Plötzlich Stiefmutter
Sarina verliebt sich in einen neuen Mann, er ist Vater von drei Kindern. Eine emotionale Achterbahnfahrt beginnt. Ein Erfahrungsbericht.
Ich wusste, dass es keine Zweierbeziehung werden würde, wie ich es bis anhin gewohnt war. Seine Lebensumstände waren andere: Er hatte Familie; drei Kinder. Verliebt und mir meiner Sache sicher, liess ich mich auf das Abenteuer Patchwork ein.
Was dies für mich, mein emotionales Gleichgewicht und das Leben als Liebespaar effektiv bedeuten würde, überstieg mein Vorstellungsvermögen bei Weitem.
Mit 28 Jahren war ich plötzlich Stiefmutter. Quasi über Nacht hielten drei Kinder im Alter von damals 11, 9 und 6 Jahren Einzug in mein Leben. Was Kinder haben bedeutet, wusste ich zu jener Zeit noch nicht. Ich hatte mir stets welche gewünscht, aber mehr so auf dem herkömmlichen Weg: mit Schwangerschaft, Vorbereitungszeit und einer verbindenden Geschichte.
Wo die Liebe hinfällt, heisst es so schön. Am Anfang ist es sekundär, was der Partner noch so mitbringt aus seinem bisherigen Leben. Eltern, Geschwister, Freunde und Verwandte betreten nach und nach die Beziehungsbühne. Wie intensiv, lässt sich meistens aushandeln.
Die Stiefmutter, das fünfte Rad am Wagen
Bei Kindern ist es komplizierter. Die Hälfte meiner arbeitsfreien Zeit wurde plötzlich zu Kinderzeit. Das ist anstrengend, wenn beide Vollzeit arbeiten, und emotional schwierig. Ich fühlte mich oft als das fünfte Rad am Wagen; ausgeklammert aus einem Beziehungssystem, das über Jahre gewachsen war.
Gemeinsame Ausflüge waren anfangs unerträglich: Egal ob im Hallenbad, beim Schlitteln oder auf dem Spielplatz, die Kinder wollten ihren Vater, mit ihm Spass haben, mit ihm herumtoben. Da konnte ich mich noch so sehr anstrengen, in diesen Situationen war ich überflüssig und das schmerzte.
Meinen Platz zu finden, war nicht einfach, denn Vorbilder, an denen ich mich hätte orientieren können, fehlten.
Was die Aufgaben einer Mutter sind, davon hatte ich eine Vorstellung. Aber die einer Stiefmutter? Ihr Image war auf jeden Fall kein gutes, dafür hatte die Märchenwelt gesorgt. Überfordert versuchte ich, allen Ansprüchen gerecht zu werden.
Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass ich etwas von mir verlangte, das weder nötig noch möglich war: eine perfekte zweite Mutter zu sein. Und noch viel später realisierte ich, wie sehr dieses vermeintliche Mutter-Ideal ein gesellschaftliches Konstrukt ist.
Eigene Bedürfnisse zurückstellen
Ich sagte oft ja, obwohl ich eigentlich nein meinte. Was blieb mir anderes übrig, als das Bedürfnis nach einem ruhigen, kinderlosen Abend zurückzustellen, wenn der Vater geschäftlich ein paar Tage weg musste und die Mutter nicht verfügbar war? Ich brachte Verständnis für alles Mögliche und Unmögliche auf – das schien irgendwie normal, wollte ich diese Paarbeziehung aufrechterhalten.
Ich freute mich auf vereinbarte Wochenenden zu zweit und wenn dann doch unerwartet eines der drei Kinder da war, weil es aus irgendwelchen Gründen nicht am Programm, das andernorts stattfand, teilnehmen konnte, akzeptierte ich. Ich trug ja gerne dazu bei, dass es den anderen gut ging. Dass ich das nicht selbstbestimmt tun konnte – eine ehrliche andere Option, als zu akzeptieren, gab es ja nicht – setzte mir zu und ich fühlte mich in meiner Hilfsbereitschaft ausgenutzt.
Als Stiefmutter erhielt ich ungefähr die Anerkennung, die der traditionellen Mutterrolle entspricht, also nicht wahnsinnig viel. Darunter litt ich fast noch mehr als unter dem Verzicht und dem fehlenden Mitbestimmungsrecht.
In meinem Verständnis war nichts von dem, was ich tat oder zum Wohle aller nicht tat, selbstverständlich – weder Wäschewaschen noch Kochen noch Fahrdienste übernehmen noch abends babysitten oder die Kotztüte im Auto halten.
Immerhin, und dafür war ich dankbar, respektierten mich die Stiefkinder.
Kein einziges Mal hörte ich Aussagen wie: «Du hast mir nichts zu sagen, du bist nicht meine Mutter.» Das fand ich erstaunlich, denn meine Ansprüche an sie und unser Zusammenleben deckten sich erwartungsgemäss nicht immer mit den Verhaltensregeln und Umgangsformen, die sie aus ihrem bisherigen Familiensystem kannten. Man kann sich die Hände vor dem Essen waschen oder nicht. Man kann leise sein, wenn jemand schläft, oder Rücksicht als Fremdwort betrachten.
Vieles musste ich einfach so hinnehmen, denn als Stiefmutter war ich die Neue in diesem eingespielten Gefüge, es fühlte sich oft nach vier zu eins an. Dort, wo es mir wichtig war, versuchte ich auf eine Änderung hinzuwirken. Beides zehrte an meinen Kräften.
Die unsichtbare Stiefmutter
Die Gesellschaft sorgt sich um Kinder in Scheidungssituationen. Ihre Schwierigkeiten sind anerkannt und das ist gut so. Dementsprechend gilt auch die Aufmerksamkeit des Umfelds hauptsächlich ihrem Wohlbefinden.
Wie es der Stiefmutter mit der Situation geht, fragt selten jemand. Dass die Stiefmutter sich zurücknimmt, scheint irgendwie normal. Dass sie sich kümmert und ihre Freiheiten aufgibt ebenfalls – so, wie es auch von leiblichen Müttern erwartet wird.
Ich fühlte mich oft unsichtbar.
Ob Stiefväter auch so viele implizite Erwartungen zu spüren bekommen? Wohl kaum.
Fest stand: Ich wurde in meiner neuen Rolle als Stiefmutter nicht beneidet. Das verrieten die gelegentlichen Schulterklopfer, eine Mischung aus Bewunderung und Mitleid, nach dem Motto: «Wow, was du machst, könnte ich nie. Ein Mann mit Kindern, nein danke.»
Und dann waren da auch noch die Schuldzuweisungen. Wenn eine Beziehung in die Brüche geht und eine neue entsteht, fallen Urteile. Meistens sind sie nicht sehr differenziert. Ich bin 12 Jahre jünger als mein Mann, das bediente Stereotype zusätzlich.
Mit dieser Kombination aus unsichtbar und Sündenbock kam ich schlecht zurecht.
Schwäche zu zeigen, liess meine Persönlichkeitsstruktur aber nur mässig zu. Jammern war auch schwierig, schliesslich begab ich mich freiwillig in diese Situation. Gegen aussen wollte ich stark sein und der Welt beweisen, wie gut ich das kann; in meinem Innern plagten mich Selbstzweifel, denn ich war mir sicher, dass es andere Frauen, andere Stiefmütter besser machen würden.
Die Situation war natürlich nicht nur für mich belastend. Dieselbe Geschichte würde aus der Sicht meines Mannes oder der Stiefkinder anders klingen. Auch sie mussten viel Unsicherheit aushalten und ihre Rollen neu definieren.
Ich konnte deshalb auch verstehen, weshalb sie am Esstisch immer wieder in denselben Erinnerungen an gemeinsame Ferien oder Geburtstage schwelgten: nicht meinetwegen, um mich auszuschliessen, sondern um sich der Beziehung zueinander zu vergewissern. Trotzdem gab mir das zuverlässig einen Stich ins Herz.
Abgrenzung und Selbstfürsorge
Mittlerweile sind sieben Jahre vergangen – viel Zeit, um gemeinsame Erinnerungen zu fünft zu schaffen. Herausfordernde Situationen gibt es auch heute noch. Beispielsweise wenn ich in Entscheidungsprozesse zwischen Vater und Kindern nicht einbezogen werde.
Für sehr viele Themen ist naturgemäss mein Mann die erste Ansprechperson. Vieles betrifft mich als Stiefmutter aber auch, meistens ziemlich direkt, zum Beispiel wenn ein Gspänli nach Hause kommt und zum Essen bleibt. Wer soll das jetzt entscheiden? Mein Mann, weil er der leibliche Vater ist, oder ich, weil ich zu Hause bin und das Abendessen vorbereite?
Verglichen mit der emotionalen Achterbahn von damals sind das aber Peanuts.
Der Lernprozess, den ich durchmachte, nachdem mich eine Erschöpfungsdepression zum Innehalten zwang, war schmerzhaft, aber wertvoll.
Ich lernte nicht nur Abgrenzung und Selbstfürsorge, sondern gewann eine neue, schöne Perspektive auf meine Rolle als Stiefmutter. Die Kinder, die ich anfangs eigentlich nicht wollte, sind zu einem bereichernden Teil meines Lebens geworden.
Ich sehe es als Privileg an, Teenager begleiten zu dürfen, Einsicht zu erhalten in ihre Lebenswelten, in das, was sie bewegt, und dafür zu sorgen, dass sie ein Zuhause haben, in dem sie sich willkommen und geliebt fühlen.
Die Geburt unseres gemeinsamen Sohnes, ein Wunschkind mit langer Vorgeschichte, hat uns nochmals mehr zusammengeschweisst. Das ist ein grosses Geschenk – es hätte auch anders kommen können.
Ich bin jetzt Mutter und Bonusmutter; 1 plus 3 steht unter «Kinder» in meinem Lebenslauf. Letztes Jahr zum Muttertag habe ich eine Karte erhalten. Ich sei das Stiefmami, das sich jeder wünschen würde, steht dort geschrieben. Das hat mich sehr berührt.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 16. Februar 2022 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.