«Wir sagen, wir seien gleichberechtigte Eltern. Aber ich mache fast alles allein.»
Damit Gleichberechtigung funktioniert, müssen alle dazu bereit sein. Das ist in dieser Familie nicht der Fall. Sind die Gründe ungewöhnlich oder eben gerade nicht?
Der Bruch kam nicht überraschend und doch plötzlich. Mitte Mai 2023 vereinbarten Sibylle und Jan, ab sofort kein gleichberechtigtes Eltern-Team mehr zu sein. Und das geheim zu halten. Drum heissen sie hier auch anders als im echten Leben.
Seit mehr als einem Jahr führen sie quasi ein Doppelleben.
Nach aussen die moderne Familie, in einer Stadtwohnung, mit drei Kindern, 3, 5 und 9 Jahre alt, beide Eltern berufstätig, sie 70 Prozent, er 80 Prozent, in Diskussionen klar für Gleichberechtigung in allen Lebenslagen.
Daheim aber: Sibylle macht alles allein. Kochen, putzen, planen – sie schreibt die Einkaufslisten, organisiert Playdates, überwacht die Familienfinanzen, recherchiert für die nächsten Ferien, vereinbart Arzttermine, besorgt Geschenke für Kindergeburtstage. Und so weiter, die Liste ist lang.
Sie leben ein traditionelles Familienmodell. Aber es ist ihr Geheimnis.
Mitte Mai 2023 legte Jan ein Geschenk auf den Küchentisch, fertig eingepackt, ein Schokoriegel obendrauf geklebt. Er hatte das Geschenk besorgt für einen Kindergeburtstag, an den die älteste Tochter demnächst gehen sollte.
Sibylle wollte wissen, was drin ist. Er sagte, es sei ein Fingerabdruckset für Kinderdetektive. Sie murmelte, sie hätte etwas anderes besser gefunden, ein Rätselbuch zum Beispiel.
Jan setzte sich an den Küchentisch und bat Sibylle, auch Platz zu nehmen. Dann sagte er: «Jetzt bin ich an dem Punkt, wo ich nicht mehr will.»
So funktioniert dieses Familienleben für mich nicht.
Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden am Küchentisch sassen. Seit sie beide Eltern sind, gab es immer wieder intensive Gespräche übers Familienleben, wie es sich organisieren lässt – alle Eltern kennen dieses Reden, Aushandeln, Feilschen.
Bei Jan und Sibylle ging es immer wieder darum, dass Jan sich einbringen wollte. Richtig einbringen, als gleichberechtigtes Elternteil. Dass Sibylle das auch wollte, theoretisch.
Und es doch im Alltag nicht zuliess.
Gleichberechtigung? Ja, aber…
Wenn Jan einkaufen ging, brachte er oft das Falsche heim. Ob Mozzarella-Sorte, WC-Papier oder Babybrei: Sibylle war nie so richtig happy. Seine Kindergeburtstagsgeschenke fand sie häufig ungeeignet – «was denken die anderen Eltern, wenn wir so einen Plastik-Kram schenken?»
Wenn er für einen Wochenend-Trip die Kinderkleider einpackte, passten die Sachen ihrer Meinung nach nicht richtig zusammen oder er nahm generell zu viel mit.
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Ging er allein an einen Elternabend der Schule, sammelte er nicht genügend Informationen und knüpfte zu wenig Kontakte mit anderen Eltern. Plante er einen Ausflug, gab es ihrer Meinung nach zu oft Unklarheiten.
Putzte er die Wohnung, machte er es anders, als sie es getan hätte.
All sein Einsatz: Nie gut genug.
Jan zählt viele Beispiele auf, was er früher alles nicht korrekt gemacht hatte. Da grätscht Sibylle rein und sagt: «Das klingt, als hätte ich ständig an ihm rumgemotzt. Das tat ich nicht.»
Aber sie muss zugeben:
Ich war nie richtig zufrieden und suchte immer nach Dingen, die er hätte besser machen können.
Jan sagt: «Ja, gemeckert hast du nie. Aber wir kennen uns seit 17 Jahren. Ich sehe dir an, wenn du nicht zufrieden bist. Und du warst es nie, in deinem Kopf hat es gearbeitet, das sah man.»
Nur im Umgang mit den Kindern, da war alles in Ordnung. «Da konnte ich Jan einfach nur machen lassen, wie er es gut findet. Wir haben teilweise unterschiedliche Sichtweisen oder legen andere Prioritäten. Aber dort kann ich seine Art wertschätzen und mich einfach freuen, dass er da ist für unsere Kinder.»
Eine grosse Erleichterung für Jan. Denn es gibt auch Maternal Gatekeeping – ein Schlagwort, das immer wieder aufkommt in Diskussionen rund um Gleichstellung.
Maternal Gatekeeping meint eine Haltung von Müttern, die erschwert oder verhindert, dass Väter eine starke Bindung zum Kind entwickeln. «Das wäre ein heftiger Konfliktpunkt gewesen», sagt Jan.
Und jetzt?
Ist es kein heftiger Streitpunkt, wenn eine Person fast alles allein macht?
Natürlich ist es das. Jan sagt:
Ich wollte nicht so ein Familienleben, wo alles auf den Schultern einer Person lastet. Aber ich habe resigniert.
«Ich verstehe nicht, weshalb Sibylle nicht loslassen kann – sie ist nicht bereit, da bei sich genauer hinzuschauen. Ich möchte gerne in eine Paarberatung gehen, aber sie möchte zurzeit nicht. Drum habe ich mich nun zum radikalen Schritt entschieden.»
Und Sibylle sagt: «Theoretisch weiss ich, dass nicht alles perfekt sein muss. Und ich möchte gern lockerer sein. Aber momentan stimmt es für mich so, wie wir leben, dass ich daheim fast alles allein mache.»
Beide sagen, dass sie es aus ihrem Umfeld eher anders kennen. Paare geben sich gleichberechtigt, aber wenn man genauer nachfragt, wird klar: Ein Elternteil, meistens die Frau, übernimmt viel mehr Aufgaben. Vor allem im Bereich Mental Load.
«Aber ob es so eine Situation wie unsere auch häufiger gibt, als man denkt? Es würde mich sehr interessieren», sagt Jan.
Aktuell leben sie ihr Doppelleben weiter. Wie lange das so gut geht? Das wissen sie beide nicht…
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Veröffentlicht am 4. Juni 2024
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