Interview zu ADHS
«Manche Kinder schaffen das Morgenritual in 20 Minuten – meins nicht»
Markus Tschannen hat ein Buch über den Alltag als neurodiverse Familie geschrieben. Sein ältestes Kind und er haben ADHS. Im Interview spricht der Autor und me:Kolumnist über den Weg zur Diagnose, das Reizthema Medikation – aber auch über Morgenstress und Frustration.

Markus, du bist soeben zum dritten Mal Vater geworden. Wie läuft es bisher?
Ich muss ziemlich viel wieder neu lernen. Das letzte Kind ist sechs Jahre her, und ich stehe jetzt hier am Wickeltisch und schaue nochmals, wie das geht. Aber es läuft alles ganz gut. Wobei «läuft» vielleicht das falsche Wort ist, wenn man das Kind herumträgt und alles im Haushalt mit nur einer Hand machen muss. Aber wir haben beim dritten Kind doch recht gute Übung.
Du hast in der gleichen Zeit auch dein Buch geschrieben. War das geplant, diese beiden «Babys» so eng aufeinander zu haben?
Nein, das war nicht geplant. Christian Lindner, der ehemalige deutsche Finanzminister, hat gesagt, im Vaterschaftsurlaub schreibe er ein Buch – er hat ziemlich viel Kritik dafür eingesteckt. Darum möchte ich hier betonen: Ich habe das Buch vorher geschrieben, während der Schwangerschaft, nicht im Vaterschaftsurlaub.

Keine Zeit oder zu müde zum Lesen? 😉 Dann hör dir hier das ausführliche Gespräch mit Markkus Tschannen als Podcast-Folge an 🎧.
Über ADHS ist ja im Moment überall zu lesen. Wie kommst du dazu, genau in diesem Moment, ein Buch darüber zu schreiben?
Das macht mir jetzt ein schlechtes Gewissen (lacht). Ich fühle mich schon ein bisschen als Mainstream-Sau. Aber ja, auf dieses Thema kommt man, indem man betroffen ist. Und wenn, wie bei uns, sogar ein Kind und jemand von den Eltern betroffen ist, dann hat das im Alltag einfach sehr viel Einfluss. Was mir wichtig ist: dass man über das Thema spricht. Jüngere Generationen gehen sehr transparent mit ADHS um, aber es gibt Generationen für die ADHS immer noch ein Tabu ist.
Hast du das Buch mit deiner Familie abgesprochen? Man ist ja sehr nah dran, zum Teil mit am Familientisch. Und man ist dabei, wenn du die Nerven verlierst.
Inzwischen haben wir Erfahrung, weil ich seit rund zwölf Jahren in Kolumnen über Familienthemen schreibe und dort relativ offen mit privaten Details umgehe. Es war für niemanden eine Überraschung, dass einmal ein Buch daraus entstehen könnte. Ich habe das Manuskript selbstverständlich allen Familienmitgliedern, die schon lesen konnten, vorab gegeben. Mein ältestes Kind, in meinen Kolumnen nenne ich es Brecht, um das es vor allem im Buch geht, ist sehr begeistert und liest das Buch regelmässig komplett durch.
Du sagst immer wieder, dein Buch sei kein Ratgeber. Warum?
Das ist mir wichtig, weil ich nicht die fachliche Kompetenz habe. Ich bin kein Mediziner, auch nicht irgendwie sonst beruflich Spezialist zum Thema ADHS. Ich bin betroffen und mache aus dieser Sicht Erfahrungen. Ich möchte nicht, dass Leute das Gefühl haben, ich gebe hier fachlich fundierte Ratschläge.
Für wen hast du das Buch geschrieben?
Es war mir wichtig, , dass es auch Leute ohne besondere Nähe zu ADHS lesen können, und ich habe versucht, lustig und unterhaltsam zu schreiben. Aber natürlich werden eher Leute, die näher am Thema sind, zum Buch greifen. Bei Betroffenen ist mir die Repräsentation wichtig. Es gibt Selbstvertrauen, wenn man die Herausforderungen, mit denen man sich den ganzen Tag beschäftigt, auch bei anderen sieht. Gerade auf Instagram findet man viele Accounts mit tollen ADHS-Tipps – aber da ergibt sich schnell ein Gefühl von «Ich schaffe das nicht» oder «Der Tipp hat bei uns nicht funktioniert». Wenn man dann Erfahrungsberichte von anderen liest, wie sie auch immer mal wieder scheitern, ist das sehr wohltuend.
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In einer Szene im Buch sitzt du vor dem Schlafzimmer vom Brecht. Würdest du diese Zeilen aus dem Buch mit uns teilen?
Ich bin nicht so ein guter Vorleser. Aber gern: «‹Jetzt die rechte Socke›, rufe ich mit gedämpfter, schon fast krampfhaft freundlicher Stimme. ‹Okay›, bestätigt mir der Brecht motiviert. Und tatsächlich, durch die Ritze der Tür sehe ich, wie er sich den Strumpf über’s Füsschen klaubt und die Nähte an der Spitze zurechtzupft, die sonst immer zum Drama ausarten. Nach wenigen Sekunden bestätigt er: ‹Gut.› Super, jetzt darfst du die drei Minuten in deiner Gedankenwelt spielen, dann putzt du dir die Zähne. ‹Juhu›, murmelt der Brecht, erzählt sich eine Geschichte und hüpft dabei im Badezimmer umher wie eine Kuh, die im Frühling zum ersten Mal wieder auf die Weide darf. Mittwochs stehen wir jeweils um 5.30 Uhr auf, damit der Brecht um 7.01 Uhr den Bus in die Schule erwischt. Eigentlich wäre unser Programm in den eineinhalb Stunden überschaubar. Ein Müsli hinter das Fressbrett schaufeln, Ablasshandel auf dem Klo, die Kleidung am Körper befestigen und dann noch die Müsli-Reste aus den Zahnzwischenräumen kärchern. Manche Kinder schaffen das in 20 Minuten, meins nicht.»
Ist das immer noch so, jeden Morgen?
Es ist phasenweise mal ein bisschen besser und manchmal wird es wieder schwieriger. Wir brauchen für Morgen- und Abendritual einfach wahnsinnig viel Zeit und eine konstante Begleitung. Gleichaltrige Nachbarskinder werden 20 Minuten vor Schulbeginn geweckt und machen sich dann parat. Klar, auch nicht alle. Aber wir sind so weit davon entfernt. Der Brecht braucht eineinhalb bis zwei Stunden und ständige Erinnerungen, um Schritt für Schritt die Morgenroutine abzuarbeiten.
Ich weiss, mein Kind hat ADHS und braucht deshalb besondere Unterstützung und Verständnis. Aber manchmal rege ich mich trotzdem auf und denke: Warum machst du nicht einfach vorwärts?
Hattet ihr von Anfang an eine Vorahnung, dass euer Kind ADHS haben könnte?
Wir haben in den unterschiedlichen Altersstufen immer mal wieder gemerkt, dass der Brecht mit gewissen Abläufen Schwierigkeiten hat. Weil er unser erstes Kind ist, hatten wir aber keine Referenz. Hätten wir den Vergleich zum zweiten Kind gehabt, wäre uns einiges früher bewusst geworden. Zuverlässig disagnostizieren kann man ADHS aber ohnehin erst etwa ab Schulbeginn.
Bis zwei Stunden am Morgen, wo man Schritt für Schritt alles begleiten muss. Das ist als Eltern einfach unglaublich anstrengend.
Ja, und ich kämpfe da auch mit mir selbst. Ich weiss, mein Kind hat ADHS und braucht deshalb besondere Unterstützung und Verständnis. Aber manchmal rege ich mich trotzdem auf und denke: Warum machst du nicht einfach vorwärts, warum trödelst du so? Ich rutsche da immer noch regelmässig rein und urteile über das Kind, obwohl ich es besser wüsste.
Das kann ich verstehen. Wie lief denn die Abklärung bei euch ab?
Die Lehrerin hat sich gemeldet und gesagt, ihr seien Sachen aufgefallen. Der Brecht stehe manchmal ein bisschen verloren herum und brauche für Übergänge mehr Zeit als andere Kinder. Dann war dann der Auslöser für unsere Abklärungskaskade.
Das Thema beschäftigt auch unsere Community:

ADHS-Verdacht bei Kind: Wie gehen wir am besten vor?
Oder stell deine eigene Frage.
Kannst du diese Kaskade erklären? Viele Eltern wissen nicht, wo sie sich zuerst melden sollen.
Es gibt verschiedene Wege. Wenn man von sich aus das Gefühl hat, da stimmt etwas nicht, ist zum Beispiel der Weg über die Kinderärztin sinnvoll – mit einer Überweisung für eine fachliche Abklärung. Man muss einfach wissen, dass die Wartezeiten relativ lang sind. Bei uns war es so, dass die Schule einen Weg vorgeschlagen hat – über den Schulpsychologischen Dienst. Die sind auch überlastet und man hat Wartezeiten. Wir hatten dann mehrere Gespräche in unterschiedlichen Konstellationen. ADHS stand im Raum, aber zuerst geht es drum, andere Ursachen auszuschliessen. Man klärt die kognitive Kapazität des Kindes ab, prüft zum Beispiel, ob es eine Lernschwäche gibt. Eltern und Lehrpersonen müssen Fragebögen ausfüllen, das Kind durchläuft spielerische Tests. Bei uns kam heraus, dass es noch etwas früh sei für eine ADHS-Diagnose. In der Schweiz diagnostiziert man lieber etwas später.
Was ist dann passiert?
Irgendwann überschlugen sich die Ereignisse, weil eine Angststörung dazu kam. Das Kind entwickelte verschiedene stark einschränkende Ängste, konnte nicht mehr alleine sein oder auf den Bus gehen. Wenn wir versucht haben, eine Ängste zu lösen, hat sich das Ganze einfach verschoben – dann kam einfach eine neue Angst hinzu. Wir konnten einige Ängste abmildern, aber die grundsätzliche Angsstörung wurde trotzdem immer schlimmer. Dann haben wir fast etwas notfallmässig eine Abklärung bei den Universitären Psychiatrischen Diensten erhalten. Dort kam das Thema ADHS wieder zur Sprache. Der Psychiater meinte, dass die Angst ein Resultat der ADHS sei.
Ich muss immer lachen, wenn die Volksmeinung herumgeistert, ADHS würde sehr leichtfertig diagnostiziert.
Ist es häufig so, dass bei ADHS mehrere Sachen zusammenkommen?
Ja, bei ADHS gibt es relativ viele Komorbiditäten – etwa Tic-Störungen, die Brecht und ich auch haben. Es gibt auch Probleme, die durch ADHS auslösen kann – wie eben eine Angststörung, die daraus entsteht durch die vielen Reize, die man täglich schlecht filtern und verarbeiten kann. Längerfristig kann es auch zu Suchtproblemen oder Depressionen kommen. Es gibt eine ganz grosse Reihe an Komorbiditäten. Unser Trost: Man hat zum Glück meistens nicht gerade alles.
Bei euch war es letztendlich der Leidensdruck durch die Angststörung, der zur erneuten Abklärung führte?
Genau. Sonst hätten wir vielleicht noch länger gewartet. Wegen der Dringlichkeit war es dann so, dass wir relativ schnell mit Medikamenten anfingen, bevor eine formelle Diagnose da war. Einfach um die Ängste in den Griff zu bekommen. Das hat auch funktioniert. Die formelle Diagnose folgte dann wenige Monate darauf – natürlich wieder verbunden mit zahlreichen Abklärungsterminen, Fragebögen, Gesprächen oder Tests am Computer. Ich muss immer lachen, wenn die Volksmeinung herumgeistert, ADHS würde sehr leichtfertig diagnostiziert. Das kann ich wirklich nicht bestätigen. Es ist eine sehr gründliche Abklärung.
Ab wann macht eine Abklärung Sinn? Der Leidensdruck der Eltern ist vielleicht gross, aber für das Kind ist es in dem Moment vielleicht gar nicht so schlimm.
Der Leidensdruck gehört zur Diagnose – es gibt keine Diagnose, wenn er nicht vorhanden ist. Bei ADHS taucht aber schnell mal in irgendeiner Form ein Leidensdruck auf. Meine Empfehlung an Eltern wäre, mit einen ersten Schritt für eine Triage bei einer Fachperson nicht lange zuzuwarten. Was ich häufig sehe: Man zögert Diagnosen heraus oder drückt sich aus Ängsten, dass das Kind stigmatisiert werden könnte. Aber am Kind ändert sich nichts mit der Diagnose. Es hat ADHS, ob es diagnostiziert ist oder nicht. Die Stigmatisierung kommt nicht durch die Diagnose, sondern durch die Konflikte, die das Kind durch sein Verhalten erfährt – etwa wenn es Mühe hat, Freunde zu finden, oder negativ in der Schule auffällt. Wenn man Kinder als verhaltensauffällig sieht, ihnen Böswilligkeit unterstellt oder sie abstempelt, ist das eine viel schlimmere Stigmatisierung, als wenn man endlich Gewissheit darüber erhält warum es dem Kind so geht.
Hilft es dem Kind selbst, das einzuordnen?
Ich glaube schon. Man geht diesen Weg gemeinsam mit dem Kind, und das Kind versteht dann: Ich habe etwas, das hat einen Namen und äussert sich so und so. Die Diagnose soll keine Entschuldigung für jegliches Verhalten sein, aber eben eine Begründung. Mir hätte es als Kind sehr geholfen zu wissen, was da los ist. Im Schulalter, als ich doch recht typische Probleme hatte, hätte ich mich mit dem Thema auseinandersetzen und bessere Lösungsstrategien entwickeln können.
Diese enorme Unruhe im Kopf ist die Basis für alles, was sich in der physischen Welt auswirkt.
Repräsentation ist also auch für Kinder wichtig?
Absolut. Kinder müssen erkennen: Es gibt auch andere mit den gleichen Struggles. Unsere Schule hat als Eigeninitiative eine kleine ADHS-Gruppe gebildet, in der eine Lehrperson für integrative Förderung die Kinder mit ADHS zusammennimmt und mit ihnen spielerisch an Strategien arbeitet.
Mit einer Diagnose kann man auch einen sogenannten Nachteilsausgleich beantragen?
Ja, wenn das Kind aus medizinischen Gründen sein Können nicht zeigen kann, hat es Anrecht auf einen Ausgleich dieses Nachteils – zum Beispiel in Prüfungssituationen. Es darf vielleicht gewisse Hilfsmittel einsetzen oder eine Lernkontrolle in einem eigenen Raum schreiben. Allerdings ist es nicht ganz trivial, einen guten Nachteilsausgleich für Kinder mit ADHS zu finden. Man landet schnell bei Mehr-Zeit – aber für Leute mit ADHS, die chronisch Arbeit rausschieben und Termindruck brauchen, ist das manchmal nicht die beste Lösung. Ich selbst habe zum Beispiel bei Uniprüfungen immer erst eine Stunde zum Fenster rausgeschaut und dann angefangen, als ich merkte, ich muss bald abgeben. Mehr-Zeit hätte mir überhaupt nicht geholfen. Man muss also sehr individuell analysieren, was dem Kind hilft.
Ich möchte gern nochmals etwas aus dem Buch vorlesen: «Alle Symptome haben etwas gemeinsam. Wir ADHSler haben nicht die Kontrolle über unseren Fokus, unsere Emotionen, Bewegungen und Handlungen. Nicht-Betroffene sagen gerne: ‹Fang doch einfach an› oder ‹Setz dich einfach hin und konzentriere dich eine Stunde›. Ja, das würde ich, wenn ich könnte.»
Das ist der Klassiker – zu wissen, was man tun soll, es auch zu wollen, aber es einfach nicht zu schaffen. Gerade grössere Arbeitspäckchen schieben viele Menschen mit ADHS notorisch raus, bis der Druck so gross wird, dass sie endlich anfangen können. AHDS ist ja eine Regulationsstörung. Man hat sehr Mühe, die Kontrolle über das eigene Gehirn auszuüben – die Steuerzentrale ist sozusagen träge. Ich weiss dann ständig, ich muss etwas erledigen, ich will es auch wirklich, aber am Abend habe ich es trotzdem wieder nicht gemacht. So bringt man sich selbst in enorme Stresssituationen, die vermeidbar wären, wenn die Regulierung gelingen würde. Aber die gelingt einfach nicht.
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Ein bekanntes Merkmal für ADHS ist die Hyperaktivität. Ist diese manchmal mehr im Kopf als physisch?
Diese enorme Aktivität an Gedanken – das ist etwas, was wahrscheinlich fast alle Menschen mit ADHS gemeinsam haben. Es ist zeitweise geradezu ein Gedankensturm. Eine Idee löst die andere ab, und dann kommt schon die nächste, bevor man irgendwie handeln konnte. Ich bringe immer gerne das Beispiel vom geschmacklosen Kaugummi im Mund: Ich denke, jetzt schlucke ich den runter oder spucke ihn aus. Bevor ich es schaffe, drängt sich der nächste Gedanke dazwischen, und eine Stunde später merke ich, ich habe immer noch diesen elenden Kaugummi im Mund. Diese enorme Unruhe im Kopf ist dann auch die Basis für vieles, was man auf der physischen Ebene wiederfindet.
Man hört auch immer wieder Stimmen, die sagen, ADHS sei eine Superpower. Was sagst du dazu?
Da gehen die Meinungen stark auseinander und meine ist irgendwo dazwischen. Ich finde es wichtig, dass man etwas, das wirklich eine hohen Leidensdruck verursachen kann, nicht verharmlost. Dass man ADHS nicht nur als lustige Eigenheit abtut. Gleichzeitig gibt es Experten, die vehement die Ansicht vertreten, ADHS habe nur Nachteile und verursache ausschliesslich Leid. Das kann einfach rein logisch gar nicht sein. Wenn dein Hirn anders funktioniert, wenn du extrem viele Gedanken hast, kannst du das natürlich auch produktiv nutzen. Es kommt nicht von ungefähr, dass viele Leute in der Medienbranche oder im kreativen Umfeld ADHS haben.
Der Brecht war manchmal so in seiner Gedankenwelt versunken, dass er eine Stunde vor dem Spiegel stand und es einfach nicht schaffte, Zahnpasta aufs Zahnbürstchen zu drücken.
Ein grosses Reiztema bei ADHS ist auch die Medikation. Was ist dein Standpunkt?
Meine Meinung ist, dass das Thema viel zu emotional diskutiert wird. Wenn sich mehr Menschen damit auseinandersetzen würden, was die Medikamente im Hirn genau machen, würden weniger Ängste geschürt. Diese Erzählung, Medikamente würden extreme psychische Veränderungen herbeiführen, ist einfach sehr weit hergeholt.
Wie waren eure Erfahrungen mit eurem Kind?
Wir haben damals bei der Angsstörung mit Ritalin angefangen. Es gibt allerdings mehrere Medikamente, die auf unterschiedliche Botenstoffe wirken, und nicht alle wirken bei allen gleich gut. Darum ist der Weg zum richtigen Medikament und der richtigen Dosierung manchmal etwas länger. Bei uns war es zum Glück so, dass wir sehr schnell eine positive Wirkung merkten. Sachen passierten plötzlich, wo wir dachten: Wow, das Kind macht sich jetzt in Rekordzeit bereit für die Schule, geht selbstständig Zähne putzen. Der Brecht war davor manchmal so in seiner Gedankenwelt versunken, dass er eine Stunde vor dem Spiegel stand und es einfach nicht schaffte, Zahnpasta aufs Zahnbürstchen zu drücken.
Und wo half das Ritalin nicht?
Ich wollte das grad ergänzen. Die Medikation hat nicht alle Probleme gelöst – zum Beispiel die emotionalen Ausbrüche blieben uns erhalten. Und als der Brecht etwas älter wurde, hat die Wirkung abgenommen. Der Nutzen war irgendwann nicht mehr so gross wie am Anfang, als wir das Medikament auf die bestmögliche Wirkung eingestellt haben. Schlussendlich haben wir dann damit aufgehört und momentan läuft es auch ohne Medikamente ganz gut. Eine Zeitlang haben sie uns aber wirklich sehr geholfen.
Wie läuft das ab, dieses «Medikation einstellen».
Man wählt zusammen mit einer Fachperson ein Medikament, von dem man sich den grössen Nutzen verspricht und fängt dann mit einer kleinen Dosis an – vielleicht fünf Tage lang fünf Milligramm, dann fünf Tage zehn Milligramm, und beobachtet genau, was passiert. Irgendwann kommt man zu einem Punkt, wo man sagt, jetzt ist es gut, oder man merkt, jetzt kippt’s in eine weniger gute Richtung, und geht mit der Dosierung wieder etwas zurück. Das dauert vielleicht einen Monat. Aber man muss dann auch ab und zu nachjustieren, weil sich die Wirkung verändern kann. Vielleicht ist dann auch ein anderes Medikament besser geeignet – darum ist man oftmals so ein bisschen am Ausprobieren.
Das Schlimmste ist, wenn sich Eltern bei ihren Kindern nicht entschuldigen können.
Was waren denn bei euch die Nebenwirkungen?
Appetitlosigkeit ist eine häufige Nebenwirkung. Man kann das ein bisschen umgehen, indem man erst nach dem Morgenessen eine Form des Medikaments abgibt, das bei der nächsten Mahlzeit bereits wieder aus dem Körper verschwunden ist. Aber wenn man ohnehin schon ein eher dünnes Kind hat,kann das ein Problem sein. Hinzu kommt: ADHS ist grundsätzlich schon schwierig für den Schlaf, und Medikation kann das verschlimmern. Der Schlaf ist bei uns tatsächlich schlechter geworden – das war mit ein Grund, dass wir nach einigen Versuchen mit anderen Wirkstoffen irgendwann ganz mit der Medikation aufgehört haben.
Lass uns über die Familiendynamik bei euch zu Hause sprechen – du und der Brecht, ihr habt beide die Diagnose. Wie zeigt sich das im Alltag?
Das ist teils wirklich herausfordernd. Theoretisch würde man ja sagen, wir beide haben das gleiche Problem, wir verstehen einander. In der Praxis reiben wir uns aber sehr häufig stark aneinander und schaukeln uns gegenseitig zu Konflikten auf. Ich habe mit dem Brecht definitiv ganz andere Baustellen als zum Beispiel meine Frau, die kein ADHS hat. Bei mir kommt einfach nochmal eine zusätzliche Dynamik hinzu, weil irgendwann mein eigenes ADHS kickt. Dann rege ich mich plötzlich auch noch über mich selber auf. Wir hatten Phasen, in denen wir wirklich oft aneinander geraten sind und ich mich hinterher auch geschämt.Ich weiss ja, dass mich das Kind nicht absichtlich ärgern will.
Wie gehst du dann mit dieser Scham um?
Ich rede darüber mit dem Kind. Das Schlimmste ist, wenn sich Eltern bei ihren Kindern nicht entschuldigen können. Immerhin das kann ich gut. Ich bin nachträglich oft zum Brecht gegangen und habe gesagt: Es tut mir leid, das war nicht richtig. Aber man kann sich natürlich nicht ständig immer nur entschuldigen. Für mich selbst habe ich dann versucht, aus diesen Situationen zu lernen. Irgendwann merkst du: Es kann so nicht weitergehen, jetzt müsst ihr etwas ändern und als Erwachsener ist es deine Verantwortung, dich darum zu kümmern. Ich habe es inzwischen geschafft, in den meisten Situationen recht gelassen zu bleiben oder einfach deutlich zu kommunizieren und mich nicht auf Konflikte einzulassen – aber es war ein längerer Weg.
Der Brecht hat das Buch gelesen. Was hat er gemeint?
Ich habe am Ende des Buches ein Interview mit ihm geführt, in dem wir das Buch thematisch durchgehen. Er ist grundsätzlich sehr einverstanden mit allem und liest gerne über sich. Er geht auch sehr unbeschwert mit seiner Diagnose um und hatte nie das Gefühl, dass er da etwas verheimlichen muss. Ich hoffe, das bleibt so.
Was wünschst du dir, was Leute aus dem Buch herausnehmen?
Ich freue mich, wenn sich Betroffene wiedererkennen und vielleicht auch die eine oder andere Motivation mitnehmen können. Oder einfach schon nur wissen: «Ich bin nicht allein.» Und wenn das Buch die Tür öffnet für Nichtbetroffene, um besser zu verstehen, was in unserem Kopf abgeht, dann umso besser. Das Buch ist so chaotisch geschrieben, dass man in dieser Hinsicht einen ganz guten Einblick gewinnt.
«Wir schaffen das, mein SchADHS» ist hier bei uns im Concept Store erhältlich.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 10. Oktober 2025.
Markus Tschannen schreibt bei uns die Kolumne «Markus Tschannen wechselt wieder Windeln». Sie erscheint einmal im Monat.
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