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Häusliche Gewalt: Plötzlich ein Teil meines Lebens

Nach wenigen Wochen schlägt er zu. Körperliche Gewalt und Psychoterror – und trotzdem bleibe ich drei Jahre in dieser Beziehung. Ein Erfahrungsbericht, der zeigt: Es kann alle treffen.

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Häusliche Gewalt kann jede treffen - das zeigt dieser Text.

Bevor es mir selbst passierte, war ich eine von den Frauen, die dachte, in eine gewalttätige Beziehung zu geraten, sei einem gewissen Typ Mensch vorbehalten. Wen betrifft häusliche Gewalt? Ich stellte mir eine leicht verschupfte Person vor, still und unsicher. Oder als Gegenentwurf jemanden, der immer auf der Suche ist nach etwas Extremem.

Ich war nichts von beidem.

Extrem ist für mich alles, was sich an der Chilbi schneller bewegt als das Riesenrad — oder wenn ich unter Wasser kurz die Augen aufmache. Wild.

Meine Unsicherheit ist überschaubar. Wohl eine, wie viele sie kennen: Ein, zwei gut getarnte wunde Punkte (wie sich im Verlauf dieser Geschichte herausstellen wird, vielleicht zu gut getarnt), deren Existenz man mit jedem Jahr etwas besser zu ertragen und verstecken lernt, oder mit etwas Arbeit am Selbst gar in etwas Positives umdenken kann.

Ansonsten durchaus munter, optimistisch, ab und an schon vom Glück geküsst und gemäss Anzahl Anfragen nach Handynummer oder freien Daten für gemeinsamen Zeitvertreib auch nicht unansehnlich oder unbeliebt. Im Klaren darüber, was ich kann und was weniger und damit im Reinen.

Ich hatte vor dieser Episode in meinem Leben nie mit häuslicher Gewalt zu tun. Und danach auch nicht.

In den drei Jahren, die diese Geschichte andauerte, waren ich und alles rundherum irgendwie anders. In Nullkommanichts war ich auf einem Abstellgleis gelandet, mitten in einem absurden Leben, das sich anfühlte, als wäre es nicht mein eigenes.

Ich wusste nicht, wie ich dahingekommen war und noch weniger, wie ich da jemals (als Ganzes) wieder rauskäme. Es war fast so, als würde ich mir bei meinem eigenen Leben zusehen; in angespannter Erwartung der nächsten Folge, die ich selbst nur als Zuschauerin erlebte.

Episode 1: Linienübertritt

Die erste Ohrfeige bekam ich, als ich ihn vielleicht fünf Wochen kannte. Es war nach elf abends, ich kam von der Toilette retour und das Licht in seinem Wohnzimmer war plötzlich aus. Ich sah ihn von hinten auf dem Sofa sitzen, regungslos.

Er war von Anfang an etwas eigen, immer mal wieder plötzlich ganz ernst, was ich damals noch nichts Beängstigendes fand, und darum ging ich in diesem Moment ohne Zögern zu ihm hin und fragte, ob alles okay sei.

Er drehte sich mit einer Schnelligkeit zu mir um, die mich fast zu Tode erschreckte, packte mich an den Schultern und drückte mich aufs Sofa. Er stand, ich sass. Der grosse Mann und das kleine Mädchen, schwupps. Seine Daumen drückte er fest auf mein Schlüsselbein.

Ich war perplex und ahnte, dass etwas losginge, was nicht mehr zu bremsen sein würde.

Er schrie, hob mein Telefon auf und fuchtelte damit herum. In seinem Gebrüll versuchte ich mir zu überlegen, was auf meinem Handy sein könnte, das ihn so in Rage brachte, aber es war alles viel zu laut zum Denken, ich konnte es mir erst im Nachhinein zusammenreimen.

Eine Ferienbekanntschaft hatte mich etwa eine Stunde zuvor angerufen, ich war nicht rangegangen, weil ich die Nummer nicht gespeichert hatte. Er musste es klingeln gehört haben und fragte, ob ich grad telefoniert hätte. Ich verneinte.

Als ich im Bad war, hatte er die Nummer angerufen und hörte, wie eine männliche Stimme sich über meinen vermeintlichen Rückruf freute. Ein Mann, der spätabends eine Frau anrief, das konnte in seiner Welt nur etwas bedeuten.

Er wollte nichts erklärt bekommen, er war ausser sich. Ob ich denken würde, ich könne ihn verarschen? Warum ich das Gefühl hätte, ich sei klüger als er?

Ich erinnere mich nicht, ob ich etwas erwiderte oder nicht. Nur daran, wie ich dachte, dass er so wütend viel eher wie ein Zähne fletschendes Tier aussah und nicht wie ein Mensch.

Und dann klatschte er seine Handfläche mit voller Wucht in mein Gesicht. 

Ich hielt meine kühle Hand auf die brennende Fläche, aber diese instinktive Reaktion liess ihn nur noch wütender werden: «Denkst du, das sieht irgendwie süss aus, wenn du da so sitzt, mit der Hand da?» Er schlug sie mir vom Gesicht. «Mümümü, du Arschloch, das hilft dir nichts», zischte er und boxte mich in den Oberarm.

Dass der zweite Schlag auch weh getan haben muss, sah ich erst am nächsten Tag. Gespürt hatte ich nichts.

Ich sass einfach nur da. Er ging in die Küche. Ich wollte gehen, aber ich traute mich nicht. Ich traute mich gar nichts mehr. Ich versuchte, möglichst ohne Geräusch zu atmen und kippte viel später irgendwann einfach zur Seite und schlief auf dem Sofa ein. Ich erwachte am nächsten Morgen zugedeckt.

Angestrengt lauschte ich in die tosende Stille: Er war weg. Ich ging heim.

Episode 2: Aus Scham wird Heimlichkeit

Damals wohnte ich mit einem Mädchen von der Arbeit zusammen, nicht in der Schweiz. Sie war okay, aber niemand, dem ich das hätte erzählen wollen. Wir konnten gut aneinander vorbei leben. Ich hatte auch eine richtig gute Freundin in dieser Stadt und ganz viele davon daheim.

Sie hätten alles richtig gemacht. Aber ich konnte es ihnen nicht sagen. 

Mir war sofort klar, dass all dies nur meins allein sein könnte. Ich hatte mich selbst in diese Lage gebracht und wollte selbst da wieder raus. Meine Freunde würden denken, sie müssten herkommen und etwas regeln, mir helfen, mich holen oder ihn gar zur Rede stellen oder anzeigen.

All das, was ich auch getan hätte, wenn mir jemand das erzählt hätte, was ich ab der ersten Szene dieser Serie zu verschweigen beschloss.

Ich wollte das alles nicht. Das war alles nicht ich.

Ich musste im Kopf erstmal selbst zu dieser Person werden, in deren Leben häusliche Gewalt tatsächlich eine Rolle spielt.

Meine Gedanken gingen nur noch ganz zäh voran. Mich lähmte eine seltsame Mischung aus Angst und einer Selbstüberschätzung, die mich denken liess, dass nur ich allein diese tickende Zeitbombe von Mann so entschärfen könnte, damit ich jemals heil aus dieser Geschichte wieder rauskäme.

Wir hörten einige Tage nichts voneinander. Dann passte er mich ein paarmal mit dem Auto ab. Er war jedes Mal betont fröhlich und sagte: «Na komm schon, hast du jetzt Schiss, oder was?» Beim dritten Mal stieg ich ein.

Keine Ahnung, ob ich das aus Angst machte, weil ich wusste, wozu er im Stande war. Oder weil ich nichts Besseres zu tun oder mein Hirn einfach bis zu meinem dreissigsten Geburtstag Pause hatte. Oder weil er es war, und ich und er gemeinsam eine Dynamik ergaben, die mit immenser Sogwirkung abwärtsführte.

Warum ich mich trotz unübersehbaren Warnblinkern wieder auf ihn einliess? Ich weiss es bis heute nicht.

Es ging ein paar Mal gut, nichts Schlimmes passierte, wir assen zusammen und redeten. Ich erfuhr, dass er wie besessen joggte, viel rauchte, gesund ass und ein Sauberkeitsfanatiker war. Seine Ansichten zum Leben waren negativ und zusammengesetzt aus dümmlich bitteren Floskeln wie «Blut ist dicker als Wasser» und «Man ist sich selbst am nächsten».

Geschichten, deren Fazit «Life is Pain» waren, konnte er viele erzählen. Und ich besetzte die Rolle des fröhlich naiven Gegenpols, der mit Schweizerdialekt versuchte, dagegen anzusteuern.

Mir war nicht klar, dass ich vor einem gestörten Choleriker sass. Ich hätte meine Meinung genauso gut mit einem ausgestopften Tier teilen können; so oder so kam sie nie an und sie tat auch nichts zur Sache — zu seiner Sache.

Denn das war das hier: Seine Sache und ich eine Statistin, die mit egal welchem Verhalten ich an den Tag legte, ihm nur aufzeigte, dass das Leben genau so war, wie er es schon immer wusste: scheisse.

Ich machte trotzdem mit. Vielleicht würde ich ja einen Tag hinbekommen, von dem selbst er sagen müsste: Das war jetzt schön heute. Sein unermüdlicher Pessimismus spornte mich an und ich wollte ihm gedankliche Flexibilität demonstrieren, auf dass er es mir gleichtue.

(Die Person, die ich vor und nach dieser Geschichte bin, lacht an dieser Stelle ein langsames Ha-ha.)

Ich dachte: ‘Na gut, nicht alles, was ich bisher für richtig hielt, muss ja zwingend richtig sein, da hat er schon recht. Wenn’s das Leben erleichtert, mein Gott, dann trage ich eben Shirts ohne Ausschnitt und keine Schminke. Es stimmt schon, was bringt es mir?’

Episode 3: Fremde Gedanken im Kopf

Ganz langsam folgte ich seiner Theorie. Die sollte mir aufzeigen, dass alles, was ich bisher getan, getragen und gesagt hatte in meinem ach so erbärmlichen Leben, nur dazu diente, mich aus einer kindischen Gefallsucht heraus schöner und beliebter zu machen als ich es wäre ohne alle diese «Tricks», wie er sie nannte.

Es gibt bestimmt hellere Kerzen auf dem Kuchen des Lebens als ihn. Aber was seine Treffsicherheit im Bereich der wunden Punkte anbelangte, war er ungeschlagen. Ich fühlte mich permanent ertappt, lächerlich, und wollte ihm beweisen, dass man mich auch mochte, wenn ich nicht «darum bettelte», wie er es formulierte.

Damit begann der Irrsinn, denn plötzlich konnte ich nicht mehr aufhören, jede meiner natürlichen Handlungen und Reaktionen zu hinterfragen. 

So wie er es tat: War ich zu dem Pizzaverkäufer jetzt wirklich netter als nötig? Wollte ich, dass er beim Weggehen denkt: Wow, war die herzig? Und wenn ja, wofür? Und warum will ich auswärts essen gehen? Damit Leute mir dabei zusehen? Macht mich mein Mund, dessen Winkel im Ruhezustand leicht nach oben zeigen, wirklich arrogant, weil es aussieht, als würde ich immer besserwisserisch lächeln?

Warum trage ich Jeans mit hellen Nähten? Damit man länger auf meinen Hintern schaut? Und warum den Menschen eigentlich immer in die Augen schauen?

So viele fremde Gedanken zu denken war anstrengend und ich wurde so müde davon, dass ich nur noch die Energie für den Moment hatte. Es gab nur das Jetzt.

Eine Zukunft sah ich nicht, die Vergangenheit war woanders.

Es gab nur Tag um Tag und mich in diesem freudlosen Konstrukt, wo ich als grossfüssige Spielfigur durch eine Welt voller roher Eier tänzeln musste, Grindweh und Stirnfalten vom permanenten Lauschen, ob eins ganz leise knackt. Denn wäre dem so, käme der Zahnfletscher wieder um die Ecke geschossen.

Wer weiss, wozu er sonst noch imstande wäre?

Ich war also weniger freundlich und trug weniger Farbe. Ich ging so, wie er Gehen richtig fand und konzentrierte mich auf meine Fussspitzen. Ich redete so, wie er Reden richtig fand und strich Wörter wie «geil» oder «befriedigend» aus meinem Vokabular, um keine sexuellen Konnotationen zu provozieren.

Ich putzte so, wie er Putzen richtig fand; mit einer Zahnbürste die Fugen im Badezimmer, alles so lang und penibel, wie ich es bis anhin als Frühlingsputz definiert hätte. Alles, immer, je-den Tag. Und jeden Tag dann doch falsch.

Ich glaubte nie, dass daraus jemals etwas Gutes würde. Nie, dass das Liebe sei. Ich lernte einfach nur, mit dieser tickenden Zeitbombe zu leben. 

Aber alles, was ich tat, war gespielt. Ich wusste, dass ich so nicht war, ich befolgte nur seine Spielregeln. Das wusste er auch und es provozierte ihn.

Diese Dynamik war pures Gift.

Er, der immer dachte, dass ich ihn verarsche und ich, die ich wusste, dass ich es irgendwie auch tat, aus seiner Sicht, denn seine Argumente überzeugten mich nie, seine möglichen Konsequenzen schüchterten mich einfach nur zu sehr ein, als dass ich hätte kontern oder gehen können.

Drei, vier Mal eskalierte alles nochmals.

Weil es unmöglich war für mich, dieses absurde Spiel fehlerfrei zu spielen. Die tatsächliche Gewalt nahm dabei nie mehr zu, wohl aber das Ausmass der Drohungen und Einschüchterungen.

Einmal jagte er mich um den Wohnzimmertisch, den unteren Teil eines abgebrochenen Weinglases in der Hand. Ich hatte so dermassen Angst, dass mein Körper sich für ein irres Lachen entschied, über das ich keine Kontrolle mehr hatte und das ihn natürlich nur noch wilder machte.

Am nächsten Morgen spürte ich die Angst in Form von Muskelkater. Alles in allem kam ich aber wohl mit dem Schrecken davon.

Episode 4: Ein Niemand im Nichts

Mit der Zeit ging ich einfach nur noch arbeiten und war froh um die Stunden, in denen er woanders war als ich. Ab und an verschickte ich eine Mail an die Aussenwelt – nur, um es dann im Gesendet-Ordner und im Papierkorb direkt wieder zu löschen und mit lauernder Panik im Nacken auf entweder keine Antwort oder eine während meiner Bürozeiten zu hoffen, damit ich mich bei einer allfälligen Kontrolle seinerseits nicht rechtfertigen müsste.

Wenn ich daheim war, inzwischen längst in derselben Wohnung wie er, rauchte ich und versuchte, keinen Dreck zu machen. Er fand mich so unordentlich und lausig — wie ich meine Shirts faltete, wie lose meine Socken am Fuss waren, wie oft ich Haare am Boden übersah, wie wenig ich darauf achtete, ob noch ein Tropfen Öl an der Flasche war, bevor ich sie verschloss — es raubte ihm fast den Verstand.

Und ich hatte sowieso keinen mehr. Und da wohnten wir also, zwei ohne Sinn und Verstand.

Ein Niemand im Nichts, das war ich. 

Als ich einmal trotz diesem grauen Schleier, der sich langsam über mein Leben gelegt hatte, bei einer Autofahrt zu einem Scherz aufgelegt war, erklärte er mir, dass nur dicke oder sehr unattraktive Menschen lustig sein wollten, weil ihnen eben nichts anderes bliebe, als so um die Gunst ihrer Mitmenschen zu werben.

Ich hatte dermassen keinen Nerv mehr übrig für seine Theorien, dass ich aus Versehen und vielleicht auch etwas lebensmüde tief und hörbar ein- und ausatmete.

Und prompt wurde er unfassbar wütend. Er stoppte abrupt das Auto, löste meinen Sicherheitsgurt und warf mich richtiggehend aus dem Wagen, mir hinterher eine Tüte mit Einkäufen. Dann fuhr er weg.

Und ich stand da, irgendwo auf einer Strasse in Deutschland, mit einem langen Heimweg vor mir und mit Toilettenpapier und Mineralwasser, das ich selbstverständlich und wie ferngesteuert noch den ganzen Weg mit nach Hause trug.

Gefallsüchtig und dick, das wären sie dann wohl, meine beiden wunden Punkte. Schachmatt.

Staffelfinale: Nichts hält für die Ewigkeit

Leider endet dieser Text nicht mit einer Anleitung, wie man aus so einer Situation wieder rauskommt. Das weiss ich nicht.

Mein Umfeld daheim spürte, dass etwas nicht stimmte und ich brauchte all meine Energie dafür, so zu tun, als würde es sich irren. Einen Fluchtplan zu Ende denken lag da nicht auch noch drin.

Am Lüften meines Geheimnisses hinderte mich die Vorstellung, dass ich den Abgang nicht bis zu Ende schaffen könnte und dann zu ihm zurückmüsste und er wüsste, dass ich eigentlich hätte gehen wollen.

Manchmal dachte ich ganz müde: ‘Einer muss einfach sterben, dann hört alles von alleine auf.’

Das Leben hat einen Vorteil: Nichts ist für immer. Sogar wenn man selbst nicht handelt und einfach nur stillsteht, dreht sich die Welt weiter. Dinge passieren und ergeben sich und irgendwann wird vielleicht plötzlich ein zufälliger Umstand der eine Strohhalm, an den es sich zu klammern gilt.

Das Ende begann mit einem Todesfall – und einem alles verändernden Plan.

Ich hatte seine Eltern nie kennengelernt, er wollte mich ihnen nicht vorstellen, was sich im Nachhinein als Vorteil entpuppte. So traf es mich nicht, als sein Vater unerwartet starb, denn ich kannte ihn nicht. Seine Mutter wurde zur Witwe und mit diesem Umstand kam dem Sohn die abstruse Idee, dass wir jetzt sofort ein Kind haben und damit zu seiner Mutter ziehen sollten.

Mein Gesicht muss mir bei seinem Vorschlag derart entgleist sein, dass ihm direkt klar war, dass das nicht passieren würde. Niemals würde ich dieses ungesunde Umfeld für ein Kind wählen. Niemals einen Vater, vor dem ich selbst Angst hätte.

All dies öffnete mir mit einem Schlag die Augen.

Hier ist das Ende, jetzt und sofort.

«Du willst wohl lieber heim?» fragte er.

«Ja», sagte ich und spürte, dass es mein bis anhin gewichtigstes Ja war.

«Ja?» Er schaute mit hochgezogener Augenbraue zu mir.

«Ja», sagte ich nochmals, bereit mich zu ducken.

«Mir war klar, dass man sich auf eine wie dich nicht verlassen kann, wenn es hart auf hart kommt», sagte er ruhig.

Der Situation zuliebe stimmte ich ihm ein letztes Mal zu, und er gab mir eine Deadline, bis wann meine Sachen aus der Wohnung sein müssten.

Ab da lebten wir noch 30 Tage zusammen, ohne meine Sachen und ohne einen einzigen Streit. Am Tag der Abreise holte er mir Brötchen und sagte mir beim Rausgehen mit recht freundlichem Gesicht, dass ich, sobald ich diese Schwelle übertreten hätte, für ihn gestorben wäre.

Ich nickte und hoffte inständig, dass es bitte, bitte stimmen möge und die Episode der häuslichen Gewalt in meinem Leben zu Ende sei.

Und so war es. Wir hörten nie mehr ein einziges Wort voneinander.

Abspann

Nur darauf zu hoffen, dass irgendwann von aussen etwas passiert, soll aber natürlich nicht mein Tipp sein. Besser ist es sicherlich, sich frühzeitig Hilfe zu holen oder sich irgendjemandem gegenüber zu öffnen.

Ich hatte einfach Glück im Unglück und daraufhin die entscheidende Eingebung. Aber was weiss ich schon. Hinterher ist man immer schlauer.

Deshalb hier noch meine nachträglichen Einsichten fürs Notizbuch. Auf dass sie vielleicht irgendjemandem, der gerade jetzt allein Toilettenpapier auf einer einsamen Strasse nach Hause trägt, etwas nützen.

Du bist nie die einzige Person

Ich dachte lange, ich sei die einzige, die sich auf Fotos in der letzten Sekunde seitlich hinstellt, damit meine Breite weniger auffalle. Ich dachte auch lange, ich sei die einzige, die im Glauben lebt, die Schönste vom Primarschulhaus gewesen zu sein.

Oder unlängst: die einzige mit Mariske in der Unterhose. Und — wenn wir schon im Arschloch-Bereich sind — bestimmt auch die einzige, die blöd genug ist, nach einer Ohrfeige noch mit einem zusammenzuziehen.

Stimmt natürlich alles nicht.

So gern wir aussergewöhnlich wären, ein bisschen sind wir immer auch einfach Durchschnitt. Ausnahmslos alle. Und so durchschnittlich, wie wir sind, so sind es auch unsere vermeintlichen Geheimnisse.

Es gibt demnach keinen Grund, sich ganz allein damit rumzuschlagen. Drum mein Tipp (und Selbstversuch): Raus an die frische Luft mit den Unsicherheiten und wunden Punkten. Trocken und verheilt geben sie nämlich niemand Fremdem mehr die Macht, uns fernsteuern zu lassen.

Sei gut zu dir selbst

Mein Denkfehler war lange: Wenn ich das Fieseste über mich selbst denke, tut es nicht so weh, wenn’s jemand anders auch macht.

Aber eigentlich ist es umgekehrt viel besser: Je netter ich zu mir bin, umso weniger Angriffsfläche biete ich jemandem, der sich gegen mich stellt. Man fühlt sich nicht ertappt, sondern ist bereit, sich zu verteidigen.

Nimm’s nur tragisch, wenn’s tragisch ist

Ich will es nicht verspiritualisieren; schlechte Dinge sind per se schlechte Dinge. Und sie passieren. Aber bei mir hat diese Lebensepisode mindestens zwei Vorteile mit sich gebracht.

Zum einen hat mich das Abarbeiten dieser Unmöglichkeit von Mann schliesslich zu dem tollen Leben gebracht, das ich jetzt habe. Zum anderen finde ich nichts mehr wahnsinnig tragisch (ausser, etwas ist wahnsinnig tragisch). Aber nichts in meinem Leben, was nicht ebenso akut und elend ist wie der Moment mit dem zerbrochenen Weinglas am Hals, stresst mich.

Was ist schon ein im Rucksack geplatztes Joghurt. Eine Hand mit bitz Kinderkacke dran. Ein Jahr mit wenig Schlaf. Ein Mann, der nicht weiss, wo in der eigenen Küche man den Herd einschaltet. Mein Ausraster vorhin in der Migros.

Kurz blöd, aber nicht lebensbedrohlich. Nicht unmöglich zu regeln. Und diese Gelassenheit dem Leben gegenüber ist eigentlich ein recht schöner Preis für alles, was damals war.

Information

Wo finden Opfer häuslicher Gewalt Hilfe?

Bei Opferhilfe Schweiz gibt es Informationen und Links für Betroffene. Ausserdem kann man direkt nach einer nahen Opferhilfestelle suchen.

Es gibt die Möglichkeit, sich bei häuslicher Gewalt, auch bei psychischer Gewalt (Drohungen, Nötigungen) über die Opferhilfe die Therapie finanzieren zu lassen – zumindest im ersten Schritt über die Soforthilfe, später ggf. über längerfristige Hilfe.

Autorin

Olivia El Sayed ist 1981 in Winterthur geboren und schrieb in verschiedenen Funktionen in und für Radioredaktionen, Agenturen und Musiklabels. Nebenberuflich studierte sie einen Bachelor lang Sprachen mit Fokus Literatur und Philosophie. Sport kann sie nicht besonders gut, dafür Instagram: oh_olives. Sie ist die Autorin von flowery wordis und Scheidungskinderclub. Ihr erster Text bei uns war ein Artikel, für den sie lieber Haare vor dem Gesicht behält. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 25. August 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.


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Eine Antwort

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  1. Avatar von B.
    B.

    Ich finde deinen Artikel richtig schön geschrieben, hat mich gerade sehr berührt. Ich war selbst in einer ganz ähnlichen und schrecklich destruktiven Beziehung. Viele Jahre später wurde mir klar: er, dieser Mann, der so schlecht zu mir war, war Statist in einem von mir gewählten Film. Darin habe ich viel gelitten, aber auch gelernt. Den Statisten und Film konnte ich dann irgendwann austauschen, zu etwas viel besserem und schönerem, meinem heutigen Leben.