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Elternzeit vs. Steinzeit – 38 Wochen oder vierzehn Tage?

Die schlagenden Argumente für eine finanzierbare Elternzeit wären da – blöd nur, wenn niemand sie kennt. Über 38 Wochen Familienzeit, 2 Wochen Vaterschaftsurlaub und falsche Kompromisse.

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Elternzeit in der Schweiz - 38 Wochen oder gar nichts


Wir leben in der Steinzeit.

«Die Schweiz ist in punkto Elternzeit das Schlusslicht unter den OECD – Ländern» ist das Fazit der Langzeitstudie der eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF). Kein Wunder – während die Hälfte der OECD-Länder eine Mutterschafts- oder Elternzeitdauer von mindestens 43 Wochen gewährt (der Durchschnitt liegt sogar bei 54.4 Wochen!), kennt die Schweiz nebst dem Mutterschaftsurlaub weder einen gesetzlich geregelten und bezahlten Vaterschaftsurlaub noch eine gesetzlich geregelte und bezahlte Elternzeit.

Vaterschaftsurlaub in OECD Ländern Vergleich
Bildquelle: Studie der EKFF, 2018.

Wissen wir aber alles schon. Und bedanken uns herzlich, dass wir immerhin seit Mitte 2005 einen gesetzlich verankerten Mutterschafts»urlaub» von 14 Wochen kennen. «Das reicht jetzt aber, oder? Hört auf zu jammern!» – So fühlt sich die öffentliche Diskussion über Familienfragen in der Schweiz oft an. Wenn sie denn überhaupt statt findet.

38 Wochen Elternzeit – geht’s noch? Die Berichterstattung über die Studie der EKFF

Die Titel der Sonntagspresse wurden zwar anders formuliert, aber der Unterton zog sich doch durch die meisten Blätter, die am Sonntag, 19. Juli 2018 über die Studie der EKFF berichteten. Die meisten – der Blick, der Landbote, watson.ch – druckten einfach die nüchterne Zusammenfassung der Schweizerischen Depechenagentur. Die NZZ am Sonntag gab sich etwas mehr Mühe, und liess die Verantwortlichen plus je einen Vertreter der Linken und der Rechten auch gleich noch eine realistische Einschätzung abgeben, wieviele Chancen die empfohlene – und nicht vergessen: wissenschaftlich gestützte! – Lösung in der politischen und gesellschaftlichen Schweiz hätte: 0,00 Prozent.

Eins oben drauf setzte nur die BZ Nordwestschweiz. Man spürte beinahe das ungläubige, süffisante Lächeln des Titelmachers, das er beim Setzen getragen haben musste:

Wissenschaft plädiert für Luxus-Elternzeit von 38 Wochen – für bis zu 1,7 Milliarden Franken jährlich

Die Kommentarschreiber mussten selbstverständlich nicht einmal mehr den Lauftext lesen, um sich über diesen Schwachsinn zu entsetzen. Luxus! 1, 7 Milliarden Franken! Urlaub! Wir bescheidenen Schweizer brauchen doch sowas nicht! Kinder kriegen ist Privatsache!

Ende der Diskussion.

Genug zum Aufregen gab es auch auf der Gegenseite. Wer sich quer durch die Medien gelesen hatte, die sich dem Familien- und Wirtschaftsthema angenommen hatten, fühlte sich ein wenig wie ein Kind, dem man nach einem inbrünstig vorgetragenen Anliegen flüchtig auf den Kopf tätschelt und sagt: «Ja, das ist alles ganz interessant. Und jetzt geh spielen!»

Von «Papi-Zeit» ist oft die Rede. Bereits diese Verniedlichung sagt viel darüber aus, welchen Stellenwert der Vater in der Familienstruktur einnehmen soll. Papi-Zeit tönt nach Badiplausch, Rumschätzelen und gemeinsamen, instagramtauglichen Nickerchen auf dem Sofa – und nicht nach Verantwortung übernehmen, den Alltag kennen und managen lernen, die Mental Workload erfahren. Das sind aber die Aspekte der Betreuungsarbeit, für die eine Elternzeit da wäre.

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Familienthemen werden zwar nicht komplett ignoriert, aber auch nicht ernst genommen.

Kein Medium nahm es auf sich, das Argumentarium der EKFF etwas genauer zu studieren und den Lesern beispielsweise auch die folgenden, für einen nächsten Schritt wichtigen Informationen zu vermitteln und vor allem positiv zu «framen» – nämlich in einen Kontext zu bringen, von der die ganze Gesellschaft profitieren könnte, und nicht nur die Eltern selber:

38 Wochen Elternzeit – ein No Brainer?

Könnte man angesichts dieser Argumente meinen – leider nur waren sie fast nirgends zu lesen. Dass eine Investition sich mit Verzögerung auszahlt, und 1 Milliarde Franken im Gesamtkontext (zum Vergleich: 2017 wurden 4,7 Milliarden für die Landesverteidigung ausgegeben) dann eben doch nicht dermassen viel ist, wenn es um die langfristige Veränderung einer gesellschaftlichen Grundstruktur, und um die Anpassung an unsere europäischen Nachbarn geht, wird nicht diskutiert.

Höchstens weggelacht, denn dem Bundesrat sind ja bereits die 380 Millionen für einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub zu viel, für die der Verein «Vaterschaftsurlaub jetzt!» 2016 eine Volksinitiative lanciert hat. Die Kommission des Ständerates hat am Dienstag 21. August auch ihren Gegenvorschlag präsentiert: 14 Tage für die Väter. Let’s meet in the middle.

Good News! Die Väter kriegen zwei Wochen! Problem gelöst!

Titelten dann auch gleich einige Medien. Toll, die Väter kriegen zwei Wochen mit dem Neugeborenen, welches diese «Papi-Zeit» wahrscheinlich primär verschlafen wird. Es ist ein Kompromiss, aber ein fauler, ein halbe Sache: zwei Wochen sind eine Alibi-Übung

. Zwar eine schöne Zeit für die Familie, die aber weder die Gleichberechtigung noch die Erwerbstätigkeit der Mütter fördern wird, sondern vor allem den Zweck hat, alle weiteren Forderungen abzuklemmen. Finanziert werden soll auch dieser Vorschlag aus der Erwerbsersatzordnung – die Kosten kommunizierte die Ständeratskommission SGK-S allerdings nicht, obwohl diese den Hauptgrund lieferten für die Ablehnung der vier Wochen.

38 Wochen Elternzeit wären für die Schweiz optimal, hat die EKFF in ihrer Untersuchung herausgefunden. Und bitte lasst uns hier noch einmal betonen, das sind evidenzbasierte Erkenntnisse aus 140 Studien, nicht ein Finger, den man in den Wind hält, und auch kein Lesen aus dem Kaffeesatz:

Laut den verschiedenen Studien nimmt der positive Effekt auf die Erwerbstätigeit der Mütter bis 28 Wochen zu, danach ist er stabil und nimmt erst ab 64 Wochen wieder ab. Bei anderen Aspekten wie «Vater Kind-Beziehung« oder «Entwicklung des Kindes’ nimmt der Nutzen noch weit länger zu. 38 Wochen ist laut den verschiedenen Studien das Optimum für die Schweiz.

Vorsichtig, bescheiden und…. utopisch?

«Die meisten Länder kennen grosszügigere Modelle als das von der EKFF vorgeschlagene», meint Anja Wyden Guelpa, die Präsidentin der EKFF auf unsere Nachfrage. Provozieren wolle man mit der Empfehlung nicht, sondern der Vorschlag der Kommission mit 38 Wochen sei eigentlich «sehr schweizerisch: vorsichtig, bescheiden und besonnen!»

Anja Wyden Guelpa Präsidentin EFKK
Anja Wyden Guelpa – Präsidentin der EFKK (Bild zvg)

An eine baldige Umsetzung der Empfehlung glaubt sie selber realistischerweise (noch) nicht, die Hoffnung auf die vierwöchige Zwischenlösung hat sie aber noch nicht aufgegeben:

«Die Familienpolitik ist in der Schweiz traditionell „le parent pauvre“. Im Gegensatz zu den Ländern, die uns umgeben, und die seit dem Krieg Geburts-und Familienpolitik kennen, ist in der Schweiz Kinder haben immer noch als etwas Privates angesehen. Jeder macht wie er kann, ohne dass man hier eine wichtige kollektive Funktion des Staates sieht.»

Auch wenn der Staat langfristig von einer Änderung profitieren könnte? «Ich glaube, steter Tropfen höhlt den Stein. Wir müssen nicht nur konkret verhandeln, sondern auch zeigen, was das mittelfristige Ziel ist», meint Anja Wyden Guelpa.

Die Hoffnung ist da, die Argumente wären es auch – jetzt müssen sie nur noch sichtbar werden. Wir leisten hier unseren Teil dazu.

Die SP Zürich und auch die SP Bern lancieren zur Zeit kantonale Initiativen für Elternzeit, die man aktiv unterstützen kann. Ein Text dazu von Min Li Marti: Elternzeit: ein konkreter Vorschlag.

Das Argumentarium der EFKK und die komplette Studie kann hier heruntergeladen werden. 

Über Kommentare und eine Diskussion freuen wir uns sehr – bitte auf dem Handy dafür ganz nach unten scrollen!
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Autorin

Andrea Jansen hat 2016 Any Working Mom gegründet und lange als CEO geführt. Bei mal ehrlich ist sie für Strategie und Business Development verantwortlich. Sie reist gerne durch das Leben und um die Welt, versucht, weniger zu micromanagen und mehr zu schlafen. Sie ist Unternehmerin, Stiftungsrätin, Journalistin und Mutter von drei Kindern. Seit mindestens drei Jahren will sie ihre Website updaten und kommt nicht dazu – bis dahin findet man sie auf Insta als jansenontour.

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 22. August 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.


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2 Antworten

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  1. Avatar von Lara
    Lara

    Super Artikel – Schade sind wir in der Schweiz das Schlusslicht – auch für die Väter! Aber was ist oder wäre dann mit all den Selbstständig-erwerbenden …? Da könnte sich wohl sowieso keiner einen langen “Urlaub” zu Gunsten vom Kind leisten – leider….

    1. Avatar von Kate
      Kate

      Ganz ehrlich, ich weiss nicht was Frauen (!) mehr Zeit am Herd & zu Hause bringen soll, man verliert ja hier in der CH den Job deutlich schneller (bereits nach der Schutzphase von 14-16w). Von Männern wird die Elternzeit ja wohl kaum abgefangen. In Deutschland bekommen Frauen erst keinen neuen Job zwischen 30-40… Einziger Vorteil, das Männer auch 1-2 Monate gesellschaftlich akzeptierten „Urlaub“ nehmen können. Ich persönlich sehe darin nur noch einen grösseren Rückschritt für Frauen.
      https://www.bluewin.ch/de/news/schweiz/jede-zehnte-frau-erhaelt-nach-baby-pause-kuendigung-tendenz-steigend-213061.html