Am Muttertag sehe ich meine Mutter nicht
Von meiner Mutter ernte ich am Muttertag die gleichen Giftpfeile wie immer – trotz Blumen, Kuchen und handgeschriebener Karten. Also lasse ich es lieber.
Zum Muttertag bringe ich meiner Mutter keine Blumen. Es wären sowieso nicht die richtigen. Sie würde mir sagen, ihre Lieblingsblumen seien Mimosen und nicht Narzissen, aber es sei ja klar, dass ich mir das nicht merken könne. Natürlich hätte ich die aus meinem Garten gepflückt, ich wolle wohl kein Geld für ein sie ausgeben. Das sei sie mir nicht wert.
Hätte ich Tulpen gekauft, würde sie sich auch nicht bedanken, nur kritisieren, dass ich ihnen zu viel Wasser gebe. Mit einer nebensächlichen Kopfbewegung würde sie mir bedeuten, ich solle die Vase auf den Beistelltisch stellen. Und wieder würde ich ihr glauben. Ich würde tatsächlich denken, dass ich schuld bin an ihrer Unzufriedenheit.
Kuchen, Kontrolle und Beschämung
Am Muttertag kaufe ich keinen Kuchen für meine Mutter. Ich würde zwar ihr Lieblings-Mohncake aus der guten Bäckerei besorgen, müsste mir aber anhören, dass ich mir nicht mal Zeit genommen habe zum Selberbacken. Aber für meine Freundinnen, für die habe ich natürlich immer Zeit.
Das Stück Kuchen, das ich ihr abschneide, wäre viel zu viel. Sie konnte noch nie so viel essen, nicht so wie ich. Und ich sollte auch besser ein kleineres Stück nehmen.
Also das gehe sie ja eigentlich nichts an, aber diese Jeans passe mir wirklich nicht mehr, und mein Hintern sehe darin riesig aus.
Vielleicht würde sie das auch gar nicht sagen, sondern mich nur mit diesem arktischen Blick von oben nach unten mustern. Weil was fällt mir denn ein, nicht so schlank und perfekt auszusehen, wie es sich für ihre Tochter gehört.
Und täglich grüsst das Gaslighting
Zum Muttertag schreibe ich meiner Mutter keine Karte. Obwohl das natürlich das Mindeste wäre. Aber meine Mutter hat es ja schon immer gesagt, dass ich undankbar bin, nach allem, was sie für mich getan hat.
Auch war ihr schon immer klar, dass das ganze Yoga sowieso nichts bringt. Von wegen Achtsamkeit, ich sähe mich ja als Zentrum des Universums. Und sie sage mir das nur, weil sie sich um ihre Enkelkinder sorgt, die so eine so selbstverliebte Person als Vorbild haben. Ihr sei das ja egal, ich könne so sein, wie ich will.
Am Muttertag unternehme ich nichts mit meiner Mutter, lade sie nicht ins Restaurant ein. Denn die Musik wäre sowieso zu laut und das Essen zu fettig. Die Gemüsebeilage wäre zu spärlich und das Mineralwasser zu kalt, obwohl sie ja Raumtemperatur bestellt hat. Und ich hätte ihr doch sagen können, dass ich draussen reserviert habe. Dann hätte sie sich einen Schal mitnehmen können wegen der Zugluft. Sie wäre unfreundlich zur Bedienung, ich würde mich schämen und mit doppelt so viel Charme versuchen, ihre Unhöflichkeit zu übertönen.
Würde ich meinen Teller leer essen, würde sie die Augen verdrehen. Sie selbst würde nur die halbe Mahlzeit essen und verkünden, dass sie heute Abend nach diesem reichhaltigen Mittagessen nichts mehr braucht, höchstens noch ein Stück Obst.
Am Muttertag rufe ich meine Mutter nicht an. Was immer ich sage, sie würde mich nicht ausreden lassen.
Sie hört mir nie zu. Sie würde den Raum mit sich füllen, mir erzählen, wie unselbständig die eine Freundin ist, wie angewiesen auf ihre weisen Ratschläge. Und wie nervig die andere Freundin, die sie zwar um Rat bittet, aber dann doch ihren eigenen Kopf hat. Sie sei ja froh, dass sie nicht so bedürftig sei und niemandem zur Last falle. Sie erwarte nichts von mir zum Muttertag, sie möge es sowieso nicht, wenn sie im Mittelpunkt stehe.
Ich solle dankbar sein, dass sie meine Hilfe kaum in Anspruch nimmt, da gäbe es ganz andere Mütter. Sie sei gerne allein, sie habe überhaupt kein Problem damit, im Gegenteil, sie wolle nur ihre Ruhe.
Am Muttertag sehe ich meine Mutter nicht. Denn sie sieht mich nicht mal, wenn ich in Tränen aufgelöst vor ihr stehe.
Sie hat mich nie als die gesehen, die ich bin. Nur als die Version, die sie haben wollte.
Ich war ihre hübsche Tochter, die alle lobten – ein Accessoire, mit dem sie sich schmückte.
Heute bin ich eine Enttäuschung, obwohl sie so viel für mich getan hat. Alles, was sie sich hart erarbeiten musste, wurde mir geradezu in den Schoss gekippt. Aber für mich ist ja alles immer selbstverständlich, weil ich eine verwöhnte Prinzessin bin. Und daran ist nur mein Vater schuld, der mir immer alles durchgelassen hat.
Am Muttertag sehe ich meine Mutter nicht, genauso wenig wie an allen anderen Tagen. Jede Aufmerksamkeit und jedes Kompliment würde sie nur als Heuchelei abtun.
Kein Geschenk oder Besuch könnte den Verrat relativieren, den ich an ihr begangen habe, indem ich mich nach 35 Jahren endlich emanzipiert und eine eigenständige Person geworden bin.
Ich habe meine Mutter verloren, obwohl sie noch lebt
Am Muttertag bin ich traurig. Ich habe keine Mutter mehr, obwohl sie mit ihren gut 70 Jahren noch mitten im Leben steht, mich aber aus ihrem Leben verbannt hat. Sie würde natürlich sagen, ihre Tochter hätte sie verlassen, weil sie so egoistisch sei und immer nur an sich und ihre Kernfamilie denke.
Muttertag oder nicht, ich werde immer traurig sein.
Ich wünschte, ich wäre nicht gezwungen gewesen, meine Mutter zurückzulassen. Aber meine neu gewonnene Freiheit würde ich um keinen Preis dieser Welt wieder zurückgeben, auch nicht für meine eigene Mutter. Weil ich weiss, dass kein Preis dieser Welt hoch genug für sie wäre.
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Veröffentlicht am 10. Mai 2024
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