Bin ich eine Psychopathin? Ich habe Angst, mein Kind zu verletzen
Emanuela hat Gedanken, die sie erschrecken: Sie überlegt, wie leicht sie ihrem Baby weh tun könnte oder wie es wäre, wenn es vom Balkon fällt. Psychotherapeutin Felizitas Ambauen hat eine beruhigende Erklärung für solche Gedanken – die übrigens fast alle Mütter kennen.
Seit drei Monaten sind wir Eltern einer wunderbaren Tochter. Wir haben uns sehnlichst ein Kind gewünscht und könnten nicht glücklicher sein. Doch seit ein paar Wochen beschleichen mich immer wieder schreckliche Gedanken! Aus dem Nichts kommt mir die Idee, dass ich meinem Kind etwas antun könnte. Halte ich ein Küchenmesser in der Hand, denke ich: Es wäre so leicht, meinem Kind jetzt damit weh zu tun! Wenn ich auf dem Balkon im 4. Stock stehe, überlege ich, wie es sich anhören würde, wenn ich mein Kind über die Brüstung werfe und es am Boden aufknallt.
Es sind schlimme, schlimme Gedanken und ich habe bisher mit niemandem darüber geredet, da ich mich sehr schäme! Ich würde meiner Kleinen niemals etwas antun, nur schon der Gedanke lässt mir das Blut in den Adern gefrieren und doch komme ich von diesen Gedanken nicht los! Ich fühle mich so schuldig. Bin ich psychisch gestört?
Emanuela, 41 Jahre alt
Liebe Emanuela,
Gut, dass Du schreibst! Und schon mal vorab: Du bist damit nicht allein.
Viele junge Mütter kennen solche schrecklichen Ideen und leiden sehr darunter. Sie wollen dem Kind keinen Schaden zuzufügen, und doch bringt ihr Kopf dieses Szenario immer wieder.
Was Du beschreibst, sind sogenannte Zwangsgedanken. Gedanken, die einen immer wieder überfallen, obwohl man sie ablehnt und loswerden möchte. Schnell denkt man, man leide deshalb an einer psychischen Störung – vor allem, wenn man Dr. Google fragt.
Zwangsgedanken kennen aber fast alle.
Die meisten von uns schaffen es jedoch, sich wieder davon zu lösen und ihnen wenig Gewicht zu geben. Deshalb leiden diese Menschen nicht weiter darunter und können von ihnen Abstand nehmen. Die Gedanken verschwinden wieder.
Zwangsgedanken haben mit Angst und Unsicherheit zu tun.
In Situationen, die neu sind und die einen (über-)fordern, haben sie besonders guten Nährboden, da man verunsichert ist. Mach ich alles richtig? Kann ich meinem Kind schaden? Fläschchen? Stillen? Familienbett? Bio-Gemüse? Bin ich eine gute Mutter?
War man vorher schon ein vorsichtiger und ängstlicher Mensch, wollte nichts falsch machen und scheute Bestrafung und Verurteilung von anderen, kann dies das Auftreten von Zwangsgedanken noch mehr begünstigen.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Wir haben Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Meistens sind es allerdings gar nicht die Gedanken selbst, die so schwer zu ertragen sind, sondern die damit verbundenen Gefühle wie Schuld oder Scham. Diese rauben einem eher den Schlaf, da es Gefühle sind, die vor allem Frauen mit kleinen Kindern schnell mit dem Bild einer „schlechten Mutter“ verknüpfen.
Das Gemeine ist: Zwangsgedanken werden stärker, wenn man sie für sich behält, sich für sie schämt und darüber grübelt. Sie werden zum rosaroten Elefanten, an den man nicht denken will. (Versucht’s mal!) Will man sie verdrängen oder verleugnen, ist es fast wie mit einer Boje, die man unter Wasser drückt: Es braucht unglaublich viel Energie und irgendwann ploppt sie sowieso nach oben.
Zwangsgedanken gehen am ehesten weg, wenn man sie einfach kommen lässt, zur Kenntnis nimmt und wieder ziehen lässt. I know: Leichter gesagt, als getan, aber es funktioniert!
Es gibt sogar eine evolutionäre Erklärung für Zwangsgedanken bei Müttern mit kleinen Säuglingen:
Die Zwangsgedanken sorgen dafür, dass man umso besser auf das Kind schaut!
Wie jetzt?! In dem Moment, wo Du fürchtest, Du könntest Dein Kind über den Balkon werfen, machst Du vielleicht instinktiv einen Schritt zurück oder gehst wieder in die Wohnung. Einen Schritt Richtung Sicherheit für das Kind also. Oder Du schaust, dass das Kind ganz sicher nicht an das Messer heran kommt und legst es sorgfältig weg.
Insofern kann man auch argumentieren, dass Zwangsgedanken eine hilfreiche Schutzfunktion haben. (Das wäre übrigens ein gutes Argument, dass Du den Stimmen in Deinem Kopf vortragen könntest, wenn sie wieder mit Schuld und Scham kommen.)
Aus der Ferne ist es für mich allerdings schwer abzuschätzen, ob es sich bei Dir um einzelne Zwangsgedanken handelt, von denen man ausgehen kann, dass sie bald von alleine verschwinden. Oder ob es eine komplexere Sache ist, welche sich zu einer psychischen Störung entwickeln kann. Das müsstest Du mit einer Fachperson besprechen. Falls Du dahingehend Infos brauchst, melde Dich bei mir.
Lieben Gruss
Feli
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 11. Dezember 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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