Weniger Geburten: Was wir daran feiern sollten
Noch nie kamen in der Schweiz so wenig Kinder zur Welt. In Gesprächen darüber höre ich oft die Probleme – hohe Kosten, familienfeindliche Strukturen, schlechte Vereinbarkeit. Aber: Was, wenn der Geburtenrückgang nicht nur Missstände zeigt, sondern auch eine positive gesellschaftliche Entwicklung?

Alle reden über den Geburtenrückgang in der Schweiz. Meistens stehen dabei Schuldzuweisungen und Probleme im Zentrum: zu wenig familienfreundliche Strukturen, zu hohe Kosten, schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Alles absolut richtige und wichtige Punkte. Aber: Was, wenn der Rückgang nicht nur Missstände zeigt, sondern auch eine positive gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung und Diversität?
Der Geburtenrückgang ist real: In der Schweiz lag der Wert 2024 bei 1,29 Kindern pro Frau. Ebenso real ist: Die Schweiz ist in vielen Bereichen kein besonders familienfreundliches Land. Von der ungleichen Care-Arbeit bis zu unzureichenden Betreuungsangeboten besteht grosser Verbesserungsbedarf.
Mehr Menschen können heute selbstbestimmt das Lebensmodell wählen, das wirklich zu ihnen passt.
Natürlich bringt der Geburtenrückgang auch demografische Herausforderungen. Aber diese Perspektive dominiert die Debatte bereits. Darum möchte ich hier eine weitere aufzeigen.
Sinkende Geburtenzahlen haben nicht nur negative Ursachen. Sie spiegeln auch eine gesellschaftliche Entwicklung wider – und zwar eine positive.
Kurz gesagt: Mehr Menschen können heute selbstbestimmt das Lebensmodell wählen, das wirklich zu ihnen passt.
Studie zeigt: mehr Gleichstellung = weniger Kinder
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung zeigt, wie stark traditionelle Geschlechterrollen den Kinderwunsch beeinflussen. Je mehr Gleichberechtigung vorhanden ist, desto häufiger fällt die Entscheidung für oder gegen Kinder bewusst, statt aus sozialem Druck, Erwartungen oder einem vorgezeichneten Lebensmodell heraus.
Menschen können heute eher das Lebensmodell leben, das ihnen wirklich entspricht, statt jenes, das gesellschaftliche Normen und Rollenerwartungen vorgeben. Das ist doch ein Erfolg, oder?
Elternsein ist nicht immer der richtige Weg für alle.
Im «Tages-Anzeiger» wurde kürzlich eine Studie erwähnt: Rund 20 Prozent der Eltern bereuen ihre Elternschaft. Eine krasse Zahl und gerade in diesem Kontext besonders spannend. Sie zeigt: Elternsein ist nicht immer der richtige Weg für alle. Und eine Entscheidung, die aus sozialem Druck heraus getroffen wird, bringt wenig, wenn sie am Ende den betroffenen Menschen nicht guttut.
Wenn sich heute also mehr Menschen bewusst und selbstbestimmt für oder gegen Kinder entscheiden, können wir das doch als positive Entwicklung sehen.
Ja, für bessere Familienpolitik – und ja, für mehr Akzeptanz
Wir brauchen eine familienfreundlichere Schweiz. Ganz klar. Die aktuell schlechten Rahmenbedingungen können Menschen mit Kinderwunsch davon abhalten, (mehr) Kinder zu bekommen.
Eine familienfreundlichere Schweiz wird aber nicht zwingend zu deutlich höheren Geburtenzahlen führen. Studien aus anderen europäischen Ländern zeigen, dass finanzielle Anreize und Unterstützungsleistungen zwar Einfluss haben, aber meist nur moderat und kurzfristig.
Und es wird eine Tatsache bleiben, dass sich auch bei den besten Rahmenbedingungen einige Menschen für ein Leben ohne Kinder entscheiden werden. Weil es schlicht nicht ihr Wunsch ist.
Feiern wir bitte kurz den Fortschritt unserer Gesellschaft?
Der Geburtenrückgang zeigt nicht nur Probleme unserer Politik, sondern auch Fortschritte unserer Gesellschaft. Er zeigt, dass die Schweiz offener wird und vielfältigere, gleichberechtigtere und selbstbestimmtere Lebensentwürfe ermöglicht.
Und diese positive Perspektive dürfte in der öffentlichen Debatte zwischendurch auch erwähnt werden.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 24. November 2025.
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.