Rechtsradikale nutzen die Unsicherheit von Eltern rund um die Geburt aus
In der Geburtshilfe gibt es viel Verbesserungspotenzial. Diskussionen über die Vielfalt des Gebärens sind wichtig, aber Menschen mit traditionellen bis extremistischen Ansichten verfolgen ihre eigenen Ziele. Ein erschreckender Einblick.
Seit bald acht Jahren bin ich als Doula unterwegs, habe Einblick in verschiedene Prozesse und Gepflogenheiten der Geburtshilfe. Ich betätige mich auch aktiv in den Sozialen Medien.
Heute ist zum Glück bekannt, dass Instagram und Co. keinen konstruktiven Diskurs fördern, sondern in erster Linie daran interessiert sind, dass die Nutzer:innen länger auf den Kanälen verweilen. Um dies zu erreichen, spielen sie immer extremeren Content aus.
Und so geschieht es, dass sich werdende Eltern ein paar realistische und schöne Geburtsvideos anschauen wollen und plötzlich Reels konsumieren, in denen sogenannte Birthkeeperinnen ihre eigenen Wahrheiten verbreiten.
Birthkeeperinnen sind nicht-medizinische Geburtsbegleiterinnen. Manche von ihnen haben höchst radikale Ansichten. Sie erklären in den Sozialen Medien zum Beispiel, dass eine Präeklampsie (früher auch Schwangerschaftsvergiftung genannt) keine wirkliche Krankheit und mit einer Ernährungsumstellung leicht in den Griff zu bekommen sei.
Natürlich ist das Blödsinn.
Lebensgefährlicher Blödsinn
Als Doula habe ich selbst miterlebt, was es heisst, wenn eine Frau mit akuter Präeklampsie im Spital ein Kind gebären muss. Wie es dann nicht mehr darum gehen kann, eine Wassergeburt ohne Interventionen zu erleben – sondern in erster Linie darum, dass das Kind und die Mutter überleben.
Leider werden in den Sozialen Medien aber nicht diejenigen Content Creators belohnt, die sachliche Information vermitteln. Sondern diejenigen, die polarisieren.
Wir können heute nicht mehr sicher sein, welche Informationen seriös sind, was besonders problematisch ist, wenn wir vulnerabel sind.
Eltern sind enorm vulnerabel und deshalb anfällig für Falschinformationen.
Da ist es besonders gefährlich, dass die Gemeinschaft rund um achtsame Geburt mitunter von der rechten Szene unterwandert ist.
Wolf im Schafspelz
Seit einigen Jahren ist bekannt, dass auch die bedürfnisorientierte Szene von Rechtsradikalen unterwandert wurde. Was auf den ersten Blick vielleicht nicht zusammenpasst, macht bei näherem Betrachten Sinn:
Die bedürfnisorientierte Erziehung setzt sich dafür ein, den kindlichen und elterlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen – etwa Babys nicht schreien zu lassen und nach Bedarf zu stillen.
Menschen mit rechten Ansichten unterstützen dies, verfolgen dabei aber eine Agenda, bei der es vor allem darum geht, Frauen in althergebrachte Rollen zu zwingen.
Die bedürfnisorientierte Erziehung und die neuen Rechten haben also gemeinsame Ziele, wenn auch aus anderen Gründen:
So setzt sich zum Beispiel die SVP dafür ein, dass die Selbstbetreuung von Kindern zuhause steuerlich entlastet wird. Man muss nicht radikal rechts sein, um dies gut zu finden.
Leider gibt es aber noch weitere Schnittmengen, die man kritisch hinterfragen muss. Besonders in der Szene um natürliche Geburt gibt es einen grossen Stolperstein:
Die Fetischisierung des Natürlichen.
Natürlichkeit als Vorwand frauenfeindlicher und rassistischer Ideen
Als Doula setze ich mich stark für eine natürliche Geburt ein; damit meine ich eine medizinisch möglichst unbeeinträchtige Geburt. Denn ich bin der Meinung, dass der Körper von Schwangeren für den physiologischen Ablauf einer Geburt grundsätzlich gemacht ist.
Ich weiss durch meine Ausbildung, welche Prozesse im Körper während einer Geburt ablaufen und wie intelligent diese sind. Und ich bin auch der Ansicht, dass das System der modernen Geburtshilfe reformiert werden muss – auch, weil es oft in physiologische Abläufe störend eingreift, sodass den Gebärenden ein stärkendes Erleben genommen wird. Aber:
Das Hochhalten der natürlichen Schwangerschaft und Geburt nimmt in Doula-Kreisen absurde Ausmasse an.
So wird in den Sozialen Medien immer wieder behauptet, dass beinahe jede Komplikation in der Schwangerschaft keiner Behandlung durch die moderne Medizin bedarf.
Dem zugrunde liegt oft die «Heilkunde» der Germanischen Neuen Medizin, die vom deutschen Mediziner Ryke Geerd Hamer entwickelt wurde. Laut seiner Theorie liegt der Ursprung jeder Krankheit in einem inneren Konflikt, der durch ein Schockerlebnis ausgelöst wird.
Gemäss Hamer bekommen beispielsweise deutsche Schulkinder Karies, wenn sie sich durch ausländische Mitschüler bedroht fühlen. Es entstehe ein Gefühl des «Nicht-Zubeissen-Könnens».
Da wären wir schon beim eindeutigen Rassismus angekommen.
Nachdem Hamer seine Zulassung als Arzt entzogen worden war, begann er, illegal Krebspatient:innen zu behandeln – von denen viele starben. Heute finden Hamers Theorien weiterhin Anklang. Vor allem in den Kreisen der Reichsbürgerbewegung.
Hype um Alleingeburten
Und leider verwischen auch hier die Grenzen der Szenen erneut. Denn in der Reichsbürgerbewegung scheint es immer mal wieder zu einer Form von Geburt zu kommen, die auch in radikalisierten Kreisen der Geburtshilfe propagiert wird: die Alleingeburt.
Aber Achtung: Auch hier mit unterschiedlichen Beweggründen.
Alleingeburt, also die Geburt ohne medizinische Fachpersonen, sei die natürlichste Art des Gebärens, und somit die sicherste. Diese Aussagen kommen in der Regel von Geburts-Influencer:innen, die selbst nur sehr wenig eigene Erfahrungen in der Geburtshilfe gemacht haben.
Ich nenne sie deshalb gerne Theoretiker:innen. Denn ja: In der Theorie ist Geburt so konzipiert, dass eine gebärende Person nichts von Aussen braucht. In der Theorie funktioniert Geburt, ohne jegliche Eingriffe.
Leider verschliessen die Verfechter:innen des Natürlichen die Augen vor einem Aspekt: Dass die Natur den ein oder anderen Todesfall in Kauf nimmt.
Unsere Voraussetzungen für eine Geburt
Der Mensch gebärt im Unterschied zu anderen Säugetieren nicht gleich einfach. Mit unserem aufrechten Gang musste sich unser Becken verschmälern, damit der Beckenboden genügend Spannkraft aufrechterhalten und die Organe vor dem Rausrutschen bewahren kann.
Weil das Becken sich nun auf das absolute Minimum, das mit Geburt noch kompatibel ist, verschmälert hat, müssen menschliche Babys im Unterschied zu anderen Säugern eine relativ komplizierte Schraubbewegung durchs Becken machen und können nicht mehr einfach nur hindurch gleiten.
Zudem hat der Mensch einen grösseren Neokortex als jedes andere Säugetier, was ihm das rationale Denken ermöglicht. Dieser hemmt aber unter Umständen archaische Bereiche im Gehirn, die instinktives Verhalten wie das Gebären beinhalten.
Diese Voraussetzungen machen das Gebären also etwas schwerer, aber meistens laufen Geburten auch bei Menschen leicht und unproblematisch ab.
Geburtshilfe hat Tradition
Für den Fall, dass es zu einer Komplikation kommen könnte, gibt es Fachpersonen der Geburtshilfe wie Hebammen, die darauf geschult sind, mithilfe von Interventionen den sicheren Geburtsverlauf zu gewährleisten.
Wenn aber keine medizinisch ausgebildete Person bei einer Geburt zugegen ist, kann diese auch heute noch tödlich enden. Deshalb gebären Menschen schon seit Jahrtausenden mit Hebammen, die über fundiertes Geburtswissen verfügen.
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Die meisten Alleingeburten gehen gut aus. Wichtig ist auch, zu verstehen, dass die meisten Frauen, die sich zu einer Alleingeburt entschliessen, eine bewusste Risiko-Abwägung gemacht haben:
Sie wollen nicht riskieren, Opfer des modernen Geburtshilfesystems und seiner Interventionskaskaden zu werden und nehmen deshalb in Kauf, dass während einer Alleingeburt etwas Unvorhersehbares geschieht.
Dieses Abwägen hat seine Berechtigung, ist meiner Meinung nach aber der falsche Ansatz, der immer auch den etwaigen Tod von Mutter und Kind in Kauf nimmt.
Wir brauchen eine Reform des Geburtshilfesystems.
Wir brauchen ein Geburtshilfesystem, dem gebärende Menschen wieder vertrauen können.
Wenn wir nichts ändern, bleiben die Unsicherheiten und Unzufriedenheiten. Dann spielen wir jenen in die Hände, die die Problematiken der Geburtshilfe für ihre Zwecke nutzen.
Radikale Ideen eines selbsternannten Königreichs
Eine andere Idee für ein Geburtshilfesystem hat das selbsternannte Königreich Deutschland (KRD). Dabei handelt es sich um eine extremistische Gruppierung im Rahmen der Reichsbürgerbewegung. Wie auch Hamer verbreitet das KRD antisemitische Theorien, sieht sich als alternatives System und geht andere Wege.
Dies beispielsweise mit Hebammen, die werdende Mütter in Gesundheitshäusern, Geburtshäusern oder bei Hausgeburten helfen. Klingt nobel, aber auch hier hat sich der Wolf im Schafspelz versteckt.
Das KRD verkündet, dass der Verlauf von Schwangerschaft und Geburt für die Entwicklung eines Kindes relevant ist. Dem würde niemand widersprechen.
Ausserdem geht es vordergründig darum, gewaltfreie Geburten und eine prompte Bedürfnisstillung von Neugeborenen zu unterstützen – ebenfalls allgemeingültige Ansichten, schliesslich sind diese Themen in der Geburtshilfe und generell in der Gesellschaft mittlerweile salonfähig.
Besonders werdende Eltern und Neu-Eltern sind deshalb anfällig für die Lockversuche solcher Szenen, die suggerieren, Alternativen für die bestehenden Systeme und ihre Problematiken zu sein.
Im KRD scheint es aber nicht nur darum zu gehen, sich besonders affin für die Bedürfnisse von Familien zu geben, sondern tatsächlich auch darum, versteckte Räume zu schaffen, in denen Menschen zur Welt kommen, die daraufhin nicht behördlich registriert werden. Dabei helfen wenn nötig die Hebammen.
Darüber spricht das KRD auch relativ offen. Es gibt auf der offiziellen Webseite ein Videointerview mit einer selbsternannten Bürgerin des KRD, die ihr Kind alleine und ohne Hebammenunterstützung zuhause geboren hat, um ihre Tochter nicht anmelden zu müssen.
Im Interview spricht die Frau, die selbst als Doula arbeitet, davon, dass sie ihrer jüngsten Tochter so ein freies Leben ermögliche. Was das konkret bedeutet: Das Kind ist staatenlos, hat weder eine Schulpflicht noch gibt es die gesetzlich festgelegten kinderärztlichen Untersuchungen.
In den letzten Jahren und vor allem im Zuge der Corona-Pandemie schwappten diese Themen auch in die Schweiz über. Hierzulande wird kein Königreich ausgerufen, aber das KRD hat auch in der Schweiz zahlreiche Kontakte geknüpft. Immer wieder finden Veranstaltungen statt, von Vertreter:innen des KRD oder von anderen strittigen Personen aus dem Bereich Geburtshilfe.
Was wir tun können
Die radikalisierte Geburtsszene driftet ab und verbreitet die Botschaft vom bösen medizinischen System, und davon, dass Alleingeburten natürlich und deshalb sicher seien. Das hat zur Konsequenz, dass sich mehr Frauen ohne Hintergrundwissen für eine Alleingeburt entscheiden.
Das Problem erschaffen hat aber die moderne Medizin, die besonders im Kontext der Geburt keine gute Arbeit leistet.
Die Berner Fachhochschule geht davon aus, dass jede fünfte Person bei der Geburt von struktureller oder informeller Gewalt betroffen ist. Als Doula besteht mein Hauptklientel aus traumatisierten Frauen, die sich nach vorangegangenen Geburten missbraucht, fremdbestimmt oder sogar vergewaltigt fühlen.
Es ist leider verständlich, dass sich Menschen von der modernen Medizin abwenden und sich womöglich in einer radikalen Szene verirren.
Die profitausgerichtete Geburtshilfe in der Klinik ist gezeichnet von Sparmassnahmen, schlechten Betreuungsschlüsseln, invasiven Eingriffen in physiologische Abläufe und einem Mangel an Consent und Würde.
Durch die fehlende Wandlungsfähigkeit dieser Organisationen entsteht ein Nährboden für Einflüsse von rechter Esoterik, christlichem Fundamentalismus und extremistischem Gedankengut.
Dem Problem wirklich begegnen können wir erst, wenn die moderne Geburtshilfe wieder zur besseren und für die gebärenden Personen und deren Kinder sichereren Variante wird.
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Veröffentlicht am 4. Juli 2024
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