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«Hast du Nein gesagt?» – Wir müssen über sexualisierte Gewalt reden

Was muss sich in der Schweizer Gesellschaft ändern im Umgang mit sexualisierter Gewalt? Miriam Suter gibt Antwort.

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Frau liegt im Bett, fest eingewickelt in eine Decke. - sexualisierte Gewalt ist noch immer ein Tabuthema

Seit vielen Jahren recherchiert die freie Journalistin, Mirjam Suter, zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Schweiz. Ihr Fazit: Es braucht eine emanzipatorische Bewegung der Männer, damit sich endlich etwas ändert. 

Miriam Suter, Sie sind in den letzten Monaten auf Lesetour mit ihrem ersten Buch «Hast du Nein gesagt?». Wie erleben Sie diese Veranstaltungen?

Für mich ist etwas vom Spannendesten zu sehen, wer das Buch liest und wer an die Lesungen kommt. Es sind sehr viel mehr Frauen*. Ich hoffe sehr, dass in Zukunft mehr Männer Veranstaltungen zu sexualisierter Gewalt und Feminismus besuchen. 

Haben Sie das Buch für eine bestimmte Zielgruppe geschrieben? 

Die Frage der Zielgruppe stand erst nicht im Zentrum, sondern die Recherche. Wir konzentrierten uns dabei auf die ersten drei Anlaufstellen, die Betroffenen von sexualisierter Gewalt zur Verfügung stehen: die Polizei, die Opferberatung und das Gesetz (Sexualstrafrecht). Weiter porträtierten wir Betroffene, um jedes Kapitel mit der Geschichte einer Frau einzuleiten, die sexualisierte Gewalt erlebt hat.

Für wen wir das Buch geschrieben haben, wurde erst zum Schluss klar. In der Widmung des Buches steht daher: «Für uns». Wir und alle Frauen in unserem Umfeld kennen nämlich solche Erfahrungen. 

Wie ging es Ihnen dabei, als Sie diese Frauen trafen und sie Ihnen ihre zum Teil brutalen Erlebnisse schilderten? 

Ich schreibe schon sehr lange über sexualisierte Gewalt an Frauen und habe mich in gewisser Weise an die Doppelrolle gewöhnt. Im Gespräch bin ich professionelle, objektive Journalistin. Danach bin ich Frau und teilweise betroffen durch die Geschichten.

Ich habe für mich Werkzeuge entwickelt, um damit umzugehen. In solchen Phasen gehe ich zum Beispiel viel spazieren oder koche sehr gerne. Ich habe das Glück, in einem sehr guten Umfeld zu leben, in dem ich reden kann.

Auch die Co-Autorin Natalia Wilda und ich konnten uns gegenseitig sehr gut auffangen. Es gab durchaus Momente, in denen wir weinten, weil es uns sehr nahe ging.  

Früher als junge Frau hatte ich sehr klare Vorstellungen, wie sich ein Opfer verhält. Erst später wurde mir klar, dass dieses Bild der schreienden, sich wehrenden Frau bei einer Vergewaltigung ein Mythos ist, konstruiert zum Beispiel durch Filme.  

Es gibt sehr stark verinnerlichte gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie sich ein Opfer zu verhalten hat, die auch die Einvernahmen bei der Polizei prägen. Die Opferberaterin Agota Lavoyer geht in unserem Buch sehr ausführlich darauf ein.  

Wie prägen diese Vorstellungen die Einvernahmen? 

Sagen wir, eine Betroffene konnte mit der Tat bereits ein wenig abschliessen. Vielleicht hat sie einen eher pragmatischen Charakter und erzählt den Tathergang stringent und unemotional.

Diesen Frauen wird oft weniger geglaubt. Weil die Polizei davon ausgeht, dass sie verwirrt und traurig sein müssten.

Bei den Frauen, die wir getroffen haben, gab es eine sehr grosse Bandbreite an Erzählweisen. Die einen haben ruhig und sachlich beim Kaffeetrinken erzählt. Andere brauchten Pausen, weil sie zum Beispiel weinen mussten.

Oder dann gab es Frauen, die sehr wütend waren, sehr viel Frust hatten. Es gibt nicht das eine Verhalten, es gibt nicht das eine Opfer. Jeder Mensch geht anders damit um.

Hat die Polizei ein Problem im Umgang mit sexualisierter Gewalt? 

Es gibt sehr viele Mitarbeitende bei der Polizei, die reflektiert sind und die sich bewusst sind, was ihre Rolle ist. Tatsache ist dennoch, dass sehr viele Betroffene das Gefühl haben, ihnen werde nicht geglaubt.

Das ist für sie sehr traumatisierend und belastend. Viele Betroffene machen sich sowieso schon früh selbst verantwortlich für die Tat und haben Schuldgefühle. Das wird durch die Einvernahmen verstärkt.

Auch werden sie retraumatisiert, wenn sie mehrere Male in jeglichen Details die Tat schildern müssen.

Gibt es auch klare Vorstellungen, wie sich ein Täter verhält oder wer der Täter sein kann? 

Absolut.

Es herrscht noch immer die verbreitete Annahme, gefährlich seien die unbekannten Männer.

Zum Beispiel der vermummte Mann, der die Frau in der Unterführung vergewaltigt oder ins Auto zieht. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es dein Freund, dein Mann, dein Ex-Partner, dein Chef ist oder jemanden, den du sonst kennst.

Dazu geschehen solche Übergriffe oft sehr schnell, so dass Frauen denken, es könne gar kein Übergriff gewesen sein, weil es vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hat.  

Auch zu wenig Zeit da war, um «Nein» zu sagen? 

«Nein» zu sagen, ist genauso ein Vergewaltigungsmythos, wie dass sich das Opfer wehrt. Das Sexualstrafrecht verlangt jedoch, dass sich die Frau zur Wehr setzt und dies beweisen kann, damit es als Vergewaltigung gilt. Sie wird auch gefragt, ob sie «Nein» gesagt hat. Das Sexualstrafrecht ist jetzt glücklicherweise in der Reform.  

Es kommt nur in 8 Prozent der Fälle zu einer Anzeige. Wie relevant ist dabei das Umfeld? 

Es gibt Frauen, die von der Familie oder den Eltern sogar als Lügnerin bezeichnet werden. Oft wird ihnen eine Mitschuld gegeben. Fragen kommen, wie: «Hast du denn Nein gesagt?», «Hat er gemerkt, dass du nicht willst?».

Für viele Betroffene verschlimmert das ihre Situation. Sie müssen überall darlegen, ob sie sich gewehrt haben, überall beweisen, dass sie diesen Akt nicht wollten. Natürlich bin ich froh, dass wir im einen Rechtsstaat leben, aber es ist absurd, wie die Frauen immer wieder erklären müssen, dass sie ein Recht auf körperliche Unversehrtheit haben. 

Kritiker:innen sagen immer wieder, Frauen hätten die Macht, einen Mann mit einem Vorwurf des Übergriffes für immer zu zerstören. 

Diese Leute können dann aber keine drei Menschen nennen, die so etwas erlebt haben. Ja, es gibt Fehlanzeigen, aber nicht mehr, sondern weniger als bei anderen Delikten.

Die Erzählungen, Frauen seien rachesüchtige Wesen oder lügen, gründen auf historischer Frauenfeindlichkeit.

Heute führt das unter anderem dazu, dass es so wenige Anzeigen gibt.  

Was brauchen Menschen stattdessen, die einen sexuellen Übergriff erlebt haben? 

Sie brauchen ein Umfeld, das ihnen glaubt. Dann besser finanzierte Opferberatungsstellen und das Wissen über diese Stellen.

Sie bräuchten sensibilisierte Einvernahmen bei der Polizei. Räume, in denen die Gespräche stattfinden, die nicht aussehen wie ein Gefängnis. Sie brauchen eine Gesellschaft, die nicht dem Opfer Schuld gibt.

Sie brauchen Männer, und potenzielle Täter, die sich reflektieren, und zwar untereinander. Es bräuchte eine Kultur gegen sexualisierte Gewalt.

Wo stehen wir diesbezüglich in der Schweiz? 

Es geht zwar vorwärts, aber wahnsinnig langsam. Seitens Bund gibt es seit ein paar Jahren stärkere Bestrebungen, etwa die «Roadmap» für häusliche Gewalt. Die konkrete Umsetzung – und vor allem die Finanzierung – liegt dann aber wieder bei den Kantonen.

Staatlich finanziert wird der Kampf gegen Gewalt an Frauen kaum. Darum würde ich sagen:

Wir sind in der Schweiz noch nirgends, auch weil wir sehr stark davon geprägt sind, dass sexualisierte und häusliche Gewalt privat ist.

Das sah man auch in der Corona-Pandemie. Die Beratungsstellen wussten, dass die Zahlen häuslicher und sexualisierter Gewalt hochschnellen werden, es passierte dennoch nichts ausser einer Empfehlung eines Flugblattes in den Apotheken. Der Ständerat lehnte eine Kampagne zur Prävention ab.

Die Schweiz arbeitet so aktiv gegen den Schutz Betroffener, obwohl sie im Jahr 2017 der Istanbul Konvention zugestimmt hat.  

In der Erziehung haben wir bisher vor allem die Mädchen in die Verantwortung genommen und sie dazu angehalten, sich zu wehren. Wir haben unsere Töchter in Selbstverteidigungskurse geschickt. Was ist mit den Söhnen? 

Es braucht unbedingt eine fundierte Täterarbeit. Männer und Buben erfahren Gewalt in sehr grossen Teilen ebenfalls von Männern. Es fehlt an Räumen für Männer, damit sie sich dazu untereinander austauschen können. Wie werden sie keine Täter und auch keine Opfer?

Männer wachsen immer noch oft damit auf, dass sie wissen müssen, was Frauen im Bett wollen. Zu fragen, ob Küssen okay ist, gilt als schwach. Beim Sex Fragen zu stellen als unsexy. Es braucht unbedingt eine emanzipatorische Bewegung für Männer, spezifisch für Hetero-Männer.  

*Da juristisch im Sexualstrafrecht von Mann und Frau gesprochen wird, verwenden wir in diesem Interview ebenfalls die binäre Geschlechtsbezeichnung.

Marah Rikli, Autorin - mal ehrlich

Autorin

Marah Rikli ist Journalistin und Aktivistin und Mutter zweier Kinder. Sie schreibt Artikel für diverse Publikationen, u.a. «Magazin», «Republik», «Sonntags­Zeitung», «Wir Eltern», «Tages-Anzeiger». Zudem ist sie Host des Podcasts «Sara und Marah im Gespräch mit» der Frauenzentrale Zürich. Ihre Schwerpunkte: Inklusion, Mental Health, LGBTQIA+, Feminismus, Erziehung. Sie ist für diese Themen auch als Referentin oder Moderatorin von Talks und Panels unterwegs. www.marahrikli.ch (Bild: Anja Fonseka)
Ana Germann hat Miriam Suter fotografiert, die ein Buch über sexualisierte Gewalt mitverfasst hat.

Expertin

Miriam Suter ist freie Journalistin und Buchautorin. Seit vielen Jahren recherchiert sie zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Schweiz und schreibt über feministische und gesellschaftskritische Themen. Sie ist Co-Autorin von «Ich bin Sexarbeiterin», «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt» und produziert zusammen mit der Slam-Poetin Lisa Christ den feministischen Podcast «Faust und Kupfer».

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 15. August 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.


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6 Antworten

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  1. Avatar von Andi
    Andi

    Aus Sicht eines Mannes ein sehr schwieriges Thema, das meiner Meinung nach nicht so einseitig abgehandelt werden sollte. Beginnt mit den verwendeten Zahlen und Definitionen und der Erwartung, die Ermittlungsbehörden hätten den Frauen grundsätzlich zu glauben und sie nicht mit weiteren Abklärungen zu plagen.
    Bei der Vergewaltigung ist schon im Begriff enthalten, dass da in irgendeiner Form Gewalt angewendet werden muss, und so stellt man sich das üblicherweise auch vor. Also körperliche Gewalt, zu Widerstand unfähig machen, Nötigung, was auch immer. Wenn am Schluss nur noch fehlende Einwilligung bleibt, wobei diese Einwilligung nicht einmal ausgesprochen werden muss, dann wird es schwierig. Im dümmsten Fall merkt der Mann nicht einmal, dass er etwas falsch gemacht hat. Und konsequenterweise müsste man dann häufig eine gegenseitige Vergewaltigung feststellen, z.B. wenn Männer unter Alkoholeinfluss Sex haben mit einer Frau, mit der sie sich das nüchtern nicht vorstellen könnten. Es ist grundsätzlich festzuhalten, dass auch Frauen die Einwilligung zu einem Kuss oder mehr einholen müssten, dass da aber in der Realität ein anderer Massstab angewendet wird.
    Und damit komme ich zu meinem Hauptanliegen. “Männer wachsen immer noch oft damit auf, dass sie wissen müssen, was Frauen im Bett wollen. Zu fragen, ob Küssen okay ist, gilt als schwach. Beim Sex Fragen zu stellen als unsexy.” So wird das aber doch auch nach wie vor von vielen Frauen verlangt. Der Mann soll den ersten Schritt machen, der Mann soll sich um die Frau bewerben, er soll der gute Liebhaber sein, der Bescheid weiss. Er nimmt die aktive Rolle ein, er will (immer!) Sex, sie gewährt oder verweigert. Und viele Frauen sind auch nicht bereit, auf Frage zum Sex, zu ihren sexuellen Wünschen und Vorlieben, Antworten zu geben. Geschweige denn eine aktive Rolle einzunehmen und dafür zu sorgen, dass es auch im Bett zu weniger Missverständnissen kommt.
    Insofern braucht es wirklich eine emanzipatorische Bewegung, Aber nicht nur für Männer, sondern für beide Geschlechter. Damit es miteinander besser klappt.

    1. Avatar von Anja Knabenhans
      Anja Knabenhans

      Natürlich braucht es eine emanzipatorische Bewegung beider Geschlechter. Es gibt auch bei beiden Geschlechtern sehr viele Vertreter:innen, die diesen Prozess durchmachen, sich immer wieder selbst reflektieren und Dinge hinterfragen und neu denken wollen – auch mit Rückschlägen, patriarchale Muster sitzen tief und verstecken sich gerne vor aller Augen, aber das gehört zu einem Prozess dazu, man/frau lernt ja nie aus. Und natürlich gibt es solche, die alte Geschlechterstereotype aufrechterhalten, ob unbewusst oder mit einer bestimmten Absicht.
      Es geht aber auch darum, aufzuzeigen, dass wir eine Rape Culture haben. Dafür gibt es gerade aktuell einige leidige Belege, aus dem Sportbereich, aus der Medienszene, Musikszene, Comedyszene… Dass wir Täterschutz statt Opferschutz internalisiert haben. Dass unser Verständnis von Gewalt noch zu wenig klar ist.
      Wichtig ist die Auseinandersetzung damit, die Anerkennung, dass sehr vieles ungünstig läuft, was leider oft nicht passiert. Und dann braucht es sicher den Austausch, die wichtigen Fragen zu männlichen Rollenbildern, zu Erwartungshaltungen und Druck, wie du sie ansprichst. Dazu kommt übrigens bald eine Podcastfolge von uns. Wie du schreibst: Es muss miteinander besser klappen. Dafür stehen wir ein – und danken, dass du beim Diskurs mitmachst und aufzeigst, welche Hürden du siehst. (Aber bitte ohne Alkoholvergleiche und abwertende Bemerkungen gegenüber Frauen, die dir nicht gefallen.)

      1. Avatar von Andi
        Andi

        Es ist eben meiner Meinung nach so, dass gerade Frauen, die sich kämpferisch-emanzipiert geben, in ihren Argumentationen häufig auf Stereotypen und sexistische Aussagen zurückgreifen. Und dann noch dieses Patriarchat und das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, und schon sind die Verantwortlichkeiten klar verteilt.
        Ich bin auch hinten und vorne nicht einverstanden, dass wir angeblich eine “Rape Kultur” haben, in der gemäss Wiki “Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt verbreitet sind und weitgehend toleriert oder geduldet werden.” Sicher nicht. Und der Verweis auf all diese “Belege” aus dem Sportbereich, aus der Medienszene, Musikszene, Comedyszene geht doch eher ins Leere, wenn man sieht, was da jeweils für ein Shitstorm erfolgt ist, inklusive Vorverurteilungen in allen Medien. Und dann in der Regel entweder gar keine Anklage oder rechtliche Freisprüche. Und niemand übernimmt am Schluss Verantwortung für die Schmutzkampagne.
        Und dann habe ich zwar den Austausch gefordert, aber nicht (nur) über männliche Rollenbilder, sondern vor allem auch über weibliche. Weil das ja Hand in Hand geht, gerade wenn es sich um Beziehungsfragen dreht. Und ich bedaure, wie in der Diskussion um Beziehungskonflikte die Frau immer als ohnmächtiges Opfer gesehen wird. So ist es doch nicht, heute, in der Schweiz.
        Noch zur Klammerbemerkung: Ich hatte noch nie so viel Alkohol, dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne war, und noch nie Sex mit einer Frau, die mir nicht gefallen hat. Aber ich kann eine politische Argumentation auch abgelöst von meiner Person führen. Und das Thema Sex unter Alkoholeinfluss ist gegeben, weil man argumentiert, dass die Frau dann quasi gar nicht in der Lage ist, ihre Zustimmung zu geben (der genauso alkoholisierte Täter ist aber natürlich voll schuldfähig). Diese Situation lässt sich auch umdrehen, weil eine der Errungenschaft des neuen Gesetzes ja sein wird, dass überhaupt eine Vergewaltigung eines Mannes möglich und strafbar wird.
        Nur glaube ich nicht, dass das je zu einer Verurteilung führen wird. Denn in unseren Köpfen ist der Konsens des Mannes ja eigentlich immer vorausgesetzt. Oder, wie ich zuletzt mal gelesen habe, durch die körperliche Reaktion belegt, was natürlich Unsinn ist.

        1. Avatar von Anja Knabenhans
          Anja Knabenhans

          Andi, das ist ja nicht die erste Diskussion, die wir führen. Ich kenne deinen Fokus. Bei einigen Dingen widerspreche ich vehement. Aber zuerst: Ich habe dein Hauptanliegen gehört: Es ist für Männer schwierig, dass gleichzeitig das eine von ihnen gefordert wird (z.B. Konsens, Feinfühligkeit, Engagement im Familienalltag), und gleichzeitig die Erwartungshaltungen an sie auch noch präsent sind (die Initiative übernehmen, stark sein, Ernährerrolle). Das ist enorm belastend, führt gemäss Studien nicht selten zu grossen Erschöpfungszuständen und diese Tatsache will ich in keinster Weise kleinreden. Eben genau deshalb ist für Anfang Oktober etwas dazu geplant bei uns.
          Deine Meinung über das Verhalten von einigen Frauen kann ich ebenso nachvollziehen. Nur: Das wird es immer geben. Dass Leute sich emanzipiert geben, gleichzeitig aber mit Stereotypen um sich werfen. Aber das ist ja nicht die Mehrheit. Die Mehrheit möchte einen Dialog. Auch die Mehrheit der Männer, zumindest erlebe ich das. Wir müssen nur gemeinsam herausfinden, wie das geht. Und, nein, der Konsens des Mannes soll nie vorausgesetzt werden. Ich hoffe sehr, dass nach all diesen Diskussion über “Nur JA heisst JA” auch dies immer mehr in den Köpfen einsinkt. Dass diese uralten Stereotype aufgeweicht werden. Ich weiss nicht, ob du beruflich viel mit jüngeren Menschen zu tun hast. Aber falls ja: Dort sind meiner Erfahrung nach schon viele Erwartungshaltungen ganz anders – es ist vieles nicht mehr so strikt festgelegt, dass man sich aktiv gegen alte Bilder wehren muss.

          Jetzt komme ich aber zur Rape Culture und möchte massiv widersprechen. Doch, wir haben die. Es ist furchtbar, aber es ist so. 1 von 5 jungen Frauen bis 16 werden Opfer eines sexuellen Übergriffs. Und 1 von 10 jungen Männern. Längst nicht all diese Fälle führen zu einer Verurteilung. Ein sehr grosser Teil der Bevölkerung kriegt also schon in jungen Jahren mit, dass es irgendwie dazugehört zum Leben. Was das mit einem macht, ist unterschiedlich. Ich habe schon mit verschiedenen Opfern gesprochen, in jeder Altersstufe, von jedem Geschlecht. Und was neben ihrer Erfahrung so schlimm ist, ist die Tatsache, dass sie alle auch erfahren haben: Sowas wühlt das Umfeld nicht mal so krass auf – weil es eben meist nicht die einzige Story ist.

          Zeichen dafür, dass diese Kultur bei uns irgendwie einfach dazugehört sind z.B.
          Dass ein Teil der Gesellschaft (und da schliesse ich Männer mit ein, auch sie sind betroffen) z.B.
          – Überlegen muss, was man anzieht, wie man sich gibt, um nicht “einladend” zu wirken.
          – Lieber den längeren Heimweg nimmt als den kürzeren, weil der eine als sicherer empfunden wird.
          – Sein Getränk in einer Bar nicht unbeaufsichtigt herumstehen lassen will.
          – Die Strassenseite wechselt, wenn eine Gruppe Angetrunkener auf einen zukommt.
          Oder: Solange Medien noch von “Sex-Grüsel” oder “zügellose Milf” schreiben, statt “Vergewaltiger/in”, auch wenn das Urteil gesprochen wurde.
          Oder Solange es zwar mediale Kampagnen gibt bei Verdachtsfällen, der Fokus aber sehr häufig recht schnell auf die Opfer geht und deren Glaubwürdigkeit infrage gestellt wird. (Gemäss int. Studien sind nur 8% der Anschuldigungen falsch.) Und dass es keine Anklage gibt oder Freisprüche liegt an unserem Rechtssystem. Aber ich denke, das weisst du selber, dass freigesprochen nicht gleich unschuldig heisst. Aber, ja, auch die Medien müssen ihre Arbeit sauber machen.
          Ich könnte jetzt noch ewig weiterschreiben. Aber ich weiss eigentlich gar nicht, ob du wirklich bereit bist, von diesem Punkt abzukommen. Ich schreibe dies vor allem für jene Menschen, die deine Kommentare gelesen haben und vor den Kopf gestossen sind. Für die Opfer, die solche Wortmeldungen immer wieder in ein Loch stürzen. Oder wie mir ein Vater kürzlich sagte: “Das, was meiner 22-jährigen Tochter passiert ist, soll keine andere Person durchmachen müssen. Wir müssen jetzt endlich alle genau hinschauen und etwas ändern. Es tut furchtbar weh und ich schäme mich unglaublich, was ich beigetragen habe dazu, dass sich andere Menschen sicher fühlen mit ihrem (übergriffigen) Verhalten. Aber ich muss diese Scham und Verzweiflung und Ohnmacht aushalten und mich jetzt wehren und hinstehen und hartnäckig bleiben. Sonst wird es einem Enkelkind auch wieder geschehen, sonst kommen wir keinen Schritt weiter.”
          Und wenn du mal wirklich über weibliche Rollenbilder reden willst und was sich deiner Meinung nach ändern soll: redaktion@anyworkingmom.com Wir können dazu sehr gern einen Artikel andenken.

          1. Avatar von Andi
            Andi

            Liebe Anja. Ich versuche eigentlich sachlich und nüchtern zu argumentieren. Aber das ist euer Haus. Wenn du findest, dass meine andere Meinung hier unzulässig ist, weil sie eure Leserinnen und Leser vor den Kopf stossen könnte, dann solltest du sie nicht veröffentlichen. Wie du und dein Team habe ich eine gefestigte Meinung, und werde die nicht einfach umstossen. Ausser die Argumente dafür sind bestechend. Aber mir scheint es nur schon wichtig, sich immer wieder bewusst zu werden, dass es Menschen gibt, die gut begründet die Situation anders beurteilen, vielleicht auch politisch anders ticken. Deshalb lese ich solche Texte, deshalb kommentiere ich sie aber auch.

          2. Avatar von Anja Knabenhans
            Anja Knabenhans

            Deine Meinung ist nicht unzulässig und ein Diskurs ist wichtig. Aber dies ist unser Haus, und es soll auch ein Safe Space sein für jene, die es brauchen. Für diese stehe ich ein und gebe Gegenargumente. Welche Meinung sich die Lesenden dann daraus bilden, das überlasse ich ihnen.