Hysterisch? So what!
Den Babies von Angie geht es nicht gut. Doch der Kinderarzt nimmt sie nicht ernst, tut ihre Sorge gar als Hysterie ab. Was danach passiert, lehrt Angie, in Zukunft mehr auf ihr Gefühl zu vertrauen und sich Gehör zu verschaffen.
Als meine Zwillingsmädchen knapp fünf Wochen alt waren, wurden sie krank. Der Fiebermesser zeigte zwar nur gerade 38 Grad an, aber beim Stillen ging’s immer schwieriger; ich hatte das Gefühl, sie trinken nicht mehr genug.
Ich war müde, erschöpft und musste mich aufraffen, um mit ihnen zum Arzt zu gehen. Ich dachte mir:
Wahrscheinlich ist nichts.
«Dann habe ich diesen Effort umsonst auf mich genommen.» Mit meinem älteren Sohn, damals eineinhalb Jahre alt, war ich ein paar Tage zuvor beim Arzt und da war ja auch nichts.
Na dann, auf ein Neues! Ich war also beim Arzt. Immer diese Zweifel. Es war schon 17 Uhr, ich hatte dankbarerweise noch einen (wohl den letzten) Termin erhalten. Unser damaliger Kinderarzt ist sehr zackig, vergibt seine Termine in Viertelstunden-Slots. Ja nicht zu lange machen. Nur schnell zeigen. Was der wohl von mir denkt, wenn ich schon wieder hier bin und es ist nichts.
Freipass für überhebliches Verhalten
«Die Götter in Weiss» schoss mir durch den Kopf, oder wie meine Nonna immer nur von «Herr und Frau Doktor» gesprochen hatte. Keine Namen. Der Beruf als Titel und gewissermassen Freipass für überhebliches Verhalten. Oder so kam’s mir vor.
Ich fühlte mich immer ein wenig unwohl beim Kinderarzt. Er gab mir das Gefühl, nicht ganz so viel wert zu sein, nicht ganz so gut drauszukommen wie er. Seine Zeit schien wichtiger als meine, obwohl die Anstrengungen für mich wohl ein Vielfaches grösser waren, meinen Weg zu ihm zu finden mit drei kleinen, kranken Kindern. Und schliesslich ist das ja auch sein Job.
Dann, nach kurzem Untersuch: «Es ist nichts. Alles im grünen Bereich. Einfach weiter beobachten.» Puh. Ich habe gleichermassen Erleichterung und Scham verspürt.
Eben, war ja doch nichts!
24 Stunden später waren wir auf dem Kindernotfall des Kantonsspitals Baden und nochmals vier Stunden später wurden meine Zwillinge mit der Rega ins Kispi St. Gallen geflogen, um dort den Rest der Nacht auf der Intensivstation zu verbringen. Aber es war ja nichts.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Hysterisch wollen wir lieber nicht sein
Auch bei uns Müttern ist die Gemütslage nicht immer gleich. Hey, auch Mütter dürfen mal schlecht gelaunt, mal gestresst und ungeduldig sein. Am Montag über allem stehend, cool und gelassen gegenüber jedem kindlichen Wutausbruch. Am Dienstag dann – vielleicht nach einer schlechten Nacht, vielleicht ganz ohne Grund – bereits um 9 Uhr genervt und auch den Rest des Tages irgendwie unzufrieden. Mit den Kindern entsprechend kurz angebunden.
Wir tun uns einen grossen Gefallen, wenn wir uns diese Stimmungsschwankungen verzeihen. Menschen dürfen nämlich beides sein: mal souverän und unbeirrt, mal völlig aus dem Häuschen. Doch wir sind uns einig: Hysterisch wollen wir lieber nicht sein.
Hysterie – ein Frauenproblem?
Hysterisch wird mit aufbrausend, explosiv, übertrieben, unlogisch gleichgestellt. Hysterie, ein Begriff der heute in der Medizin nur noch ungern gehört wird, ist historisch bedingt ein Frauenproblem. Das erste im Duden aufgeführte Beispiel lautet «eine hysterische Frau». Vielleicht wäre die Konnotation mit Mutter noch zutreffender?
Offenbar liegt sie in unseren weiblichen Genen, diese Hysterie. Aber warum denn? Und die vielleicht wichtigere Frage: Ist das denn so schlimm? Warum werden wir wild? So richtig aus mir herausgekommen bin ich zum ersten Mal, und dann viele weitere Male, als meine Kinder und ich ungerecht behandelt wurden.
Hysterisch oder einfach nur besorgt?
Wenn wir uns für unser Kind einsetzen müssen – denn Kinder können noch nicht für sich selbst einstehen, das ist unser Job -, wenn wir also im Spital sehr bestimmt, eventuell etwas zu laut und mehrfach erwähnen, dass es unserem Kind nicht gut geht, sind wir dann direkt hysterisch? Oder einfach nur besorgt? Tun wir nicht einfach nur unseren Job?
Es stellt sich also wieder die Frage, wer auf die Idee kam, Hysterie mit Frau in Verbindung zu setzen? Platon, ein Mann. Warum wirken Männer denn viel seltener hysterisch? Meine Antwort: Weil sie eine natürliche Autorität besitzen und eher gehört werden. Weil sie grösser sind. Weil man sie ernster nimmt. Weil sie nicht laut werden müssen. Tatsächlich nicht, denn es ist erwiesen, dass tiefere, dunklere Stimmen bei anderen Menschen mehr Aufmerksamkeit generieren und seriöser wirken.
Lasst euch gesagt sein: Niemand will hysterisch sein. Nein, wir müssen ernst genommen werden und den Anliegen unserer Kinder Gehör verschaffen. Mein Tipp an alle Mütter: Macht weiter so und lasst die Selbstzweifel hinter euch.
Hysterie? So what!
Um meine Geschichte zu beenden: Es war RSV. Ein Virus, der bei Erwachsenen einen leichten Schnupfen auslöst, bei Säuglingen und Kleinkindern jedoch zu akuter Bronchiolitis führt und in 1 – 2% der Fälle zu einer Spitaleinweisung infolge Atemnot und ungenügender Nahrungsaufnahme. Je kleiner das Kind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es hospitalisiert werden muss.
Wir wurden im Kispi St. Gallen fabulös betreut von einem Team von Pflegenden und Ärzt:innen, die nicht nur perfekt vorbereitet waren auf die RSV-Epidemie 2018/2019, sondern uns auch als Menschen wahrgenommen und uns über die medizinische Grundversorgung hinaus betreut hatten. Ella und Moia sind mittlerweile drei Jahre alt und gesund. Sie springen und tanzen und plaudern und testen Grenzen. Wir haben natürlich bei der ersten Gelegenheit den Kinderarzt gewechselt.
Sich Gehör verschaffen
Als Restanz aus dieser Zeit (wegen verbleibender Sekret-Überproduktion) waren wir seither quasi regelmässige Gäste in den Spitälern Baden und Aarau. Ich konnte also üben, mir Gehör zu verschaffen. Ich verstehe, dass die Gesundheitspersonal-Ressourcen knapp sind, was zu langen Schichten, Stress und wenig Geduld führt.
Aber wenn um vier Uhr morgens eine Mutter mit kranken Kindern einer überarbeiteten Pflegenden im Notfall begegnet, dann möchten wir doch bitte nicht darum streiten, wer sich denn jetzt in der schlimmeren Situation befindet. Wir sollten uns mit Respekt, Offenheit und Empathie begegnen, ganz egal wie erschöpft, beunruhigt und gestresst wir sind.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 5. August 2022 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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