Me-Days und der ständige Kampf mit dem schlechten Gewissen
Steffi Buchli über ihr Gluckentum, den ewigen Kampf mit dem schlechten Gewissen und ihre unterirdischen Kinderliederkenntnisse.
Ich musste es mir hart verdienen: Im Stau, Zürich – Savognin, drei Stunden. Zweieinhalb Stunden hielt sich Karlie tapfer. Dann war Schluss mit lustig. Sie schrie sich durch die letzten Kilometer. Ich sang „Farfallina“ auf und ab und schrieb mir im Geiste hinter die Ohren: „Unbedingt mehr Kinderlied-Texte lernen! Am besten mehrere Strophen.“
Familienfrei
Kinder kommen zur Welt und dann sind sie da. Immer. Also fast immer: Über Ostern musste mein Mann geschäftlich verreisen, ich war fürs TV im Einsatz und so durfte unsere Tochter (15 Monate) zu den Grosseltern in die Kurzferien. Vier familienfreie Tage für mich.
Ob ich mich darauf freute? Ja, und wie. Wobei: Das sagt man ja dann nie laut. Im Gegenteil: Man lässt sich vom Umfeld einreden, man werde die Kleine sicher mmmeeeeega vermissen. Ganz ehrlich: Vermissen? Nö, nun wirklich nicht.
Für alle, die jetzt schon wieder „kalte Gebärmaschine“ schreien: Ich liebe Karlie über alles. Ich habe für dieses kleine Wesen tiefe Gefühle, wie ich sie noch nie zuvor hatte. Aber gopf: Ich darf mich doch auch mal freuen auf ein bisschen „Leben wie früher“. Zumal die Kleine bei meinen Eltern die Zeit ihres Lebens hat, weil sie wunderbar ver- und umsorgt, um nicht zu sagen verhätschelt, wird.
Vom Gluggerntum und seinen Folgen
Ich habe das mit dem „Abgeben“ auf die harte Tour gelernt: Im Sommer 2016, als meine Tochter sieben Monate alt war, reiste ich nach Rio zu den Olympischen Spielen, für 3.5 Wochen. Das waren für mich als Mutter heilsame und damit prägende Wochen.
Wir alle denken doch – bewusst oder unbewusst – dass unsere Kinder nur so gesund und glücklich sind, weil WIR MÜTTER den Finger drauf haben: Richtige Brei-Temperatur, richtige Farbkombination, richtige Schlafenszeiten, richtige Streicheleinheiten, richtige Kuscheltier-Kombination und richtige Teesorte. Wir sind die Instanz.
Come on: Really?! Ist schon je ein Kind vom richtigen Weg abgekommen, weil der Brei ein Grad wärmer verabreicht wurde, weil das altrosa Oberteil nicht ganz zu den pinkigen Hosen passte, weil der Mittagsschlaf um 13.05 eingeleitet wurde und nicht um Punkt oder weil Hase „Fredy“ mal beim Einschlafen half und nicht Bär „Luis“? Ein Kind braucht Liebe, viel Liebe. Und es wäre eine Frechheit, zu behaupten, dass mein Mann nicht fähig wäre, unserem Kind diese Liebe zu geben.
Ich finde, es ist sehr befreiend, wenn wir uns von der „Mami-zentrierten“ Erziehung, die in unseren Breitengraden seit Jahrhunderten gelebt wird, lösen. Klar, ich bin auch eine „Gluggere“ und manchmal ein Kontrollfreak. Aber ich mache es immer mal wieder: Leben wie früher.
Damit wären wir wieder beim familienfreien Osterwochenende: «Farfallina». Ich sang und sang und sang. Als wir ankamen, waren wir beide leicht heiser. Karlie vom Reklamieren, ich vom Singen. Schnell war Karlies Welt – schwuppdiwupp – mehr als in Ordnung: Sie führte eifrig ihre neu erarbeiteten Skills vor. Laufen, Treppensteigen, Ball werfen, Blumen ausreissen. Tata und Tat klatschten entzückt in die Hände und Karlie strahlte stolz.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Zurück zu mir
Ich fuhr bald zurück ins Unterland. Okay, ich geb’s zu: Natürlich erst nachdem ich meinen Eltern einen genauen Fütterungs- und Ritualplan geschrieben hatte. Auf dem Heimweg hörte ich ganz laut Musik, also richtig laut. Das geht ja sonst nicht mehr.
Zu Hause räumte ich zunächst Mal das Haus auf. Erledigte Dinge, die sonst immer liegen geblieben waren. Dann war ich plötzlich müde, sehr müde. Die letzten Wochen machten sich bemerkbar: Fünf bis sechs Stunden Schlaf pro Nacht – zu wenig. Ich habe mich auch nach nach 15 Monaten noch nicht angepasst: Ich bin nachtaktiv, meine Tochter Frühaufsteherin. Schlechte Kombination. Müdigkeit gilt ja nicht, wenn das Kind da ist. Man kann sich ja nicht einfach hinlegen, weil es immer etwas zu tun gibt, also nützt es auch nichts, wenn man Müdigkeit zulässt.
Jetzt war das anders. Ich legte mich hin und sank sofort in einen bleiernen Dornröschen-Tiefschlaf. Dornröschen hatte sicher keine Beauty-Treatments nötig. Ich schon. Next step darum: Netflix ein. Maniküre, Pediküre, Haar- und Gesichtsmaske. Essen vor dem TV. Ich „hing’s“ einfach so rum. Eine Mutter braucht manchmal wenig zum Glück.
Plötzlich schrak ich hoch: 19 Uhr und Karlie müsste doch längst … Ich versuchte im inneren Dialog meine Schnappatmung zu regulieren: „Es ist nichts passiert. Du hast einfach mal fünf Stunden lang nicht an deine Tochter gedacht. Das darf man!“ Ich rief meine Mutter an. Bei ihr war alles in bester Ordnung: Karlie esse Pasta, habe am Nachmittag Kaninchen gestreichelt und trage schon das Pischi. Ok. Netflix – Play.
Das schlechte Gewissen
Dieses Monster. Immer wieder kommt es hinter irgendeiner Ecke hervor. Es fragt: Solltest du nicht besser bei deiner Tochter sein, anstatt dich selber zu verwirklichen? Aber nur uns Mütter. Ich mache seit Monaten eine nicht-empirische Umfrage bei Vätern und frage sie, ob sie es auch kennen, dieses dumpfe Gefühl. Wenn sie morgens zur Arbeit fahren, wenn sie zum Training gehen oder wenn sie geschäftlich verreisen. Die Antwort ist meist so klar wie banal: „Schlechtes Gewissen? Warum? Nein! Das ist halt einfach so.“
Nach zehn weiteren glücklichen Schlafstunden machte ich mich auf in die Stadt. Hübsch zurecht gemacht mit einer schönen, langen Kette. Accessoires gehörten früher zu jedem Outfit. Seit 15 Monaten sind sie des Teufels: Der klobige Fingerring schmerzt am Baby-Hinterkopf, die Kette stranguliert die Trägerin und das schöne Armband wiederum ist brandgefährlich für die Zwergin. Ein Kindergriff und gefühlte tausend „Chrälleli“ am Boden, jedes einzelne mit Verschluck-Potential. Also weg mit dem Zeug, in den Schrank. So sind wir Mütter.
Aber jetzt war ich ja nicht als Mutter unterwegs, sondern alleine. Als Steffi. Sass in einem Café und genoss die Ruhe. Zwei Minuten lang. Bis der erste Kinderwagen mit gut gelaunter Familie drum herum daher gefahren kam. „Warum bist du denn nicht bei deiner Tochter?“, meldete sich die fiese Stimme in meinem Kopf. Ich entgegnete so männlich wie möglich: „Halt die Fresse, schlechtes Gewissen. Das ist einfach so.“
Lasst uns das öfter sagen!
PS: Das Weekend war wunderbar. Ich habe gekäfelet, gearbeitet, gelädelet, gelesen, Sport gemacht und: Ich habe ein Buch mit Kinderlied-Texten gekauft. Die erste Strophe von „Bi-Ba-Butzemann“ lerne ich dann nächste Woche. Versprochen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 18. Mai 2017 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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