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Eat. Pay. Love. – Katzensuche mit Olivia El Sayed

Was macht man als Eltern, um den Kindern Leid zu ersparen? Wie wir dank Olivia wissen: so einiges. Viel Spass!

Frau mit Katzenohren - Ein humorvoller Text über Suchen einer verschwundenen Katze

Als Lucy versuchte, durch die Katzenklappe ihrem Bruder zu folgen, wurde mir in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass ich unsere Katzen bemuttere.

Nichts von natürlicher Eleganz: Allein für den vorderen Teil ihres Körpers brauchte sie fünf Minuten, verweilte dann in dieser ungelenken Unterteiltheit und ruderte mit ihren Beinen, bis ich ihr meinen Unterarm zur Hinterpfotenstütze anbot. Und so klepperte sie schliesslich nach draussen, von wo aus sie mich vorwurfsvoll über die Schulter anschaute.

Vielleicht, weil sie es allein schon noch geschafft hätte. Vielleicht aber auch, weil sie viel lieber noch länger dringeblieben wäre, bei mir, im Warmen?  

Anders als früher behält man Katzen neuerdings nicht mehr nur drei Wochen im Haus, bevor sie erstmal raus dürfen, sondern idealerweise mehrere Monate. «Es ist wie mit den Kindern, die lässt man heutzutage ja auch nicht mehr einfach raus und hofft, dass sie wieder zurückkommen», sagte die junge Tierärztin munter und übersah den säuerlich gewellten Mund meiner Mutter, die mich und die Katzentransportboxen zum Termin gefahren und sich schon mehrfach erkundigt hatte, wann wir die armen Katzen denn endlich rauslassen würden.

Wir hielten deshalb an diesem modernen Konzept fest, weil wir das neue Leben mit Katzen richtig machen wollten.

Damit ja nicht passiere, was bald darauf trotzdem passierte.

Die Schönheit der beiden Katzen fiel auch der Tierärztin auf und sie konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: «Passen Sie gut auf die beiden auf, die gefallen bestimmt nicht nur Ihnen.» Das grosse Kind drückte sofort meine Hand und schaute mich prüfend an.

«Da passiert schon nichts», beschwichtigte ich es und tätschelte mütterlich seinen Kopf, dem ein für einen achtjährigen Menschen unnötig ausgeprägter Sinn für die Vergänglichkeit des Lebens innewohnt. Warum, weiss ich nicht.

Manchmal habe ich etwas Sorge, ob ich das mit dem Tod zu wenig kindgerecht erklärt habe.

Oder ob sein Grossvater einfach in einem entwicklungstechnisch ungünstigen Moment gestorben ist. (Diese Geschichte kannst du hier nachlesen.)

Wie dem auch sei: Der Tod und seine «dumme, unfaire» Unvorhersehbarkeit verunsichert das Kind seit jeher. Beschwichtigung, auch gern in Form von im Internet abgeschauter Weisheiten, ist nach zu Streifen geschnittenem Toast fürs weiche Ei also das, was ich als Mutter am zweitmeisten performe.

Als es dann endlich soweit war und die Katzen ins Freie durften, schlief das beunruhigte Kind zwei Nächte lang schlecht und sorgte sich plötzlich auch um unser Wohl. Tragen wir Erwachsenen die Helme auch, wenn die Kinder nicht mit uns auf den Velos sind?

«Mama, warum gibt es keine Mindestlebensdauer für alle Lebewesen, damit man wenigstens zum Beispiel mal 20 Jahre lang keine Angst haben muss?» Hören wir eigentlich die Autos, wenn wir die Ohrstöpsel drin haben?

Wieder streichelte ich den ratternden Kopf. «Es braucht Mut, sich auf das Leben und die Liebe einzulassen, aber ein bisschen Vertrauen darfst du ruhig haben», sagte ich und lächelte ein beruhigendes Bilderbuchlächeln.

Und dann wurde der kleine Kater überfahren.

An keinem Tag war ich weniger gern Mutter, als an jenem, als ich meiner Familie sagen musste, dass unser kleiner Kater tot war.

Die Kinder schluchzten und weinten beim Essen in ihre Teller (das eine ein paar Stunden, das andere noch heute). Auf den beigelegten Taschentüchern, die eine Woche später vom Tierkrematorium der pfotenverzierten Urne beigelegt waren, stand: «Jede geweinte Träne ist eine Liebeserklärung.»

Aber trotz Ritualen und schönen Sprüchen wollte der Schmerz nicht recht verheilen.

In seiner lautesten Form gipfelte er in einem dreistimmigen Schreikonzert, als sich das eine Kind mittels eines stumpfen Rüstmessers zum Kater ins Jenseits gesellen wollte und das andere panisch schrie, weil es nicht wusste, dass ich das, wenn auch ebenfalls brüllend, ganz sicher zu verhindern wüsste.

Wir fokussierten uns auf die verbleibende Katze und hielten uns mit auf Instagram gehorteten Sprüchen mental über Wasser: «Kummer ist die Menge der Liebe, die du noch zu geben gehabt hättest.» Wir schrieben Briefe und bauten Altare.

Wir waren mit dem Runterfahren unseres Familienpulses noch überhaupt nicht fertig.

Wenige Wochen später: zweite Katze weg.

Von wegen Gott. Wie konnte das jetzt sein? Zwei Tage lang redeten wir uns ein, dass unsere «Abenteurerin» bestimmt einfach nur den Spätherbst geniesse und durch die Wälder streife.

Aber wir hatten sie ja in dieser Katzentür rudern gesehen. Sie war genauso abenteuerlich wie wir anderen Familienmitglieder, die wir uns mit Atemübungen beruhigen müssen, bevor wir uns auf eine simple Wasserrutsche trauen. Wir waren also auf das Schlimmste gefasst.

Ohne es auszusprechen war uns Eltern jedoch klar: This shit can‘t be happening.

Es ging hier nicht einfach nur um eine weitere Katze, sondern um die Aufrechterhaltung eines Narrativs: Manchmal ist das Leben unfair, ja. Vielleicht ist es unerwartet kürzer als wir es gern hätten. Und nur weil einem etwas Schlimmes passiert, bleibt man vom nächsten Schlimmen nicht automatisch verschont, auch wenn das «mega gemein und unfair» ist.

Aber – und für dieses Aber würde Team Eltern in den nächsten Tagen seinen letzten Funken Menschenverstand hergeben – manchmal kommt auch alles wieder gut. Und dass dem so wäre, das war nun unsere Aufgabe.

Wir schalteten bei der Schweizerischen Tiermeldezentrale eine Anzeige, dass unsere Katze verschwunden ist. Wir druckten Plakate und beklebten Baumstämme, Anschlagbretter und Ladenscheiben. Wir streiften durch die Wälder und machten pspspss. Tag und Nacht und vor allem: vergeblich. Gemäss meiner App lief ich noch nie so viele Schritte pro Tag in Folge.

Um nicht allzu schlank aus dieser Sache rauszukommen, ass ich auf meinen Streifzügen zur Beruhigung abwechselnd hampfelweise Maltesers und Sandwichreste direkt aus der Jackentasche.

Katze verschwunden? Vermisstenanzeigen helfen.

Katze verschwunden, Vernunft auch.

Nach ein paar Tagen im Wald verlor ich fast den Verstand. Was machte ich überhaupt? Warum sollte die Katze genau hier sein, wo ich jetzt war?

Und wie halten andere Menschen das Leben aus, die ihren Kindern viel grausamere Nachrichten überbringen müssen? Stabreime zum Thema Unheil formten sich in meinem Kopf – Klima, Krieg und kleine Katzen vor grossen Karren – und mischten sich mit meinem langsam erschlafften bsbsbss.

Durfte ich überhaupt Fleisch im Brot haben und gleichzeitig weinend eine Katze suchen? Und wie lerne ich, den Dingen ihren Lauf zu lassen?

Meine Kinder sollen den Hindernissen des Lebens nicht so begegnen wie Lucy der Katzenklappe, weil ich sie vor allem verschone.

Aber warum war es der Katze eigentlich nicht schön genug bei uns?

Abends im Bett verglichen wir vor dem Einschlafen unsere Routen und Resultate. Einmal stolperte ich im Traum über die Katze, lachte und rief ihren Namen. Wie sehr kann es einen umtreiben?

Als Frau, die ich früher belächelt hätte, setzte ich mich schwermütig in die dunkle Küche. Tag 5 war im Anbruch. Ich scrollte durch Instagram und mir fiel jemand ein, der seine Katze dank der Hinweise eines Mediums wiedergefunden hatte. Am nächsten Morgen gestand ich meinem Mann, dass ich einer Frau eine Anfrage und einer anderen bereits 180 Franken geschickt hätte, damit sie mit Lucy in Kontakt trete, um «zu spüren, ob und wo sie ist».

«Super», sagte er froh. «Das wollte ich gestern auch, aber mir antwortete niemand.» Wenn das alles für nichts war, so dann wenigstens für das Wissen, dass ich absolut richtig geheiratet habe.

Jetzt hatten wir also mehrere Anlaufstellen in unseren glühenden Telefonen. Jemand spürte, dass «die Katze einen Freund gefunden habe und mit diesem zusammen am Wasser mit Schmetterlingen spiele». Was für ein Quark, dachte ich. Aber kein anderer Satz liess die Gesichter meiner Kinder derart aufhellen. «Oh, das passt zu ihr, so herzig!» riefen sie und gingen spielen.

Jemand anderes spürte, dass es der Katze bei uns daheim zu laut gewesen sei. Dann war dieser eine Blick meiner Katze tatsächlich so vorwurfsvoll gemeint, wie er sich angefühlt hatte? Dazu schickte mir die Frau einen eingezeichneten Radius um unser Haus und darin einen markierten Bereich, den ich dann wiederholt abstapfte.

Es folgt ein Geheimrezept…

Von ihr bekam ich auch eine detaillierte Anleitung für «Heimwegschleppen».

Dafür entfernt man sich einen guten Kilometer in alle vier Himmelsrichtungen vom Entlaufort und spaziert dann zum Haus zurück und träufelt aus einer vorbereiteten Petflasche eine Spur aus selbstgemachtem Fischwasser (= Fisch + Wasser + Stabmixer). Um dieses Verfahren «noch effektiver» zu machen, binde man sich einen oft getragenen Gegenstand an eine Schnur und ziehe diesen in der anderen Hand hinter sich her.

(Falls du trotz dieser Geschichte das Gefühl hast, du  möchtest deiner Familie eine Katze zulegen: gebt ihr doch einen eindeutigen Katzennamen wie Tigi oder Coco. Weil wenn ein zwei Meter grosser Mann wie meiner mit ernstem Gesicht durch das Unterholz streift, Fischwasser verspritzt und dabei eine Socke hinter sich herzieht, wird es nicht weniger seltsam, wenn er dabei noch Mia oder Lucy ruft.)

Wir schliefen für eine Nacht auswärts. Für den Fall, dass die Katze just in dieser Nacht nachhause kommen sollte, hatte mein Mann kurzerhand einen Bewegungsmelder bestellt, der ihn benachrichtigen sollte, sobald sich in der Wohnung was regte, so dass daraufhin unsere Nachbarn bitte per gelegtem Schlüssel kurz nach Lucy schauen könnten.

Zusätzlich ziert seit diesem Wochenende ein per App Trockenfutter-Snacks speiender Automat unser Wohnzimmer. Aber auch diese Investitionen brachten die Katze nicht heim.

Alles für die Katz?

Etwa 1400 Franken nach dem ersten Katzenverlust und neun Tage nach dem Verschwinden der zweiten gab ich auf. In Form einer textlastigen Instagram-Story resümierte ich:

Vielleicht müssten meine Kinder aus dieser Geschichte eher lernen, das Schöne in der Welt zu sehen, auch wenn sie manchmal so offensichtlich unfair ist.

Und nicht mir dabei zuzusehen, wie ich tagelang einer Katze im Wald hinterherjage. Vielleicht war es wichtiger, die Perspektive zu wechseln zu können. Einzusehen, dass es auch Schlimmeres geben kann als verschwundene Katzen (und Eltern, deren Turnschuhe auch am Besuchsmorgen noch nach Fischwasser riechen).

Das Leben lohnt sich trotzdem.

Und während ich schlaflos durch die Reaktionen scrollte, stolperte Lucy durchs Törchen in unsere Wohnung. Einfach so. Um 3:11 morgens, an Tag 10. Sie sah aus wie immer. Gefüttert und gebürstet. Auf mein wiederholtes Fragen antwortete sie nicht.

Kurz war ich versucht, alle Medien nochmals zu fragen, wo sie jetzt denn das Tier spüren würden, hm? Zehn Tage im Wald war diese Katze definitiv nicht. Aber man will sich das mit dem Karma auch nicht verscherzen. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich sie brauchen würde.

Ich verschickte erleichterte Beweisfotos in meine Chats, mein Mann bestellte ein GPS Halsband und beide streichelten wir mit der jeweils freien Hand die schnurrende Katze zwischen uns.

Autorin

Olivia El Sayed ist 1981 in Winterthur geboren und schrieb in verschiedenen Funktionen in und für Radioredaktionen, Agenturen und Musiklabels. Nebenberuflich studierte sie einen Bachelor lang Sprachen mit Fokus Literatur und Philosophie. Sport kann sie nicht besonders gut, dafür Instagram: oh_olives. Sie ist die Autorin von flowery wordis und Scheidungskinderclub. Ihr erster Text bei uns war ein Artikel, für den sie lieber Haare vor dem Gesicht behält. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 17. Januar 2024 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.

Dieser Artikel erschien in leicht anderer Version zuerst bei der NZZ am Sonntag.


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