Ein Vater erzählt: Der Tod unserer Tochter lehrte mich Dankbarkeit und im Moment-Sein
Mit neun Monaten erhielt Ophelia die Diagnose aggressiver Hirntumor. Ihre Eltern begleiteten sie zu Hause bis zum letzten Atemzug und erlebten dadurch nicht nur Trauer, sondern auch tiefe Verbundenheit.
Lukas ist bei der Grossbank gross geworden, seit Jahren im Finanzsektor tätig, breitschultrig und blauäugig, mit einer Vorliebe für Heavy Metal.
Vor anderthalb Jahren ist seine Tochter Ophelia an einem Hirntumor verstorben. Sie war erst 22 Monate alt und nahm ihre letzten Atemzüge zu Hause an Lukas’ Bauch geschmiegt. Nach den Erfahrungen auf der Intensivstation war es für Ophelias Eltern enorm wichtig, sie im vertrauten Umfeld liebevoll gehen zu lassen.
Bereits als sie die erschütternde Diagnose erhielten, kommunizierten Lukas und seine Frau Nathalie sehr transparent im näheren Umfeld.
Nathalie und ich kennen uns schon seit unseren frühen Zwanzigern, aber Lukas begegnete ich zum ersten Mal nach Ophelias Tod. Wann immer ich mit ihm über den schmerzhaften Verlust gesprochen habe, war er immer sichtlich bewegt und versuchte nie, seine Gefühle zu verbergen.
Ophelia ist vor anderthalb Jahren gestorben. Wie geht es dir heute mit der Trauer?
Ophelias Tod hat mich für immer verändert.
Wenn ich sage, es geht mir gut, ist es nicht dasselbe Gut wie vor ein paar Jahren.
Aber ich war schon immer Optimist, der Verlust hat mir diese Charaktereigenschaft nicht genommen.
Ich denke jeden Tag an Ophelia, manchmal ist es schön, manchmal traurig. Wir haben überall im Haus Bilder und Sachen von ihr. Diese Dinge rufen sie mir in Erinnerung.
Kommt und geht die Trauer oder ist sie ein stetiges Rauschen im Hintergrund?
Für mich kommt und geht die Trauer. Ich habe vor Kurzem eine neue Stelle angetreten, die mich fordert. In Gedanken muss ich oft im Hier und Jetzt sein und denke weniger an Ophelia.
Dann gibt es Momente, in denen ich die Trauer bewusst heraufbeschwöre. Ich möchte den Schmerz nicht verlieren, auch wenn ich weiss, dass er sich verändert. Er gehört zu mir, er ist ein wichtiger Teil meines Lebens, weil er mich auch so viel gelehrt hat.
Am Todestag von Ophelia im März bin ich beispielsweise zwei Stunden mit unserer zweiten Tochter, Melody, im Haus rumgelaufen. Ich hatte sie im Tragtuch und weinte. Es war mir wichtig, der Trauer Platz zu geben.
Ich durfte lernen, dass Glück und Leid einander nicht ausschliessen.
Seit Anbeginn dieser Geschichte können meine Frau Nathalie und ich mit dieser Ambivalenz gut leben. Uns geht’s beiden manchmal nicht gut, aber zum Glück wechseln wir uns darin ab und können die Hand ausstrecken, wenn der andere sie braucht.
Gehen wir zurück zum Anfang vom Abschied: Nach und nach klärte sich Ophelias Diagnose. Ihr wart erschüttert. Hast du eine Erwartung an deine Reaktion gespürt?
In dem Moment, als uns ungefähr zehn Ärztinnen und Ärzte die Diagnose mitteilten, gab’s mir der Kopf nicht zu, emotional zusammenbrechen. Ich war wie versteinert.
Physisch fühlte es sich an, als würde ich schweben, als hätte mir wirklich jemand den Stuhl unter dem Hintern weggezogen.
Ich war nicht fähig zu einer Reaktion, weder physisch noch emotional. Aber es war nicht, weil ich dachte, ich darf das nicht.
Ich kann ehrlich sagen: Ich habe keine Erwartungen gespürt. Ich wusste aber auch nicht, was auf mich zukommt. Die möglichen Konsequenzen, also dass Ophelia von uns gehen würde, haben wir zu Beginn nicht in Betracht gezogen.
Mein damaliger Chef bei der Bank war kurz vorher Grossvater geworden. Nachdem wir die Diagnose erhalten hatten, rief er mich regelmässig an. Viele Jungs aus meinem Umfeld, mit denen ich vorher nicht so viel Kontakt hatte, nahmen stark Anteil.
Wie sind dir andere Menschen aus eurem Umfeld in den ersten Tagen und Wochen nach Ophelias Tod begegnet?
Während dieser ersten Zeit haben die Menschen in unserem Umfeld uns mit allem, was sie hatten, getragen.
Nach Ophelias Tod hat ein sehr enger Freund initiiert, dass Menschen aus der Umgebung uns eine Kerze vor die Haustür stellten. Am Abend stand ein Kerzenmeer auf unserer Schwelle. Nathalie und ich gingen raus, um mit den Anwesenden zu sprechen.
Und da waren längst nicht nur Frauen, sondern auch viele Männer! Unser Bauleiter vom Hausumbau war zum Beispiel da, zusammen mit einem Mitarbeitenden. Sie hatten mit uns mitgelitten und waren zu Freunden geworden.
Wie erklärst du dir diese Anteilnahme gerade auch von Seiten dieser Männer?
Es waren überwiegend Männer, die selber Väter sind. Ich spüre nach wie vor einen grossen Unterschied in der Empathie, wenn Männer selber auch Kinder haben.
War das im Berufsalltag ähnlich?
Vier Wochen nach Ophelias Tod ging ich wieder arbeiten. Das fiel mir schon schwer, weil ich nach diesem Verlust keinen Sinn mehr in meiner Arbeit sah. Erschwerend kam hinzu, dass mir langjährige Kund:innen Fragen stellten wie: «Geht’s euch jetzt wieder gut?» Als hätten wir nur eine Grippe gehabt.
Obwohl ich mich als empathische Führungsperson bezeichnen würde, hatte ich Mühe, Verständnis für Mitarbeitende aufzubringen, die über zu viele Arbeitsstunden und zu wenig Lohn klagten.
Als ich einmal in einem Meeting sagte, ich hätte durch den Tod meiner Tochter viel Dankbarkeit gelernt, und ich wünschte mir für uns als Team auch ein bisschen mehr Dankbarkeit und weniger Negativität, wurde mir später zurückgemeldet, diese Aussage sei zum Kotzen gewesen.
Unsensible Reaktionen habe ich vor allem im Arbeitskontext erlebt, von Frauen und von Männern.
Ich bin der Meinung, dass die grosse Mehrheit der Menschen, die bei einer Bank arbeiten, überprivilegiert sind.
Wenn ich unsensibel sage, spreche ich nicht von den Menschen, die einfach überfordert waren. Das konnte ich einordnen, denen habe ich das nicht übelgenommen.
Ende 2022 erhielt ich trotz zahlreichen Abwesenheiten meinen Bonus. Die Hälfte davon verteilte ich auf meine Mitarbeitenden, als Dank, dass sie für mich eingesprungen waren.
Die andere Hälfte behielt ich und erfuhr, dass manche Angestellten sich bei der Geschäftsleitung hinter meinem Rücken beklagten, weil ich nur die Hälfte der Zeit gearbeitet hatte. Da hatte ich keine Geduld mehr. Ich habe dann auch relativ bald gekündigt.
Gab es auch völlig überraschende Zeichen grosser Anteilnahme?
Einmal hatte ich einen Call mit einem Mitarbeiter aus unserem Unternehmen. Wir hatten einander noch nie gesehen.
Er fragte mich, wie es mir gehe. Ich fragte, ob er’s kurz oder ehrlich wolle. Er wolle ehrlich, sagte er. Ich erzählte. Dann war es still und er weinte. Er hatte selber zwei kleine Kinder und es brach ihm das Herz.
Gab es in der Zeit nach Ophelias Diagnose und nach ihrem Tod Momente, in denen du das Gefühl hattest, du müssest jetzt Haltung bewahren?
Mir kommt keiner in den Sinn. Wenn es solche Momente gab, dann waren sie wohl selten oder unbedeutend.
Wie bist du mit deiner Trauer umgegangen?
Offen und direkt. Ich wollte niemanden vor den Kopf stossen.
Ich wollte ehrlich auf die Frage «wie geht’s?» antworten. Ich wollte mich nicht verstellen müssen.
Diese Offenheit ist sicher meinem Naturell geschuldet, aber sie ist auch ein wichtiger Teil der Verarbeitung für mich. Es hilft mir sehr, die Geschichte immer wieder zu erzählen. Emotional nimmt es mich mit, darüber zu sprechen. Trotzdem tut es mir gut.
(Anmerkung der Redaktion: Lukas und Nathalie haben auch gemeinsam ein Interview zu ihrem Abschiedsprozess gegeben. Diesen Artikel liest du hier.)
Hast du Unterschiede beobachtet in der Art wie du trauerst, im Vergleich zu Nathalie, deiner Frau?
In den ersten Wochen nach Ophelias Tod war es für mich wichtig, mich in etwas hineinzustürzen. Ich investierte ganz viel Energie in die Organisation von Ophelias Lebensfeier. Das war der grosse Unterschied. Ich musste handeln, Nathalie brauchte Ruhe und hatte diese Energie nicht.
Auch die Gründung von Ophelia’s Legacy, mittlerweile ein Verein, war sinnstiftend und gab mir Halt. Ich brauchte das in diesem Moment.
Heute ist unsere Art zu trauern nicht mehr so unterschiedlich wie am Anfang. Nathalie war nach der Geburt von Ophelias Schwester, Melody, im Mutterschaftsurlaub und mehrheitlich zu Hause. Die Erinnerung an Ophelia war dadurch für sie eine Zeit lang viel präsenter.
Gleichzeitig hatte sie auch öfter ein schlechtes Gewissen, dass die Erinnerung an Ophelia zu wenig Platz hat, seit unsere Tochter Melody auf der Welt ist.
Ich bin auch immer noch fragil. Kürzlich fand ich eine Schachtel mit Karten, die Ophelia zum ersten Geburtstag bekommen hatte. Die Menschen, die uns diese schrieben, waren noch voller Hoffnung. Als ich sie las, vergoss ich viele Tränen.
#daschamebruuche aus unserem Concept Store
Ihr setzt euch stark ein für Enttabuisierung von Trauer in der Gesellschaft: Ist eure Arbeit vor allem für Männer wichtig?
Wenn ich die Statistik unserer Follower:innen auf Social Media anschaue, dann identifizieren sich rund 80 % als Frauen. Sie nehmen sicher mehr Anteil. Unsere Arbeit scheint mir aber für alle Geschlechter und Sozialisierungen wichtig.
Ich schliesse aus der Statistik auch, dass das Thematisieren von Trauer und Verlust gerade für Männer relevant ist. Es gibt ja noch andere betroffene Väter da draussen. Ich frage mich, wieso interagieren sie nicht mit uns?
Ist es, weil Männer finden, Trauern ist ein Zeichen von Schwäche?
Haben sie Angst vor Emotionen, die ihnen schwer und bedrohlich scheinen? Oder auf die sie einfach keine Lust haben? Ist Trauer einfach zu uncool, weil sie wie die meisten emotionalen Themen mehr weiblich geprägt ist?
Was möchtest du von Trauer betroffenen Männern da draussen mitgeben?
Ich möchte ganz grundsätzlich sagen: Zu den eigenen Gefühlen zu stehen ist ein Zeichen von Stärke. Gefühle verbergen und die Starken spielen nicht.
Seit Ophelias Diagnose bis zu ihrem Tod und bis heute gibt es immer wieder Momente, in denen ich zusammenbreche. Ich stehe zu diesen.
Meine Schwester hat mich einmal gefragt, wie Nathalie und ich so stark sein können. Mir ist nicht bewusst, dass ich stark bin. Ich bin einfach, wie ich bin.
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Veröffentlicht am 8. Oktober 2024.
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