In meiner Beziehung stimmt etwas nicht. Ist das Narzissmus?
Am Anfang war alles wunderbar. Und jetzt denkt man manchmal «spinne ich?» Narzisst:innen können ihre Opfer destabilisieren und isolieren. Betroffene berichten.
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Ein milder Abend, ein Paar auf dem Heimweg.
Sie: «Das war ein schönes Gartenfest!»
Er: «Aha. Findest du echt?»
Sie: «Was meinst du? Du hast doch auch ganz fröhlich gewirkt.»
Er: «Ich wollte es nicht noch schlimmer machen.»
Sie: «Was denn?»
Er: «Du hast dich recht unangemessen aufgeführt.»
Sie: «Häh?»
Er: «Ich denke, es wäre besser, wenn du dich etwas mehr zurückhältst. Nicht so laut bist und nicht so überschwänglich. Hast du nicht gemerkt, dass alle Blicke ausgetauscht haben? Ich nehme an, deine Freunde sind nicht ehrlich zu dir, dass dir das noch niemand gesagt hat.»
Ein milder Abend, ein Paar auf dem Heimweg.
Sie ist am Boden zerstört – er ist höchst zufrieden.
Ihm ist in einem kurzen Gespräch etwas Grosses gelungen: Er hat sie verunsichert, an ihrem ganzen Wesen und Auftreten zweifeln lassen. Und auch noch ihr Vertrauen in die Freunde erschüttert, das Verhältnis getrübt.
Natürlich hat sie sich nicht unangemessen aufgeführt. Natürlich hat niemand Blicke ausgetauscht. Aber das weiss sie nicht. Und ihr kommt nicht in den Sinn, dass ihr Partner das nur erfunden hat, um sie zu manipulieren und zunehmend von ihren Freunden abzuschotten.
Manche mögen sich jetzt fragen: Wie kann man so mit einer geliebten Person umgehen? Andere lesen die Szene und nicken.
Zum Beispiel Silvia, Mira, Karin und Julian (alle Namen geändert). Sie kennen solche Ereignisse und wissen nur zu gut, wie Narzissmus funktioniert. Denn sie sind oder waren mit krankhaft narzisstischen Personen zusammen.
Erniedrigen, destabilisieren, isolieren – darauf zielen Narzisst:innen ab
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«Du bist einfach ein Traummann! Ich wünsche mir so sehr, dass wir heiraten!» – «Dich heiraten? Wann soll ich das denn gesagt haben, im Schlaf? Das wäre dann wohl ein Albtraum gewesen.»
Zwischen diesen zwei Aussagen liegt ein Tag. 24 Stunden, in denen nichts Besonderes passiert ist, kein Streit, nicht mal eine Diskussion. Aber irgendwas muss doch der Grund sein für den abrupten Meinungswechsel? Julian zermartert sich das Hirn, was er falsch gemacht hat. Er kommt nicht drauf – auch in vielen folgenden Situationen nicht.
Seit zwei Jahren ist er mit dieser Frau liiert, die er anfangs einfach für sehr temperamentvoll hielt, und versucht deren irrationales Verhalten zu entschlüsseln.
Es wird ihm nicht gelingen, sie ist eine Narzisstin.
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Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Narzissmus ist nicht per se schlimm
Kleine Narzist:innen sind wir fast alle, bis zu einem gewissen Grad ist Selbstbezogenheit nützlich. Der Unterschied zwischen gesundem und pathologischem Narzissmus liegt hauptsächlich in der Intensität des Verhaltens.
Eine Häufung und grosse Intensität dieser Kriterien kann auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hinweisen:
- übertriebenes Gefühl der persönlichen Bedeutung und Talente (Grandiosität)
- Phantasien von grenzenlosen Erfolgen, von Einfluss, Macht, Intelligenz, Schönheit, idealer Liebe
- Glaube daran, speziell und einzigartig zu sein – und deshalb der Anspruch, sich nur mit Menschen auf höchstem Niveau abzugeben
- Wunsch nach bedingungsloser Bewunderung – und deshalb unfähig, Kritik anzunehmen
- Anspruch, dass andere einen bevorzugt behandeln und einem Wünsche erfüllen
- Manipulation anderer, um die eigenen Ziele zu erreichen
- Mangel an Empathie
- Neid auf andere und der Glaube, dass andere einen beneiden
- Überheblichkeit und Arroganz
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Menschen mit krankhaftem Narzissmus haben Mühe mit der Selbstwertregulierung. Ausbalanciertes Selbstbewusstsein, ein Gefühl der Verlässlichkeit sich selber gegenüber, auf andere eingehen zu können, ohne sich dabei zu verlieren – solche Dinge sind für sie fast nicht zu meistern.
Als Schutzmassnahme verfallen sie in Selbstüberschätzung bis zum Grössenwahn, kreisen ständig um die eigene Person, neigen zu Risikoverhalten, Rechthaberei, Allmachtansprüchen.
Wer unter krankhaftem Narzissmus leidet, ist total instabil
Diese innere Zerrüttung projizieren Narzisst:innen auf andere. Und versuchen, ihren hilflosen Gemütszustand im Gegenüber zu spiegeln, mittels Manipulation, Erniedrigung, Destabilisierung.
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Silvia war 30 Jahre mit einem ausgewachsenen Narzissten zusammen – und erkannte den Narzissmus sehr lange nicht. Ihr Mann log Unglaubliches zusammen, interpretierte ganze Lebensabschnitte um, behauptete am einen Tag dieses, am anderen das Gegenteil.
«Ich will unser Haus verkaufen.» – «Was? Von einem Hausverkauf war nie die Rede!»
Die geschilderten Begebenheiten wirken als Einzelfälle nicht dramatisch, es kommt ja in jeder Beziehung zu Uneinigkeiten oder Missverständnissen, manchmal auch zu gemeinen Worten. Das Perfide am Vorgehen von Narzisst:innen: Sie betreiben eine schwer durchschaubare Destabilisierung. Denn wenn solche Dinge ständig passieren, verliert man den Glauben an die eigene Wahrnehmung.
Silvia sagt: «Irgendwann begann ich, Dinge aufzuschreiben, damit ich Beweise hatte. Aber dann sagte er, ich hätte alles falsch notiert.» Sogar Tonaufnahmen halfen nichts, wurden ignoriert. Narzisst:innen können auch nach Videoaufnahmen behaupten, sie hätten das Gesagte ganz anders gemeint – und man sei dumm, wenn man dies nicht kapiere.
Wie hilflos muss man sich fühlen, um Gespräche mit dem Lebenspartner aufzuzeichnen? Und wie verzweifelt, wenn sogar das nichts nützt?
Wer mit Narzissmus in Kontakt kommt, denkt bald mal: «Spinne ich?»
Das fragte sich auch Mira, wenn ihr Partner mal wieder alles zuvor Gesagte leugnete. «Ein normaler Mensch, zu Selbstreflexion fähig, beginnt zu zweifeln, sich zu hinterfragen», sagt sie. Oft sucht man den Fehler bei sich – auch weil der andere vehement die Schuld von sich weist.
Denn: Narzissmus und wahrhaftig Fehler zugeben? Unmöglich. Sogar wenn es nach einer Entschuldigung klingt, ist es oft keine. «Es tut mir sehr leid, dass du mich einfach nicht verstehen kannst», sagt Julians Partnerin gerne. Zack – Schuld jemand anderem zuschieben. Und er hinterfragt sich dann sofort wieder.
Genau das wollen Narzisst:innen – so viel Verunsicherung stiften, dass das Gegenüber handlungsunfähig wird.
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«Ich war lange nur noch damit beschäftigt, mir Strategien zu überlegen, wie ich meinen Mann möglichst zufriedenstelle», sagt Silvia. Nur: Was heute richtig ist, kann morgen total verkehrt sein, und für Silvias Mann reichten Kleinigkeiten wie der Kauf von Rindsbouillon statt Gemüsebouillon für einen Zusammenschiss. Sie könne nicht sparen, schimpfte er – der sich gerade ein teures Auto geleistet hatte.
Kann man sich nicht einfach trennen? Nein.
Ein Grund, weshalb es Opfern von Narzisst:innen schwerfällt, sich zu lösen: Sie sind entkräftet von der ständigen Suche nach dem richtigen Verhalten, von den fruchtlosen Rechtfertigungsversuchen gegenüber dem Aggressor.
Karin selber hat es nach Jahren geschafft, sich von einem Narzissten scheiden zu lassen. Den gemeinsamen Sohn versucht sie von den Manipulationsversuchen des Vaters abzuschirmen, «aber ich kann ihn nicht ganz vor seelischen Misshandlungen schützen, das macht mich kaputt».
Dass sie überhaupt so eine Macht entwickeln können, verdanken Menschen mit krankhaftem Narzissmus ihrer ausserordentlichen Manipulationsfähigkeit. Erst verführen sie ihre Objekte der Begierde mit allen Mitteln der Kunst, nebeln sie mit Aufmerksamkeit und Zuneigung quasi ein. Der französische Psychoanalytiker Paul-Claude Racamier nennt den Vorgang «Enthirnung». Andere nennen es Love Bombing.
Silvia, Mira und Karin sagen, ihr Narzisst könne unwiderstehlich wirken: «der charmanteste Mann, den es gibt», «nach aussen ein super Typ», «alle Frauen himmeln ihn an». Und Julian dachte beim ersten Date: «Diese Frau ist der Jackpot.»
Die ersten Tage und Wochen sind fast zu schön, um wahr zu sein. Wunderschön, deshalb schiebt man ein ungutes Gefühl beiseite.
Wenn dann der Angriff folgt, mit boshaften Äusserungen, Verweigerung von Kommunikation, Wertschätzung und so weiter, gerät das Gegenüber erst mal in eine Art Schockzustand und Verteidigungshaltung. Es versucht, den plötzlichen Wandel zu ergründen, und verliert nach und nach den Boden unter den Füssen.
Weil die Narzisst:innen so gewieft vorgehen, kann es wirklich alle treffen.
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Silvia, Mira, Karin und Julian waren weder naiv noch labil, als sie ihre Partner kennenlernten. Aber sie erlagen dem Charme und der Liebenswürdigkeit.
Und wenn sie sich trennen wollten, kam die Verführungskunst wieder zum Einsatz, wundervolle Worte und Gesten.
«Ich bin eine eigenständige, realistische Person», sagt Mira, die sechs Jahre mit einem Narzissten zusammen war. Aber auch sie hörte immer wieder auf seine Besserungsbeteuerungen. «Er log wie wild – so übersteigert, wie es einem normalen Menschen gar nicht in den Sinn käme. Deshalb glaubt man es.»
Irgendwann suchen viele Betroffene nach Hilfe, etwa bei Freunden. Dann erhalten sie oft wohlmeinende Ratschläge. «Leg doch nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage.» «Es braucht immer zwei.»
Die Ungläubigkeit des Umfelds belastet zusätzlich.
Karin rief einmal während einer heftigen verbalen Attacke die Polizei. «Ich war hochschwanger, ertrug sein Geschrei, seine Bosheiten nicht mehr.» Was machte ihr Partner? Er wurde sofort ruhig, setzte sich mit einer Flasche Wein in den Garten und wartete auf die Polizisten. Die sahen eine aufgelöste Schwangere und einen entspannten Mann und dachten, da seien ein paar Hormone durchgegangen.
Eine weitere Demütigung.
Zerpflückt durch die Angriffe und zerfressen von Selbstzweifeln, fehlt den Opfern von Narzisst:innen oft die Energie, auch noch gegen die Ungläubigkeit des Umfeldes anzukämpfen. «Ich habe die meisten gemeinsamen Freunde verloren. Keiner glaubt mir, dass dieser nach aussen grossartige Mann so abwertend und böse sein kann», sagt Silvia.
Umso wichtiger ist der Austausch unter Betroffenen. In Selbsthilfegruppen erfahren viele erstmals, dass sie nicht allein sind mit ihrer Geschichte.
Dass nicht sie das Problem sind.
Wir haben eine Episode des #malehrlich-Podcasts zu diesem Thema: Opfer von Narzissmus: Wie passiert das und wie komme ich frei?
Stellen für Betroffene:
- Selbsthilfegruppen Schweiz: selbsthilfeschweiz.ch
- Frauenhäuser Schweiz: frauenhaeuser.ch
- Verein Opfer von Narzissten: co-narzissmus.com
Disclosure: Eine frühere Version dieses Artikels erschien in der Zürichsee-Zeitung sowie in Zentralschweiz/Ostschweiz am Sonntag.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 4. Mai 2022 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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