Der umgekehrte Kulturschock: Ein Teil von mir ist noch «weg»
Die eigene Welt nicht mehr so ganz verstehen: wie der umgekehrte Kulturschock die Heimkehr verzögert.
“Mami, hier sprechen ja alle Kinder schweizerdeutsch!”
Die Tochter war erstaunt, also durchaus freudig, als im Zug plötzlich alle Kinder wieder im Dialekt durcheinander lärmten. “Mm-hmm”, meinte ich. Zum Sprechen war mir nämlich gar nicht zumute. Alle würden mich ja verstehen, oder noch schlimmer: uns zuhören.
Wir sind nämlich erst seit kurzem wieder da. Sechs Monate sind wir gereist, als Familie. In Ländern, wo niemand unsere Sprache spricht, ausser der eine oder andere Schweizer Tourist – übrigens eine eigene Gattung, unverkennbar in atmungsaktiven Trekkinghosen, offenen Sandalen, funktionalen vor UV-Strahlen schützenden Langarmshirts mit Moskitoschutz und Dächlikappe – und wir deshalb mit den Kindern auch im vollen Zug über den aktuellen Status von Baby’s Darmaktivitäten sprechen konnten oder darüber, wie das Baby denn in erster Linie überhaupt entstanden ist.
Jetzt sind wir zurück, und die sprachliche Tarnkappe ist weg. Sowieso hat es mir seit der Rückkehr ein wenig die Sprache verschlagen. Mir fehlen die Worte für Dinge, die mir so wichtig geworden sind: weil es keine treffenden Übersetzungen für sie gibt. “Kindness” oder “Aloha”, beispielsweise.
Mein grosser Vorsatz, dass man in erster Linie zueinander schaut, man dem «Füreinander» höchste Priorität gibt, es fällt mir hier immer wieder durch die Rillen des Hamsterrades. Die Achtsamkeit, diese Freude an den kleinen Dingen, ich übersehe sie oft – weil gerade das Tram kommt. Oder der Kaffee. Oder das nächste Mail.
Einschub: Ich liebe die Schweiz. Wunder-wunderschön finde ich die Landschaft, die vor dem Zugfenster vorbei zieht. Die Sauberkeit, die Ordnung – sie gibt Orientierung, man fühlt sich beschützt – hier kann mir nichts passieren. Es ist ein Privileg, hier geboren zu sein, ein Glück, auf das ich nicht stolz bin sondern für das ich dankbar sein will. Und das bin ich, jeden Tag, vor allem auch dann, wenn wir eben nicht hier in der Heimat sind.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Unterwegs trafen wir Menschen mit anderen Prioritäten, die für uns manchmal kaum nachvollziehbar waren. Im schlimmsten Fall führt das zum Kulturschock, aber der ist selten, denn in der Fremde kann man das Fremde besser akzeptieren.
In Bali zum Beispiel: Ein Grossteil des Tageslohns wird ausgegeben für Opfergaben, die jede Familie zu leisten hat – weil der spirituelle Reichtum höher gewichtet wird als der monetäre. Bei den Amischen – einer Glaubensgemeinschaft in den USA – werden die Babies von vierjährigen Geschwistern gehütet. Und in Australien erzählte ein Zooangestellter, er halte sich eine giftige Huntsman-Spinne im Schlafzimmer, die ihm die Kakerlaken vom Leibe hält.
Und jetzt wieder hier. Keine Risse in den Strassen, keine Kakerlaken, die unter der Toilettenschüssel durchhuschen, und meine Tochter will ihre kleine Schwester nicht hüten, no chance.
Ob wir jetzt angekommen seien, möchten alle wissen, “eingelebt”, und wenn ich sage jein, ich noch nicht so ganz, und dann sind alle beinahe ein wenig beleidigt. Weil es ja so schön ist hier in der Schweiz, und wir es so gut haben, wie im Bilderbuch. Und ich das ja auch finde. Aber irgendwie habe ich gar keine Zeit, die einzelnen Bilder anzuschauen. Ein Super-8-Film im Zeitraffer. Jeder Tag. Tag-tag-tag-tag-tag.
Es ist ein umgekehrter Kulturschock, den ich erlebe. Mitten im fahrenden Zug, der pünktlich um 15.02 losgefahren ist, verstehe ich nur Bahnhof. Mit dem Ankommen zu Hause bin ich massiv verspätet.
Wie unschweizerisch von mir.
Warum sich das Reisen mit Kindern überhaupt lohnt, hier lesen.
Dieser Text erschien in einer ähnlichen Version ebenfalls im Reiseblick. [/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][product_category_mixed show_product_details=»true» category=»auf-reisen»][/vc_column][/vc_row]
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 22. Oktober 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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