Von Rüebli, Bananen und der perfekten Mutter
Wir orientieren uns am Bild der sich aufopfernden Mutter. Und merken nicht, dass es uns genau diese gedanklichen Fesseln unmöglich machen, Gleichberechtigung zu erreichen. Wir müssen etwas ändern: in uns.
Dies ist ein erweitertes Transkript und eine Übersetzung meines TedX-Talks vom 16. November 2018. Die Frage, was eine «gute Mutter» ist, hat für mich mehr Aktualität denn je. Die Überzeugung, dass wir uns von ihrem Bild lösen müssen, ist für mich der Schlüssel zu einer gleichberechtigten Zukunft.
Vor ungefähr zehn Jahren traf ich meine Eltern zum Mittagessen im Kornhaus in Bern. Wir waren zu dritt, meine Eltern und ich – ich bin Einzelkind. Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater Unternehmer. Während meine Mutter das Familienleben und den Haushalt gemanagt hat, verdiente er das Geld – kurz: Die beiden leben ein traditionelles Familienmodell.
Natürlich, und davon war ich damals überzeugt, würde ICH es ganz anders machen als sie. Mit 28 wusste ich, wie der Karren läuft und habe das dann netterweise meinen Eltern mal erklärt:
ICH würde alles unter einen Hut bringen.
ICH würde meine Karriere fortsetzen. Zwei, vielleicht drei Kinder kriegen, einen Partner haben, der mir auf Augenhöhe begegnet, ich würde Reisen, Sport treiben, Freunde treffen und vielleicht – mal so zwischendurch – noch ein Buch schreiben. ICH? I got this.
Meine Mutter nahm einen Schluck von ihrem Tee und studierte länger die Tasse. Mein Vater hob eine Augenbraue. Aber nur eine.
Das ist doch alles nur eine Frage der Organisation!
… rief ich der Augenbraue entgegen. Und fühlte mich still bevormundet. Ich würde es ihnen schon zeigen.
Schwangere Streberin
Fünf Jahre später war ich schwanger.
Mit dem wachsenden Bauch korreliert ja bekannterweise auch die Abnahme der Privatsphäre. Schwangeren Frauen darf man ungeniert und vor allem ungefragt den Bauch streicheln, sich nach Wasser in den Beinen oder dem gesteigerten Sex-Drive erkundigen und bös gucken, wenn eine dann doch einen Schluck Wein trinkt. Die Schwangere ist Allgemeingut, sie pflanzt sich fort im Namen der Menschheit, da darf man ja mal noch was sagen dürfen!
Dazu kommt, dass angehende Mütter nicht mehr so richtig zurechnungsfähig sind – wahrscheinlich wegen der vielen Hormone. Daher ist es unumgänglich, ihnen permanent vorzuhalten, was richtig – und viel wichtiger! – was falsch ist.
Aber selbstverständlich war ICH vorbereitet. Einmal Streberin, immer Streberin.
Ich kaufte haufenweise Bücher. Kannte alle Apps. Ich wusste auf den Tag genau, wann mein Fötus so gross sein würde wie eine Traube oder wie eine Avocado – und ob ich die eine oder die andere essen dürfte.
Ich ging ins Schwangerschaftspilates. Ins Schwangerschaftsyoga und ins Schwangerschaftsschwimmen, wo ich und mein ungeborenes Kind unter Wasser sanftem Walgesang lauschten, während wir durch die Bauchdecke bondeten. Ich schleppte meinen Partner in einen dieser Schwangerschafts-Vorbereitungskurse, obwohl uns rückblickend und vorausschauend ein Konfliktbewältigungsseminar weit mehr gebracht hätte.
Wir besichtigten zudem drei Spitäler, besuchten zwei Info-Abende mit Häppchen, ich schnaufte, hechelte, röhrte wie eine Hirschkuh, während ich auf einer Geburtsschaukel test-hockte und stellte mir auf Empfehlung der Hebamme sogar eine Playlist auf meinem iPod zusammen, als musikalische Untermalung für die bevorstehende Geburt.
Gehört habe ich die dann natürlich nie.
Obwohl ich durchaus 32 Stunden Zeit dafür gehabt hätte.
Mein Sohn kam auf die Welt, und ich als Mutter auch.
Nach 32 Stunden war es da, mein erstes Kind. Und meine Karriere als Mutter startete auch gleich mit einem Ereignis, das einige bestimmt als meinen ersten «Fail» bezeichnen würden: Ich hatte einen Kaiserschnitt.
Und trotzdem, und das sage ich gerne, war ich so glücklich wie noch nie im Leben. Und auch überfordert: Mit meinen Gefühlen einerseits, aber vor allem auch mit den Erwartungen, die ich an mich selber hatte.
Denn als ich meinen Sohn stillte, hatte ich aus mir unerklärlichen Gründen kein seeliges Lächeln auf den Lippen. Meine Haare fielen nicht in einem schönen Bauernzopf über meine Schulter – so wie ich das von Instagram kannte. Nein. Schweissverklebte Strähnen fielen mir ins Gesicht, während ich mir die Lippen blutig biss, um nicht laut zu schreien. Denn mal ehrlich:
Die ersten Stillversuche können sich anfühlen, wie ein herzhafter Abrieb der Nippel mit der Rüebliraffel.
Ich wollte wissen, ob das normal ist. Ob ICH normal bin, mit meinen Gefühlen: dieser Mischung aus Glück, Schmerz und tiefer Verunsicherung.
Ich hab’s gegoogelt.
Dank extensivem Googeln (ein Task, der sich wunderbar einhändig erledigen lässt) fand ich heraus, dass unsere Definition einer modernen Mutter, und die Erwartungen an sie von vorgestern sind. Also, von vorvorgestern.
Aus dem 18. Jahrhundert.
Das Bild der «guten Mutter» kam damals auf, geprägt vom französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau. Er «erfand» sie, die Idee der sich aufopfernden, selbstlosen Mutter, die alles richtig machen muss.
Sein Erziehungsratgeber «Émile» wurde zum Bestseller – immerhin war Rousseau selbst fünffacher Vater. (Alle fünf Kinder wuchsen jedoch im Waisenhaus auf, da sich Rousseau auf seine Arbeit konzentrieren wollte. Ich hebe an dieser Stelle auch eine Augenbraue.)
Nichtsdestotrotz: Dieses Bild, wie eine Mutter zu sein hat, ist bis heute in all unseren Köpfen. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir es merken oder nicht. Oft kommen die eigenen Erwartungen an sich selber oder die Partnerin erst dann zum Vorschein, wenn wir Eltern werden – auch wenn wir uns für noch so liberal und modern halten.
Mir zumindest ging es so.
Keine Bananen ins Znüniböxli!
Es hat sich viel geändert seit Rousseaus’ Zeit – immerhin würde kaum noch jemand sein Zitat «Die Frau hat mehr Geist, der Mann mehr Genie. Die Frau beobachtet, der Mann schliesst.» unterschreiben.
Aber auch die modernen Mütter kriegen Anweisungen. Heute kommen sie nicht nur mehr von Männern – sondern von auch von Frauen, den Medien und insbesondere aus den sozialen Medien.
Trage dein Kind! Still dein Kind! Benutze nur Nuggis aus Naturkautschuk. Nein! Gar.keine.Nuggis!
Koch drei warme, nährstoffreiche Mahlzeiten pro Tag! Geh ins Frühchinesisch – oder noch besser: Kauf Dir einen vaginalen Lautsprecher und erledige das gleich schon in der Schwangerschaft! Beschütze deine Kinder, aber sei kein Helikopter! Und um Gottes Willen: Keine Bananen ins Znüniböxli! Isch verbotte im Chindsgi!
Ich übertreibe. Natürlich. Aber das Problem ist tatsächlich:
Was nicht «perfekt» ist, ist ungenügend.
Ich kenne KEINE einzige Mutter – und ich wette, es ist keine unter euch, die das liest – die noch nie ein schlechtes Gewissen hatte, vielleicht, weil sie ihrem Kind nur Dinge aus der beigen Nahrungsmittelgruppe füttert, weil sie ihr Kind angeschrien hat, oder, weil sie mal weg musste. Zum Beispiel, um arbeiten zu gehen.
Der Wunsch ist da, alles unter einen Hut zu bringen. Aber: neben der Mutterrolle soll frau auch noch liebevolle Partnerin, erfolgreiche Geschäftsfrau, engagierte Freundin und Tochter sein. Und dabei, fast am wichtigsten: sollten wir noch aussehen wie eine MILF. Danke, Stifler’s Mom.
Aber, Moment mal: Wo sind eigentlich die Väter?
In den meisten Fällen: am Arbeitsplatz. Mit dem bisherigen Vaterschaftsurlaub von 1 Tag auch kein Wunder. (Anm. d. Red.: Inzwischen sind’s zwar zwei Wochen Vaterschaftsurlaub, aber … ihr wisst schon.)
Auch wenn man die Reise als Eltern auf dem gleichen Wissenstand antritt – weder mein Partner noch ich hatten nach Ankunft des Babys viel Ahnung davon, was man mit einem kleinen Menschen so anstellt – hatte ich als Frau sehr schnell die steilere Lernkurve, was das Baby betrifft.
Ich glaube nicht, dass ich als Mutter instinktiv besser Bescheid wusste, sondern es lag am unumstösslichen Fakt, dass ich in den folgenden Wochen DA war und er nicht.
60 Prozent Erwerbstätigkeit ist gerade noch so ok
Als ich wieder arbeiten ging – die in der Deutschschweiz gesellschaftlich gerade noch so akzeptierten 60 Prozent – hatte ich zusätzlich noch einen 100-Prozent-Job in der Familie gefasst. Und obwohl ich einen Partner habe, der sehr wohl und freiwillig seinen Teil tut, war ich plötzlich «Chief of Baby» in der Familie, wurde zum sogenannten «Default Parent». Nicht, weil wir das als Paar gesucht, geschweige denn geplant hatten, sondern weil unser System die Weichen so für uns stellt.
Mit Erwerbsarbeit, Betreuungsarbeit und der sogenannten Mental Load – der alltäglichen, unsichtbaren Denkarbeit – machte ich plötzlich eine ganz neue Erfahrung:
Ich reichte plötzlich nirgends mehr.
Ständig musste ich mich gegen aussen rechtfertigen, aber vor allem und am vehementesten gegenüber mir selber: Weit entfernt war ich von den professionellen Ansprüchen an mich selbst, und nicht weniger weit entfernt davon, die perfekte Mutter zu sein. Ich fühlte mich ungenügend.
Ich hatte eine kleine Identitätskrise.
Wer war ich überhaupt noch? Ich fand: Nicht mal mehr Frau, so richtig. Im Schweizerdeutschen tauscht man ja den weiblichen Artikel 1:1 ein für ein Kind – ab Geburt ist man für alle Aussenstehenden (insbesondere für die Werbung, für ältere Mitarbeiter oder genervte Tramchauffeure) nur noch «DAS Mami». Jöööh, so herzig: Es Ääääs.
Es war, als würde man Xena das Schwert wegnehmen und ihr ein Rasseli in die Hand drücken.
Ich hatte mich also über Nacht von einer Frau mit Persönlichkeit in ein Neutrum mit Stillbrüsten und Schlafmanko verwandelt.
Zurück zu «Es ist alles nur eine Frage der Organisation» – remember?
Ich muss heute noch lachen. Auch nach der Geburt des zweiten Kindes staunte ich immer noch ungläubig über meine eigene Naivität, wie einfach ich mir das alles vorgestellt hatte. Fairerweise habe ich meine Mutter angerufen und sie durfte dann sagen:
Ich hab’s dir ja gesagt.
Und dann habe ich 2016 «Any Working Mom» ins Leben gerufen. Ich wollte ehrlich sein. Ich wollte diesen Druck wegnehmen, ich wollte und will den Perfektionismus entlarven, an dem wir uns bewusst oder unbewusst messen. Das ist heute noch die Kernbotschaft dieser Plattform, auch unter dem neuen Namen «mal ehrlich».
Die perfekte Mutter – sie hält uns dieses unerreichbare Rüebli vom «Alles Haben» vor die Nase und wir rennen ihm unermüdlich nach.
Nach fast sieben Jahren Erfahrung als Mutter, nach drei Kindern und drei Jahren Any Working Mom kann ich aber mit Sicherheit sagen:
Die perfekte Mutter gibt es NICHT.
Sie ist ein Frankenstein, konstruiert aus Instagrambildli, aus Bildern der Werbung und aus schlechten Spielfilmen. Aus Erzählungen von anderen Müttern, die sich nicht trauen, ihre eigenen «Fails» und Herausforderungen zu teilen.
Die Folge? Viele Frauen ziehen die Reissleine, und entscheiden sich dafür, ihre Zeit und Energie voll und ganz in ihre Familie zu stecken. Was wunderbar ist. Auch ich verbringe am liebsten Zeit mit meinen Kindern und ich kämpfe dafür, dass der Betreuungsarbeit die Wichtigkeit und Wertigkeit zugestanden wird, die sie verdient.
Und gleichzeitig hält uns der Wunsch, eine «gute» Mutter zu sein, zurück.
Anstatt dass wir «mit am Tisch sitzen» und Entscheidungen fällen, schleppt uns die perfekte Mutter zurück an den Herd, wo wir Punkt halbi Zwöfli ein Riz Casimir zaubern, das wir dann mit Bananen und Ananas zu einem lustigen Smiley-Teller dekorieren und instagrammen mit dem Hashtag #enGuete! – um zu zeigen, wie easy das doch alles ist.
CBO vs. CEO – und wie wir das ändern
Und im Grunde genommen passiert dann genau dasselbe wie im Wochenbett. So, wie die Mütter in der Regel zum «Chief of Baby» werden, werden Männer automatisch «CEOs». Nicht, weil sie zwingend die besseren Chefs sind, sondern, weil sie am Arbeitsplatz präsent, weil sie DA sind.
Wenn wir in der Schweiz wirklich etwas verändern wollen, wenn wir wirklich Gleichberechtigung wollen, dann braucht es beide Geschlechter für einen Diskurs. Um die Balance zu erreichen, braucht es mehr Frauen im öffentlichen Raum, die mitreden und stattfinden. Frauen, die am Tisch sitzen, «leaning in».
Aber: Viele von diesen Frauen sind Mütter, die mit den äusseren Erwartungen an sie und ihren eigenen Erwartungen an sich selber schon alle Hände voll zu tun haben! Wo bleibt die Zeit?
Veränderung im Kopf: der neue Mindset
Im System findet langsam eine Veränderung statt, man spricht über Vaterschaftsurlaub und träumt von Elternzeit, die Subvention von Krippenplätzen ist auf dem Tisch, Tagesschulen werden eingeführt.
Und trotzdem: Ich bin überzeugt, dass wir alle bei uns selber anfangen müssen, wenn wir umdenken wollen.
Das wir dieses Umdenken aktiv angehen müssen, in dem wir in einem ersten Schritt überhaupt realisieren, dass wir unrealistische Erwartungen an uns selber haben.
Lösen wir uns gemeinsam vom Bild der fürsorglichen, verantwortlichen, sich aufopfernden Mutter. Kehren wir uns von der sinnbildlichen perfekten Mutter ab: Dieses Demeter-Bio-Max Havelaar-Rüebli, das sie uns stets unerreichbar vor die Nase hält – an dem soll sie selber nagen.
Und wir erobern uns unsere Zeit und die Energie zurück, für alles, was vielleicht nicht perfekt, aber dafür wirklich wichtig ist.
Hier könnt ihr euch meinen TedX-Talk als Video (Englisch) anschauen:
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 17. November 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.