«Ich fühle mich oft allein mit meinen Existenzängsten»
Armut ist weit verbreitet in der Schweiz und trotzdem unsichtbar. Wie fühlt sich das Leben am Existenzminimum an und was hilft gegen die Isolation? Ein Erfahrungsbericht.
Etwas verloren stehe ich zwischen den Kleiderständern, umgeben von Menschen, die mit vollen Händen durch die Gänge ziehen, auf der Suche nach dem nächsten Kauf, den sie nicht wirklich brauchen. Heimlich streiche ich über Shirts und Kleider, nicke der Verkäuferin zu, als könnte ich mir alles leisten.
Doch in Gedanken gehe ich mein Budget durch, abwägend, ob die neue Hose für die Tochter oder die Regenjacke für den Sohn dringlicher ist.
Es ist das ständige Abwägen und Einschätzen der Notwendigkeit essenzieller materieller Dinge, das ermüdet.
Es fühlt sich an, als würden mein Herz und mein Verstand unaufhörlich miteinander ringen.
Mein Herz sorgt sich um die Kinder, die auf wichtige Dinge verzichten müssen, während mein Verstand nüchtern abwägt, was tatsächlich benötigt wird.
Armut ist omnipräsent und zugleich versteckt.
Ich bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Mutter war alleinerziehend, Expertin im Budgetieren. Das Verzichten sowie das Einschätzen, was wirklich notwendig ist, kenne ich seit meiner Kindheit. Trotzdem dachte ich als Kind immer, dass ich später als Erwachsene sorgenfrei leben würde.
Mein Umfeld war finanziell bessergestellt und mir war als Kind nicht bewusst, dass mein Leben nicht so verlaufen würde wie das der anderen. Dass ich nichts erben würde, keine teure Ausbildung finanziert bekäme, dass ich irgendwann im Überlebensmodus landen würde. All dies kam mir nicht in den Sinn, weil so etwas keine sichtbare Option war.
Heute fühle ich mich oft allein mit meinen Existenzängsten. Armut in der Schweiz ist ein unterschätztes Thema, über das kaum jemand spricht.
Dennoch sind Diskussionen unter Eltern über die Kostenbeiträge für den kommenden Schulausflug ihrer Kinder oder die finanzielle Unterstützung für das Schulfest durchaus üblich. Für manche ist es ein ärgerlicher Betrag, für andere reisst es ein grosses Loch in die Haushaltskasse, mit der man Grundbedürfnisse deckt.
Aus Scham bevorzuge ich es oft, auf die Ersparnisse meiner Kinder zurückzugreifen, um die besagte Lücke zu verbergen – mit einem furchtbar schlechten Gewissen.
Die wachsenden Lebenshaltungskosten zwingen selbst die Wohlhabenden zum Sparen und stossen die finanziell Schwachen in die Isolation. Wenn ich meine Kinder beispielsweise an einem Nachmittag wählen lassen muss zwischen einem Eis und dem Eintritt ins Schwimmbad, der mich dank meiner Kulturlegi nur die Hälfte kostet, fühle ich ein Kribbeln in der Brust.
Es ist ein Gefühl der Hilflosigkeit, wenn beide Optionen gleichermassen falsch erscheinen. Als hätte ich mich für eine überteuerte Luxusreise entschieden, wobei das Eis dem kostbaren Champagner gleichkäme.
Wie kann ich das Gefühl der Isolation reduzieren?
Die Isolation von Armutsbetroffenen wird im sozialen Leben besonders deutlich. Um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, benötigt man ein gewisses Budget. Andernfalls bleibt man eine stille Beobachterin am Rande des Geschehens, sitzt zu Hause und fühlt sich ausgeschlossen.
Meine Therapeutin riet mir, den Kontakt zu Menschen zu suchen, die ebenfalls mit dem Existenzminimum auskommen müssen. Dies würde mir das Gefühl von Unterstützung geben und die Einsamkeit in dieser Hinsicht mindern.
Ich bin nur eine von vielen in der Schweiz – einem Land, das als sicher und wohlhabend gilt, wo sich aber viele täglich in einem Überlebenskampf befinden.
Obwohl viele Menschen ähnliche Erfahrungen machen wie ich, fühlt es sich an, als würde ich eine Nadel im Heuhaufen suchen, wenn ich nach Gleichgesinnten suche. Das liegt vermutlich daran, dass Armut oft mit Scham verbunden ist.
Eine Bewältigungsstrategie, die mir schon in meiner Kindheit beigebracht wurde, ist der Vergleich mit den Lebensumständen in Entwicklungsländern. Natürlich ist die Armut hierzulande nicht mit der Not dort vergleichbar. Dieser Perspektivenwechsel hilft mir, mit dem Verzicht umzugehen.
Trotzdem hadere ich natürlich. Der Wunsch dazuzugehören, steckt in jedem von uns.
Besonders Kinder sollten nicht unter dieser sozialen Ungleichheit leiden müssen. Es sollte Möglichkeiten geben, dass finanzielle Grundlagen kein Hindernis für die Teilnahme am sozialen Leben darstellen. Dafür ist ein wirtschaftliches Umdenken erforderlich, das die menschlichen Grundbedürfnisse und den Wunsch nach Zugehörigkeit in den Vordergrund stellt.
Wie schön wäre es, wenn sich die Gedanken nicht nur ums Geld drehen!
Es sollte für uns Eltern normal sein, morgens aufzuwachen und den Tag so zu gestalten, dass ein Gleichgewicht zwischen den notwendigen Pflichten und den gewünschten Lebensmomenten besteht, ohne dass dies ständig durch finanzielle Sorgen beeinträchtigt wird.
Neben der intensiven Care-Arbeit ist auch die Suche nach preiswerten Waren eine Herausforderung. Glücklicherweise gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Kosten zu sparen. Manchmal lassen sich online fast geschenkte Möbel, Kleidung und Spielzeug finden. Aber der Erwerb von preiswerten Produkten ist oft mit erheblichem Aufwand verbunden. Ohne Auto, intensiven Austausch mit der Verkaufsperson oder der Organisation von Reparaturen ist es nur bedingt einfach, Neues zu beschaffen.
Wenn ich einen Wunsch frei hätte …
Ich wünsche mir ein gesellschaftliches Umdenken. Das die Notwendigkeit erkennt, den Alltag für Familien sorgenfreier zu gestalten.
Wie oft habe ich schon Bücher gelesen, dass es mit dem richtigen Mindset möglich ist, die Erfolgsleiter aufzusteigen. «Tue diese drei Dinge, um erfolgreich zu sein.» Solche vermeintlichen Ermutigungen fördern meiner Ansicht nach das Gefühl des Versagens, weil man es eben ohne die entsprechenden Lebensgrundlagen nicht so einfach von der Tellerwäscherin zur Millionärin schafft.
Hin und wieder schleichen sie sich in meine Tagträume oder besuchen mich, wenn ich zwischen den Kleiderständern stehe: die Schuldgefühle.
Dann male ich mir aus, welche bedachteren Entscheidungen jene um mich herum gemacht haben, um sich nicht in der permanenten Entscheidungsfalle zu befinden, die meinen Alltag prägt.
Und dann, wenn ich innehalte, fühle ich Dankbarkeit. Ich fühle die Stärke, die durch jede gemeisterte Hürde gewachsen ist. Das Bewusstsein wächst, mich auf die Dinge zu konzentrieren, die bereits in mir angelegt sind und kein Geld der Welt ersetzen können: Meine Kreativität und vor allem meine Wertschätzung für die einfachen Freuden des Lebens.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 5. Dezember 2024
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.