Der Richi!-Moment oder die elterliche Schadenfreude
Warum sich das Mitleid bei uns Eltern manchmal in Grenzen hält, wenn das Kind den Kopf an der Tischkante anstösst. Und was Richi damit zu tun hat.
Seit einigen Wochen hallt bei uns immer wieder ein „Richi! I ha dr doch gseit…“ durch die Wohnung. Any Working Dad und ich rufen uns den Satz zu, meistens in nicht ganz so lustigen Momenten. Aber genau in denen braucht man ja besonders viel Humor.
Wir nutzen dazu die ganz kleine Pause, die kleine Kinder machen zwischen dem Moment, in dem sie – wieder einmal – in die Tischkante gerannt sind und der darauffolgenden Sekunde, in der sie das realisieren: „Richi!“
Dann geht es los mit heulen und trösten.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Warum Richi?
Richi ist der Sohn von Hermann und Christine Schönbächler, die mit der ganzen Familie in die Wildnis Kanadas auswanderten und 2011 vom Schweizer Fernsehen für die Serie «Auf und davon» dort besucht wurden. Vater Hermann lässt den damals ca. 3.5-jährigen Richi selbständig aus dem Bagger klettern, was dann leider nicht problemlos klappt (hier ist ein Video, falls es nicht sichtbar ist, Seite neu laden):
Nach der Ausstrahlung dieser Sequenz ging ein Aufschrei durch die Schweiz, man entrüstete sich über den groben Vater, seine herzlose Reaktion. Gleichzeitig erhielt das Video Kultstatus, ebenso wie Hermanns’ Reaktion: „Richi, i ha dr doch gseit du söusch di häbe!“ (Richi, ich hab’ dir doch gesagt, du sollst dich festhalten!“
Ich selber, damals noch knapp kinderlos, fand das auch total daneben. Das arme Kind, doch noch viel zu klein, um zu verstehen, was „halte dich gut fest“ bedeutet.
Aber stimmt das wirklich? Oder entscheiden sich Kinder einfach aktiv gegen unsere Ratschläge?
Sobald das Kind lernt, sich selber zu bewegen, besteht die Hauptaufgabe von uns Eltern grundsätzlich darin, zu verhindern, dass es sich in lebensgefährliche Situationen bringt. Wie oft wünscht man sich als Kleinkindeltern nicht eine Spiel-Gummizelle ohne Ecken und Kanten, wo man den Beschützerinstinkt kurzfristig ausschalten könnte? Wo das Kind sich mal zehn Minuten nicht wehtun kann?
Mittlerweile sind meine Kinder von zwei und vier Jahre alt. Regelmässig befinden sie sich jetzt freiwillig in der Kamikaze-Zone, wollen austesten, was geht und was nicht. Gefahren einschätzen? Kompetenz gering. Gefahren suchen? Hell yeah! Oft kann ich gar nicht hinsehen, wenn sie uuuunbedingt vom Sofa Turmspringen üben wollen oder mit gefühlten 60km/h einen Hang hinunterrennen.
Mitleid und Schadenfreude
Ob ich sie machen lasse, liegt dabei natürlich in meinem Ermessen. Und ist abhängig von meiner Nervenstärke. „Pick your fights“ ist mein Mama-Mantra, und wenn man denn halt umsverrecke unter dem Esstisch Fangen spielen muss – dann bitte, suit yourselves. Aber passt auf die Köpfe auf!
Minuten später kollidieren Kopf und Kante dann natürlich doch – und ehrlich gesagt, mein Mitleid hält sich in Grenzen. Klar singe ich schnell ein Heile-Heile-säge, aber ohne Inbrunst. Irgendwo in meinem Hinterkopf hallt es: „Ich hab’ dir doch gesagt….“ und gelernt hat die Lädierte jetzt auch noch etwas. Hoffentlich. Ich bin mir nämlich mittlerweile ziemlich sicher, dass meine Kinder wissen, was „pass auf“ bedeutet. Und sich entscheiden, mich konsequent zu ignorieren.
Schon beinahe in waschechte Schadenfreude artet es aus (ja, ihr dürft mir jetzt definitiv den Rabenmutterpreis überreichen), wenn ich etwas explizit verboten habe. Dann folgt Protest, Geschrei, der Versuch, hinter meinem Rücken doch den Bostitch aus dem Büro zu klauen und natürlich klemmt sich der Amateurdieb dabei das Patschhändchen ein oder rennt davon und stolpert über sein Diebesgut.
„Gott straft schnell“, hiess es bei uns früher, oder «wer nicht hören will, muss fühlen». Natürlich küsse ich pflichtbewusst auch dieses Händchen, aber mit einem Blick, den der Sohn schon zu interpretieren weiss: I ha dr doch gseit…!
Der Frust, zu versagen
Auch die (wahrscheinlich persönlichkeitsbedingt etwas rauhe) Reaktion von Richi’s Vater kann ich mittlerweile besser nachvollziehen. Tut sich eines meiner Kinder weh, kriege ich sofort ein schlechtes Gewissen (immer, auch wenn es selber schuld ist, auch wenn die Schadenfreude im Nacken tanzt) und manchmal werde ich laut und wütend – auf mein Kind, weil es wieder nicht auf mich gehört hat und jetzt unnötig Tränen fliessen, aber vor allem und viel mehr auf mich selber, weil ich nicht besser aufgepasst habe.
Weil meine Hand nicht an der Tischkante war, die Schublade im Büro nicht abgeschlossen, weil ich entschieden hatte, den Downhill-Spurt zu erlauben und jetzt die Knie aufgeschlagen sind.
Der grosse Unterschied ist halt: Wo wir die Grenzen ziehen sollten, und wieviel Verantwortung jedes einzelne Kind schon tragen kann, müssen wir schon selber rausfinden. Uns sagt es keiner.
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Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 25. Juli 2016 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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