Bisch sicher? Eine Antwort auf Andrea Jansens Schulkritik
Sind unsere öffentlichen Schulen wirklich ein Auslaufmodell, wie Andrea Jansen schreibt? Die Antwort einer Mutter, die völlig anderer Meinung ist.
Nicole Simmen mag Andrea Jansen sehr, aber manchmal sind die beiden Mütter überhaupt nicht einer Meinung. Zum Beispiel wenn es ums Thema Schule geht. Das ist Nicoles Antwort auf Andreas Kritik am Schweizer Schulsystem «Die heilige Kuh» (bitte zuerst Andreas Text lesen).
Läck Andrea,
Da hast du dich aber ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt mit deiner Kritik an der Schweizer Volksschule. Ich kann nicht anders: Ich muss die von dir geschlachtete Kuh wieder heiligsprechen. Hier und jetzt. Denn ich finde unser Schulsystem durchaus okay, dafür habe ich mit Privatschulen bisweilen meine liebe Mühe.
In der Schulkarriere meiner zwei Töchter hat sich bis heute einiges angesammelt: Insgesamt 16 Jahre an öffentlichen Schulen, bei weit über 50 Lehrpersonen. Dazu noch viermal Kopfläuse, fünf Klassenlager und bergeweise Schulunterlagen, die als Altpapier endeten. Zu Beginn ihrer Schulzeit haben meine Mädchen im Zürcher Unterland grosse Klassen besucht; mit häufig wechselnden Lehrern und viel Frontalunterricht.
Nach dem Umzug in die Zentralschweiz dann die mit dem Schulpreis ausgezeichnete Wohlfühloase: Altersdurchmischtes Lernen in kleinen Gruppen, betreut von mehreren Lehrpersonen, dazu integrative Förderung und viel Raum für Eigenverantwortung und Kreativität. Heute stürcheln sie durch die Endlosgänge der Kanti Zug. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich grosses Glück habe, weil die Schulzeit meiner Kinder bis anhin ohne grosse Probleme verlaufen ist. Dass sie sich wohlfühlen und mit all den Anforderungen umgehen können. Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich unsere öffentlichen Schulen richtig und wichtig finde.
Lernen und benotet werden: Ist diese Schule wirklich so schlimm?
Du schreibst in deinem Post, dass du in unserem Schulsystem nie wirklich glücklich warst und deinen Kindern diese Erfahrung ersparen möchtest. Da bin ich ganz bei dir! Es ist schliesslich tief in unserer Mom-DNA verankert, dass wir das Beste für unsere Kinder wollen und ihnen deshalb möglichst viele Hindernisse aus dem Weg räumen.
Aber ich kann dir versichern: In öffentlichen Schulen stehen gar nicht so usinnig viele Hindernisse herum, wie du vielleicht denkst. Obwohl die Kinder alle lernen und abliefern müssen und am Ende für ihre Leistung benotet werden. Das stört dich nämlich an der Volksschule sehr, schreibst du. Aber sägemal: Sind das nicht enorm wichtige Erfahrungen in der Entwicklung unserer Kinder?
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Ein Kind, 50 Vögel und null Verständnis.
Ganz ehrlich: Natürlich finde ich es unsäglich, wenn sich meine Jüngere das Aussehen von 50 Vögeln merken muss und den Stapel mit den Fotos eine Woche lang sogar noch beim Essen in der Hand hält. Reine Zeitverschwendung, denn dieses Wissen wird sie wahrscheinlich nie mehr brauchen.
Und trotzdem hat sie beim Lernen für diese Prüfung sehr viel profitiert. Nicht für die Schule, sondern für ihre eigene Zukunft. Sie weiss, wie sie eine Herausforderung angehen muss, die ihr auf den ersten Blick kaum zu bewältigen scheint. Sie musste ein System entwickeln, um sich Dinge innerhalb einer beschränkten Frist zu merken und sie später wieder abrufen zu können. Und am Ende hat sie eine Einschätzung bekommen, wie gut ihr das alles gelungen ist.
Kein persönlich gefärbtes Wischiwaschi, sondern eine Note auf einer Skala, die nachvollziehbar und in den meisten Fällen fair ist. Das alles hätte sie nicht gelernt, wenn sie selbst hätte entscheiden können, was sie in der Schule tun möchte. Dann hätte sie wahrscheinlich den Weg des geringsten Widerstands gewählt und sich der Wasserfarben-Gruppe angeschlossen.
Wenn die Welt nicht mehr aus Zuckerguss besteht.
Ich bin überzeugt davon, dass ich meinen Kindern keinen Gefallen tue, wenn sie eine jener Privatschulen besuchen, in denen sie tun, lassen und lernen können, was sie wollen. Denn – Achtung, jetzt kommt das Lieblingsargument von uns Volksschul-Befürwortern – irgendwann wird ihnen jemand sagen, was sie zu tun haben.
In der Oberstufe, beim Ferienjob oder nach dem Studium. Sie werden Deadlines einhalten und gute Qualität abliefern müssen. So funktionieren das Leben und die Arbeitswelt nun mal – selbst für die unabhängigen Querdenker von morgen. Wieso also soll ich meine Kinder auf einen Weg schicken, der mir realitätsfremd erscheint? Ihnen eine Zuckergusswelt nach Mass basteln, aus der sie irgendwann unsanft rausgezerrt werden?
Unsere Kinder wachsen in einer Zeit auf, in der alles möglich ist und Verbindlichkeiten immer mehr verschwinden. Sie haben Zugriff auf Unmengen an Informationen, die ganze Welt steht ihnen offen, Bildungswege sind durchlässig und entscheiden muss sich die Generation der «Jein-Sager» eigentlich nie so richtig. Die Auswahl ist so gross, dass sie zur Überforderung wird. Deshalb sind sinnvolle Guidelines, Anweisungen und Rahmen für mich heute wichtiger denn je.
Wenn es Bildung nur noch gegen (sehr viel) Geld gibt.
Ich lebe in einem Kanton, in dem jedes vierte Kind eine Privatschule besucht. Die meisten haben ähnliche Strukturen wie die öffentlichen Schulen – mit Lehrplan, fixen Lektionen und Noten. Die günstigsten kosten rund 20 000.- im Jahr, nach oben gibt’s kaum Grenzen. Ich bin überzeugt davon, dass eine Privatschule in gewissen Fällen die allerbeste Lösung ist: Wenn ein Kind in der Klasse soziale Probleme hat, bei starken Lernschwächen oder Hochbegabung. Hier stösst die Volksschule mit ihren Möglichkeiten an Grenzen.
Ein beträchtlicher Teil der Eltern greift aber aus andern Gründen tief ins Portemonnaie. Für eine Tagesstruktur, bei der sich die Schule um Unterricht, Verpflegung und Ufzgi kümmert. Und wo das Kind auch mal ausserhalb der Schulferien fehlen darf, wenn die Familie verreisen will. Die Privatschule muss regelmässig auch als Lösung herhalten, wenn es mit dem Lehrer nicht mehr giiget, die Noten nicht dort sind, wo Eltern sie gerne sähen oder der Übertritt bedroht scheint. Ob es immer die richtige Lösung ist, wage ich zu bezweifeln.
Die Zahl der Kinder an Privatschulen nimmt zu. Noch sind wir von Zuständen wie in Grossbritannien weit entfernt, wo eine Berufskarriere ohne Privatschule undenkbar ist. Ich hoffe sehr, dass Bildung bei uns nie zum elitären Gut wird, sondern immer allen Bevölkerungsschichten offen steht. Allen, die lernen und ihr Wissen abrufen wollen.
Und mit etwas Glück lernen sie zwischen zwei Mathistunden auch noch den Purzelbaum.
Dieser Text ist eine Antwort auf «Die heilige Kuh – Kritik an der Schule» von Andrea. Ebenfalls mit dem Thema alternative Schule befasst sich der Text «Schule ohne Druck: Freilernen». Zum Kommentieren auf dem Handy bitte ganz nach unten scrollen – wir freuen uns auf Kommentare!
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 14. August 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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