Krebs trifft auch die Nächsten
Der Vater hat Krebs. Die Diagnose kommt mehr als ein Jahr vor dem Tod – genug Zeit, um Abschied zu nehmen. Aber auch viel Zeit, um sich damit allein zu fühlen. Wie es der Autorin geht, hat kaum jemand gefragt.
Ich verlor meinen Vater vor vier Jahren. Wir konnten grad noch seinen 60. Geburtstag feiern. Und ich konnte ihm grad noch sagen, dass ich schwanger bin. Dann starb er.
Das war eineinhalb Jahre nach seiner Krebsdiagnose. “Ihr hattet noch Zeit zum Abschiednehmen” hörte ich oft, als Trost gemeint. Und ja, das stimmte auch. Aber ganz ehrlich? Der lange Abschied war unendlich schwer.
Das “noch jeden Moment miteinander geniessen” ist schlicht nicht möglich.
Ich konnte es nicht geniessen, mit meinen Eltern eine Wohnung zu suchen, in der meine Mutter auch nach dem Tod meines Vaters weiter würde wohnen können. Ich konnte es auch nicht geniessen, bei einem Sonntagsbrunch zu sehen, wie mein Vater seinen Kopf immer wieder in beide Hände stützen musste, aber unbedingt bei uns am Tisch sein wollte. Und ich konnte es auch nicht geniessen, meinen Vater die Hälfte seines Körpergewichts verlieren zu sehen.
Von Tag eins seiner Krankheit an war alles anders.
Sie war immer überall mit dabei. Egal wann, egal wo. Für mich war es nicht mehr das unbeschwerte “Heimkommen” zu meinen Eltern. Das “In-den-Kühlschrank-schauen”, um zu sehen, was es wohl dort grad so hat zum Reinbeissen. Die Unbeschwertheit war weg. Vom einen Tag auf den anderen.
Zu Beginn war irgendwie alles ganz eigenartig. Wir hatten diese Diagnose. Wir wussten, unser Vater ist krank, hat Krebs. Und nun? Für uns alle war dieser Befund schwierig einzuordnen, er war neu, überforderte uns. Natürlich kannte ich Krebs, kannte Leute, die daran gestorben sind. Und ich wusste auch von Leuten, die einen Elternteil früh verloren hatten.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Aber auf einmal, von heute auf morgen, ganz plötzlich und einfach so, waren es wir.
Mein Vater war der Anker unserer Familie. Der Vater, der meiner Schwester und mir jahrelang am Samstagmorgen im Bett Asterix vorgelesen hat. Der Vater, der auf alles eine Antwort wusste, egal ob es um ein Rösti-Rezept, einen Lausbefall der Gartenpflanze, eine Wanderidee oder den passenden Rotwein ging. Er konnte uns immer helfen. Und vor allem liess er meine Mutter, aber auch meine Schwester und mich, immer seine bedingungslose Liebe spüren. Und auf einmal hatte ER Krebs. Auf einmal brauchte ER Hilfe.
Es begann ein Auf und Ab. Nicht nur, was den Gesundheitszustand meines Vaters betraf, sondern auch unsere Emotionen. Mal waren wir alle voller Hoffnung, die sich aber im nächsten Moment gleich wieder zerschlug. Mal konnten wir alle zusammen einen Ausflug machen, konnten lachen. Kurz darauf rissen uns neue CT-Befunde den Boden unter den Füssen weg.
Das war schwierig, ganz ehrlich. Angehörige eines kranken Menschen zu sein, ist verdammt hart. Im Zentrum steht der kranke Mensch. Immer. Und alles dreht sich um ihn und seine Krankheit. Eine der ersten Fragen, wenn ich jemanden traf, war immer: “Wie geht es deinem Vater?” Ab und zu erkundigte sich auch jemand nach meiner Mutter.
Aber den Satz “Wie geht es Dir?” hörte ich praktisch nie.
“Krebs trifft auch die Nächsten”, heisst eine Broschüre der Krebsliga. Und genau so ist es. Nur geht das ganz oft vergessen. Auch von einem selbst.
Ich erinnere mich ganz klar an einen entscheidenden Moment. Als ich einmal nach Feierabend meine Eltern besuchte, traf ich dort auf eine ganz schlechte Stimmung. Ich fragte meinen Vater, was los sei. Und er meinte, in einer unglaublichen Wut, dass meine Mutter schon wieder vergessen habe, den Elektriker wegen des Stromproblems anzurufen. Dabei habe er es ihr schon viermal gesagt. Sogar einen Zettel habe er ihr geschrieben. Sie sei unfähig, sich eine solche Kleinigkeit zu merken. Meine Mutter rannte weinend aus dem Zimmer.
Und ich schaute meinen Vater an. Mir wurde heiss. Meine Stimme begann zu zittern.
Und ich schrie ihn an.
So, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Ob er sich eigentlich schon mal eine Sekunde lang überlegt habe, wie diese Situation für uns sei, brüllte ich. Ob er sich vielleicht nicht vorstellen könne, dass meine Mutter anderes im Kopf habe, als einen Elektriker? Dass sie 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche um einen kranken Menschen herum sei, dem sie alles unterordne. Und der kranke Mensch derjenige sei, den sie über alles liebe. Ihr Mann. Mein Vater.
Am gleichen Abend ging ich mit meinem Vater Nachtessen. Nur er und ich. Wir weinten, wir schwiegen zwischendurch. Aber vor allem redeten wir so ehrlich wie noch nie. Er erzählte mir von seiner unglaublichen Angst. Seinem schlechten Gewissen, uns alleine und im Stich zu lassen. Und ich gestand ihm, mich als Tochter eines kranken Vaters manchmal vergessen zu fühlen. Erzählte von meinem schlechten Gewissen, dass mich ab und zu einholte, wenn ich einen glücklichen und unbeschwerten Moment verbringen durfte.
Dieses ehrliche, schmerzhafte Gespräch öffnete uns beiden die Augen. Mein Vater erkannte, dass er uns mehr Platz geben musste. Und ich verstand, dass sich mein Vater in jeder Sekunde mit seinem Tod, mit dem Ende seiner Existenz befassen musste.
Von diesem Abend an war ich viel ehrlicher. Zu mir selbst, aber auch zu den Menschen in meinem Leben.
Ich begann, mir ganz bewusst Pausen zu schaffen. Sagte auch mal, dass ich es heute nicht schaffe, vorbeizukommen. Genoss unbeschwerte Wochenenden mit meinem heutigen Ehemann. Manchmal waren es auch Mini-Auszeiten, die mir halfen. Ich sagte am Spitalbett, ich müsse zur Toilette, nur um ganz kurz an die frische Luft zu gehen oder einen Kaffee zu holen.
Manchmal sind es genau diese fünf Minuten, die man sich selber schenkt, die Wunder bewirken. Man muss auf sich selber achtgeben, in allen Rollen: als Mutter, als Tochter, als Angehörige eines kranken Menschen. Gefühle zulassen. Auch mal zugeben, dass grad alles zu viel ist, ohne sich dafür zu schämen. Es braucht kurze Pausen, kleine Inseln. Damit wieder Energie da ist für diese unglaublich herausfordernde Aufgabe, Abschied zu nehmen.
Nachdem der Arzt meinem Vater gesagt hatte, dass er nun wirklich überall Ableger habe und er keine weitere Behandlung empfehlen würde, entschied er sich, in ein Sterbehospiz zu gehen.
Am vierten Tag im Hospiz verstarb er.
Seit dem Gespräch mit dem Arzt war keine Woche vergangen. Wir wussten, dass mein Vater in jenem Moment losgelassen hatte. Bei unserem letzten Gespräch im Hospiz sagte mir mein Vater, dass er jetzt einfach sterben möchte. Und ich antwortete ihm zum ersten Mal, dass ich ihn verstehe.
Erst mit der heutigen Distanz wird mir manchmal bewusst, wie sehr er gelitten haben muss. Beispielsweise, wenn ich eine Magen-Darm-Grippe habe und mich wie ein Häufchen Elend fühle. Dann denke ich daran, wie es wohl für meinen Vater gewesen sein muss, das während grossen Teilen seiner Krankheit fast täglich zu ertragen.
Es war ein langer, anstrengender Weg, meinen Vater beim Sterben zu begleiten. Dennoch bin ich dankbar dafür, dass wir von seinem Tod nicht überrumpelt wurden. Der Pfarrer, der die Beerdigung durchführte und so unglaublich einfühlsam war, sagte uns, dass unsere Trauerarbeit bereits mit der Diagnose begonnen hatte. Und das stimmt voll und ganz.
Heute, über vier Jahre später, ist der tägliche Schmerz vergangen. Und trotzdem kommt die Trauer manchmal ganz unverhofft. Das kann ein Lied im Radio sein, ein Gericht auf einer Speisekarte, manchmal auch nur ein Wort oder ein vertrauter Duft.
Oft kommt sie aus dem Nichts. Mit voller Wucht.
Ich musste lernen, das zuzulassen. Heute ist es immer seltener die Krankheit, an die ich denke. Es sind positive Erinnerungen, die im Vordergrund stehen. Oder ein unglaublicher Stolz und eine Dankbarkeit. Bei unserem abendlichen Ritual, wenn meine zwei kleinen Mädchen dem Bild vom Grosspapi vor dem Schlafengehen winken, und einen Kuss in den Himmel schicken.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 25. Mai 2021 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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