«Gibt es überhaupt ein Christkind?» – das Ende der Täuschung
Mit goldenem Lidschatten und schlechtem Gewissen malt unsere Autorin Christkind-Fussabdrücke auf den Boden. Wie viel Flunkerei ist erlaubt, um Kinder den Zauber von Weihnachten erleben zu lassen? Und was, wenn sie dahinterkommen?

Traditionen sind etwas Schönes, da sind wir uns bestimmt einig. So war auch mir klar, wenngleich ich mir geschworen hatte, meinen Kindern gegenüber immer ehrlich zu sein, dass bei uns der Samichlaus, das Christkind und der Osterhase ihre Magie spielen lassen würden. Denn zu einer glücklichen Kindheit gehört es, zwischen Alltag und Träumerei eine gesunde Balance zu finden.
Ich log meinem Sohn die Hucke voll – in bester und liebevollster Absicht natürlich.
Mit der Geburt unseres ersten Kindes konnten wir also beginnen, unsere eigenen Festtagsbräuche zu gestalten. Und so log ich meinem damals vier Monate alten Sohn, für den dieser erste Heiligabend genauso gut Passahfest, Nationalfeiertag oder ein x-beliebiger Wintertag hätte sein können, die Hucke voll – in bester und liebevollster Absicht natürlich.
Auch an Ostern kochte und färbte ich nun Jahr für Jahr des Nachts Eier, die ich mit einer Taschenlampe ums Haus schleichend in kalten Frühlingsnächten versteckte. Es verging auch kein Advent ohne einen Besuch vom oder beim Samichlaus, der in meinen Erzählungen ein Ehrenmann war, der aus blosser Bewunderung für den Bischof Nikolaus sein ganzes Leben in einem Waldhaus zubrachte, und sein Dasein gänzlich der Aufgabe widmete, die Menschen im Dezember zu erfreuen.
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Youtube-Glöckchen und geheimes Geschenkpapier
Mit jedem Jahr wurden wir professioneller. Damit das Glöckchen des Christkinds fremd und doch immer gleich klang, spielten wir eines von Youtube ab. Das Papier, in welches wir die Geschenke einpackten, hielten wir unter Verschluss, als wäre es gestohlenes Diebesgut, damit es sicher nicht versehentlich für das Verpacken der Kinderweihnachtsbasteleien wieder hervorgeholt wurde. Und wenn sich andere Erwachsene in Anwesenheit unserer Kinder verplapperten, liessen wir sie mit Schienbeintritten und Blicken so scharf wie Giftpfeilen sofort verstummen.
Eine weitere – noch dazu ganzjährig aktuelle – Inszenierung hätte unser Gewissen und unsere Organisationsfähigkeit überstrapaziert.
Einzig die Zahnfee haben wir nie etabliert. Eine weitere – noch dazu ganzjährig aktuelle – Inszenierung hätte unser Gewissen und unsere Organisationsfähigkeit überstrapaziert.
Goldene Babyfüsschen – mein ethischer Tiefpunkt
Meinen ethischen Tiefpunkt habe ich erreicht, als ich, während meine Kinder in ihren Zimmern auf das Christkind warteten, mit goldenem Crème-Lidschatten kleine Babyfussabdrücke auf den Boden rund um den Weihnachtsbaum gemalt habe. Ich fühlte mich mies dabei, meine Christkind-Schwindeleien auf so durchtriebene Weise zu untermauern, und gleichzeitig wähnte ich mich sicherer und war erleichtert.
Erleichtert, wie ein Verbrecher, der ein wasserdichtes Alibi gefunden hat.
Erleichtert, wie ein Verbrecher, der ein wasserdichtes Alibi gefunden hat. Der wasserfeste Lidschatten, der beweisen sollte, dass das Christkind auf goldenen Füsschen da gewesen sei, um Geschenke unter den Baum zu legen, würde bei den Kindern aufkeimende Zweifel an der Existenz dieser Figur für mindestens weitere 365 Tage zurückdrängen.
Natürlich, je grösser die älteren Geschwister wurden, umso mehr durchschauten sie die Konstrukte aus Fantasie, Lüge und Tradition, die wir über die Jahre aufgebaut hatten. Doch sie schwiegen, zwinkerten uns zu, und schoben die kleineren Geschwister kooperativ in den oberen Stock, wenn es nach dem Weihnachtsessen bald Zeit für die Bescherung wurde, wo sie sie mit Geschichten und Spielen davon abhielten, uns bei den eiligen Vorbereitungen zu ertappen.
Ein Moment der Enttäuschung – und der Erleichterung
Nach 16 Jahren des Geflunkers und Versteckspiels war es soweit, dass unsere Jüngste, damals acht Jahre alt, mir die gefürchtete Frage stellte, die das Ende des Truges bedeutete. «Gibt es überhaupt ein Christkind?», fragte sie mit bebender Stimme. Ich erklärte ihr, dass es zwar das Jesuskind gebe als geistiges Wesen, aber dieses nicht mit Geld ins Kaufhaus gehe, um die Geschenke zu besorgen, weshalb wir Eltern dies übernähmen. Und dass die Geburt des Jesuskindes den Zauber über diese Tage lege.
Mir tat es leid, und doch war ich froh, dass jetzt alle eingeweiht waren.
Eine vage Erklärung, die Raum lässt für Interpretation. Es leuchtete ihr ein, und doch, glaube ich, zerbrach etwas in ihr. «Und der Osterhase, den gibt es auch nicht?», fragte sie tapfer und bereit, den Tatsachen ins Auge zu schauen. Ich sah sie schuldbewusst an, «… das ist eine ganz alte Tradition…», hob ich an – sie hatte verstanden. Diese Enttäuschung musste sie erst einmal verdauen. Mir tat es leid, und doch war ich froh, dass jetzt alle eingeweiht waren. Die Bräuche würden wir fortführen, aber nun wüssten alle gleich viel darüber.
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Plot Twist: Das Osternest für die Eltern
Nur vier Monate später, nachdem ich am Ostermorgen nach einer langen Nacht des Eierfärbens und Versteckens aufgestanden war, stand meine Jüngste aufgeregt vor mir. «Ich glaube, der Osterhase hat etwas für dich versteckt», sagte sie strahlend. Tatsächlich hatte sie bereits Wochen zuvor heimlich von ihrem Taschengeld mit ihrem Papa Osterhasen und Schokoeier gekauft für uns Eltern. Und dann hat sie ebenso im Verborgenen ein Osternest für uns gebastelt und am frühen Morgen versteckt.
Ja, so geht das Zepter der Lügenbarone weiter an die nächste Generation, und ich kann endlich aufatmen.
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Veröffentlicht am 20. November 2025
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