar nicht empfohlen, aber grundsätzlich kein Problem. Im Notfall lege man einfach eine Spinalanästhesie.
Ich hatte zu dem Zeitpunkt mehrere Sprechstunden mit Oberärztinnen hinter mir. Keine von ihnen hatte diese Möglichkeit je erwähnt.
Nachtrag: So war meine Geburt von Zwillingen
Wie die Geburt letztlich verlief, könnt Ihr in dieser Podcastfolge nachhören:
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 3. Februar 2022 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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