«Hast du Nein gesagt?» – Wir müssen über sexualisierte Gewalt reden
Was muss sich in der Schweizer Gesellschaft ändern im Umgang mit sexualisierter Gewalt? Miriam Suter gibt Antwort.
Seit vielen Jahren recherchiert die freie Journalistin, Mirjam Suter, zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Schweiz. Ihr Fazit: Es braucht eine emanzipatorische Bewegung der Männer, damit sich endlich etwas ändert.
Miriam Suter, Sie sind in den letzten Monaten auf Lesetour mit ihrem ersten Buch «Hast du Nein gesagt?». Wie erleben Sie diese Veranstaltungen?
Für mich ist etwas vom Spannendesten zu sehen, wer das Buch liest und wer an die Lesungen kommt. Es sind sehr viel mehr Frauen*. Ich hoffe sehr, dass in Zukunft mehr Männer Veranstaltungen zu sexualisierter Gewalt und Feminismus besuchen.
Haben Sie das Buch für eine bestimmte Zielgruppe geschrieben?
Die Frage der Zielgruppe stand erst nicht im Zentrum, sondern die Recherche. Wir konzentrierten uns dabei auf die ersten drei Anlaufstellen, die Betroffenen von sexualisierter Gewalt zur Verfügung stehen: die Polizei, die Opferberatung und das Gesetz (Sexualstrafrecht). Weiter porträtierten wir Betroffene, um jedes Kapitel mit der Geschichte einer Frau einzuleiten, die sexualisierte Gewalt erlebt hat.
Für wen wir das Buch geschrieben haben, wurde erst zum Schluss klar. In der Widmung des Buches steht daher: «Für uns». Wir und alle Frauen in unserem Umfeld kennen nämlich solche Erfahrungen.
Wie ging es Ihnen dabei, als Sie diese Frauen trafen und sie Ihnen ihre zum Teil brutalen Erlebnisse schilderten?
Ich schreibe schon sehr lange über sexualisierte Gewalt an Frauen und habe mich in gewisser Weise an die Doppelrolle gewöhnt. Im Gespräch bin ich professionelle, objektive Journalistin. Danach bin ich Frau und teilweise betroffen durch die Geschichten.
Ich habe für mich Werkzeuge entwickelt, um damit umzugehen. In solchen Phasen gehe ich zum Beispiel viel spazieren oder koche sehr gerne. Ich habe das Glück, in einem sehr guten Umfeld zu leben, in dem ich reden kann.
Auch die Co-Autorin Natalia Wilda und ich konnten uns gegenseitig sehr gut auffangen. Es gab durchaus Momente, in denen wir weinten, weil es uns sehr nahe ging.
Früher als junge Frau hatte ich sehr klare Vorstellungen, wie sich ein Opfer verhält. Erst später wurde mir klar, dass dieses Bild der schreienden, sich wehrenden Frau bei einer Vergewaltigung ein Mythos ist, konstruiert zum Beispiel durch Filme.
Es gibt sehr stark verinnerlichte gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie sich ein Opfer zu verhalten hat, die auch die Einvernahmen bei der Polizei prägen. Die Opferberaterin Agota Lavoyer geht in unserem Buch sehr ausführlich darauf ein.
Wie prägen diese Vorstellungen die Einvernahmen?
Sagen wir, eine Betroffene konnte mit der Tat bereits ein wenig abschliessen. Vielleicht hat sie einen eher pragmatischen Charakter und erzählt den Tathergang stringent und unemotional.
Diesen Frauen wird oft weniger geglaubt. Weil die Polizei davon ausgeht, dass sie verwirrt und traurig sein müssten.
Bei den Frauen, die wir getroffen haben, gab es eine sehr grosse Bandbreite an Erzählweisen. Die einen haben ruhig und sachlich beim Kaffeetrinken erzählt. Andere brauchten Pausen, weil sie zum Beispiel weinen mussten.
Oder dann gab es Frauen, die sehr wütend waren, sehr viel Frust hatten. Es gibt nicht das eine Verhalten, es gibt nicht das eine Opfer. Jeder Mensch geht anders damit um.
Hat die Polizei ein Problem im Umgang mit sexualisierter Gewalt?
Es gibt sehr viele Mitarbeitende bei der Polizei, die reflektiert sind und die sich bewusst sind, was ihre Rolle ist. Tatsache ist dennoch, dass sehr viele Betroffene das Gefühl haben, ihnen werde nicht geglaubt.
Das ist für sie sehr traumatisierend und belastend. Viele Betroffene machen sich sowieso schon früh selbst verantwortlich für die Tat und haben Schuldgefühle. Das wird durch die Einvernahmen verstärkt.
Auch werden sie retraumatisiert, wenn sie mehrere Male in jeglichen Details die Tat schildern müssen.
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Gibt es auch klare Vorstellungen, wie sich ein Täter verhält oder wer der Täter sein kann?
Absolut.
Es herrscht noch immer die verbreitete Annahme, gefährlich seien die unbekannten Männer.
Zum Beispiel der vermummte Mann, der die Frau in der Unterführung vergewaltigt oder ins Auto zieht. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es dein Freund, dein Mann, dein Ex-Partner, dein Chef ist oder jemanden, den du sonst kennst.
Dazu geschehen solche Übergriffe oft sehr schnell, so dass Frauen denken, es könne gar kein Übergriff gewesen sein, weil es vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hat.
Auch zu wenig Zeit da war, um «Nein» zu sagen?
«Nein» zu sagen, ist genauso ein Vergewaltigungsmythos, wie dass sich das Opfer wehrt. Das Sexualstrafrecht verlangt jedoch, dass sich die Frau zur Wehr setzt und dies beweisen kann, damit es als Vergewaltigung gilt. Sie wird auch gefragt, ob sie «Nein» gesagt hat. Das Sexualstrafrecht ist jetzt glücklicherweise in der Reform.
Es kommt nur in 8 Prozent der Fälle zu einer Anzeige. Wie relevant ist dabei das Umfeld?
Es gibt Frauen, die von der Familie oder den Eltern sogar als Lügnerin bezeichnet werden. Oft wird ihnen eine Mitschuld gegeben. Fragen kommen, wie: «Hast du denn Nein gesagt?», «Hat er gemerkt, dass du nicht willst?».
Für viele Betroffene verschlimmert das ihre Situation. Sie müssen überall darlegen, ob sie sich gewehrt haben, überall beweisen, dass sie diesen Akt nicht wollten. Natürlich bin ich froh, dass wir im einen Rechtsstaat leben, aber es ist absurd, wie die Frauen immer wieder erklären müssen, dass sie ein Recht auf körperliche Unversehrtheit haben.
Kritiker:innen sagen immer wieder, Frauen hätten die Macht, einen Mann mit einem Vorwurf des Übergriffes für immer zu zerstören.
Diese Leute können dann aber keine drei Menschen nennen, die so etwas erlebt haben. Ja, es gibt Fehlanzeigen, aber nicht mehr, sondern weniger als bei anderen Delikten.
Die Erzählungen, Frauen seien rachesüchtige Wesen oder lügen, gründen auf historischer Frauenfeindlichkeit.
Heute führt das unter anderem dazu, dass es so wenige Anzeigen gibt.
Was brauchen Menschen stattdessen, die einen sexuellen Übergriff erlebt haben?
Sie brauchen ein Umfeld, das ihnen glaubt. Dann besser finanzierte Opferberatungsstellen und das Wissen über diese Stellen.
Sie bräuchten sensibilisierte Einvernahmen bei der Polizei. Räume, in denen die Gespräche stattfinden, die nicht aussehen wie ein Gefängnis. Sie brauchen eine Gesellschaft, die nicht dem Opfer Schuld gibt.
Sie brauchen Männer, und potenzielle Täter, die sich reflektieren, und zwar untereinander. Es bräuchte eine Kultur gegen sexualisierte Gewalt.
Wo stehen wir diesbezüglich in der Schweiz?
Es geht zwar vorwärts, aber wahnsinnig langsam. Seitens Bund gibt es seit ein paar Jahren stärkere Bestrebungen, etwa die «Roadmap» für häusliche Gewalt. Die konkrete Umsetzung – und vor allem die Finanzierung – liegt dann aber wieder bei den Kantonen.
Staatlich finanziert wird der Kampf gegen Gewalt an Frauen kaum. Darum würde ich sagen:
Wir sind in der Schweiz noch nirgends, auch weil wir sehr stark davon geprägt sind, dass sexualisierte und häusliche Gewalt privat ist.
Das sah man auch in der Corona-Pandemie. Die Beratungsstellen wussten, dass die Zahlen häuslicher und sexualisierter Gewalt hochschnellen werden, es passierte dennoch nichts ausser einer Empfehlung eines Flugblattes in den Apotheken. Der Ständerat lehnte eine Kampagne zur Prävention ab.
Die Schweiz arbeitet so aktiv gegen den Schutz Betroffener, obwohl sie im Jahr 2017 der Istanbul Konvention zugestimmt hat.
In der Erziehung haben wir bisher vor allem die Mädchen in die Verantwortung genommen und sie dazu angehalten, sich zu wehren. Wir haben unsere Töchter in Selbstverteidigungskurse geschickt. Was ist mit den Söhnen?
Es braucht unbedingt eine fundierte Täterarbeit. Männer und Buben erfahren Gewalt in sehr grossen Teilen ebenfalls von Männern. Es fehlt an Räumen für Männer, damit sie sich dazu untereinander austauschen können. Wie werden sie keine Täter und auch keine Opfer?
Männer wachsen immer noch oft damit auf, dass sie wissen müssen, was Frauen im Bett wollen. Zu fragen, ob Küssen okay ist, gilt als schwach. Beim Sex Fragen zu stellen als unsexy. Es braucht unbedingt eine emanzipatorische Bewegung für Männer, spezifisch für Hetero-Männer.
*Da juristisch im Sexualstrafrecht von Mann und Frau gesprochen wird, verwenden wir in diesem Interview ebenfalls die binäre Geschlechtsbezeichnung.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 15. August 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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