Interview
«Wir sehen überall Dinge, die uns sagen: Erledige mich doch noch schnell!»
Woher kommt die oft einseitig verteilte Mental Load in Beziehungen? Und wie können Paare sie fairer aufteilen? Es geht nicht um To-Do’s, sondern um Prozesse, sagt Bestseller-Autorin Patricia Cammarata. Sie nennt einen Drei-Punkte-Plan als Lösungsansatz.

Patricia, wie hast du selbst zum ersten Mal gemerkt, dass da etwas nicht stimmt – dass Du erschöpft bist, ohne es richtig benennen zu können?
Das ist tatsächlich durch einen Comic gekommen, der 2017 viral ging – von der französischen Illustratorin Emma mit dem Titel «Du hättest doch bloss fragen müssen». Ich habe mir das durchgeguckt und dachte: Das ist genau wie in meinem Leben. Dann ist es mir wirklich wie Schuppen von den Augen gefallen, dass das, was ich gefühlt hatte und nicht richtig benennen konnte, kein individuelles Problem war. Ich hatte immer gedacht: Ich muss mich anders organisieren, mein Zeitmanagement stimmt nicht. Aber wenn eine Französin in Paris genau dasselbe erlebt, dann kann das nicht nur mein Problem sein.
Du hast diesen Begriff Mental Load dann für ein Buch wissenschaftlich durchdrungen. Was gehört alles dazu?
Ich sage immer: Das ist eine Art Projektmanagement für die Familie. Aber es ist komplexer, weil es nicht nur die geistige, planerische Last ist, sondern auch die emotionale Last. Frauen organisieren nicht nur To-Do-Listen und scannen den Alltag nach Dingen, die passieren könnten. Da gehört auch ganz viel Unsichtbares dazu: Wie geht es eigentlich allen gerade? Haben wir Konflikte, die aufgearbeitet werden müssen? Oder auch scheinbare Banalitäten – dass man Geburtstage schön macht, zu Ostern schmückt, die Kinder an Jahreszeiten teilhaben lässt.

Keine Zeit oder zu müde zum Lesen? 😉 Dann hör dir hier das ausführliche Gespräch mit Patricia Cammarata als Podcast-Folge an 🎧.
Du beschreibst im Buch «Raus aus der Mental Load-Falle» sehr anschaulich den Unterschied zwischen Mann und Frau beim Tisch abräumen…
Genau. Wenn der Mann den Tisch abräumt, dauert das zehn Minuten. Bei Frauen wird daraus oft eine Stunde, weil wir unterwegs lauter Dinge sehen, die uns sagen: «Erledige mich doch noch schnell.» Man sieht die Kinderkleider auf dem Boden, bringt sie ins Bad, sieht, der Wäschekorb ist voll, wirft eine Maschine an. Beim Einräumen fällt auf: die Senf-Tube ist leer, Nudeln müssten auch gekauft werden. Dann macht man eine To-Do-Liste, über die einem noch andere Sachen einfallen. Diese innere To-Do-Liste rattert die ganze Zeit.
Affordanz ist eine Handlungsanweisung, die einem Gegenstand innewohnt. Eine Schere sagt «schneide mit mir», ein Schalter sagt «stell mich an oder aus».
Du nennst das – und diesen Begriff habe ich von dir gelernt: Affordanz.
Ja, ich bin ein grosser Fan davon, Dinge benennen können.
Was bedeutet Affordanz genau?
Affordanz ist eine Handlungsanweisung, die einem Gegenstand innewohnt. Eine Schere sagt «schneide mit mir», ein Schalter sagt «stell mich an oder aus». Genauso ist ein Kleiderhaufen nicht einfach nur da – ihm wohnt die Handlungsaufforderung inne: «Räum mich weg wasch mich.» Frauen haben gelernt, für diese Dinge verantwortlich zu sein. Dann rufen diese Gegenstände, und das macht unruhig. Ein Wäscheständer, der da steht, wenn man Feierabend hat, sagt: «Ich muss noch abgehangen werden.» Das ist eine typische Partnersituation: Der Mann kann wirklich entspannen, weil er diese Affordanz nicht gelernt hat. Die Frau ist unruhig, und der Mann versteht nicht warum.
Es ist ein Fakt: Frauen tragen die grössere Mental Load als Männer. Wenn ich das sage, ist das keine Schuldzuweisung an die Männer. Ich finde es wichtig, dass Männer sowie Frauen verstehen lernen, um was es geht und was in unseren Hirnen passiert. Darum die Frage: Woher kommt denn diese geschlechterspezifische Verteilung?
Das liegt an der Sozialisation. Wir wachsen durchschnittlich alle als Babys und Kinder mit einer weiblichen Bezugsperson auf. Beide Geschlechter identifizieren sich anfangs mit der Mutter. Irgendwann merken Kinder aber: Die Geschlechter verhalten sich anders. Die Mütter sind eher zu Hause aktiv, die Väter ausserhalb der vier Wände. Buben werden dann vom Vater «rangenommen» – er zeigt ihnen seine Welt. Bei Mädchen gibt es eher einen Block: «Du bist ja wie die Mama.» Sie fühlen sich in die weibliche Welt zurückgeworfen, haben aber noch eine Restsehnsucht nach der anderen Welt. Sie merken: Ich kann selbst kein Mann sein, aber ich kann einen Mann haben. Und einen Mann kann man durch bestimmte Dinge bekommen – ein schönes Zuhause, Gefühlsregulation, einen Hafen bieten.
Wer denkt daran, wer initiiert? Das hat für Paare oft einen grossen Aha-Effekt – auf beiden Seiten. Männer machen auch Dinge, die wir als Frauen gar nicht im Blickwinkel haben.
Welche Folgen hat es, wenn diese Last bei einer Person hängen bleibt?
«Aus Überforderung wird Forderung» – das ist ein Satz vom Paartherapeuten und Psychologen Oskar Holzberg, den ich sehr treffend finde. Irgendwann wird man von der coolen Ehefrau zur «nagging wife», die nur noch nörgelt. Das kann bis zum Burnout gehen. Frauen sind deutlich häufiger von stressbedingten Ausfällen betroffen als Männer. Burnout hat auch mit mangelnder Wertschätzung zu tun – und diese mangelnde Wertschätzung ist ein Problem der Mental Load. Man macht ganz viel Unsichtbares und kriegt dafür keine Anerkennung.
Wie erklärt man das dem Partner konkret?
Eine ganz tolle Grundlage ist der Mental Load-Test auf der Website vom Equal Care Day. Da ist schön vorstrukturiert: Wer denkt daran, wer initiiert? Das hat für Paare oft einen grossen Aha-Effekt – auf beiden Seiten. Männer machen auch Dinge, oft geschlechtsspezifisch, die wir als Frauen gar nicht im Blickwinkel haben. Das Auto in die Reparatur bringen, bei Urlaubsvorbereitung den Reifendruck prüfen – das sind auch oft Sachen, die Frauen im Kopf haben, aber die Männer machen. Das bringt Wertschätzung und nimmt Druck weg.
Als Paar hilft es in einem Dreieck zu denken: Karriere, Beziehungen und Self-Care. Beide haben ein Recht auf alle drei Bereiche.
Du empfiehlst, nicht nur einzelne To-Dos zu übertragen, sondern ganze Prozesse. Kannst du ein Beispiel geben?
Schuhkauf ist ein klassisches Beispiel. Schuhkauf bedeutet nicht, dass ich dem Partner sage: «Es wird warm, wir brauchen neue Sandalen.» Wenn der Partner sagt «Schuhkauf ist mein Thema», dann guckt er selbst, ob die Sandalen vom letzten Jahr noch passen, organisiert selbst einen Termin, geht mit dem Kind los. Vorher besprechen wir das Budget und die Grundanforderungen. Bei allem anderen halte ich mich raus. Auch wenn da eine komische Glitzer-Paw-Patrol-Applikation draufkommt – die Aufgabe ist erfüllt: Sie passen, es sind Sandalen, es ist Sommer, das Budget wurde eingehalten.
Das klingt nach einem grossen Lernprozess für beide Seiten…
Absolut. Ich muss lernen loszulassen, der Partner muss lernen, ganze Verantwortungsbereiche zu übernehmen. Wichtig sind vier Schritte: Erst den Status quo erfassen – eine «Shit-I-Do-Liste» machen, damit sichtbar wird, was alles gemacht wird. Dann aufteilen, aber eben in Prozessen, nicht in einzelnen Aufgaben. Drittens: konkret planen, am besten einmal pro Woche alle Termine und To-Dos besprechen. Und viertens: regelmässig reflektieren, alle vier bis sechs Wochen über die Meta-Ebene sprechen – wie ist es uns ergangen, was lief gut, was nicht?
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Was können Paare tun, wenn einer sagt: «Ich verdiene das Geld, warum soll ich zu Hause noch was machen?»
Das ist auf vielen Ebenen schwierig. Frauen haben strukturell immer einen Nachteil – durch den Gender Pay Gap, durch gesellschaftliche Bewertungen. Eine Mutter mit zwei verschiedenen Socken am Kind wird anders beurteilt als ein Vater. Wichtig ist zu verstehen: Auf was verzichten Männer, wenn sie sich so stark auf Erwerbsarbeit konzentrieren? Vor allem auf Beziehungen zu ihren Kindern. Besser ist es, als Paar ein Dreieck zu denken: Karriere, Beziehungen und Self-Care. Beide haben ein Recht auf alle drei Bereiche.
Spannend, magst du das etwas genauer erklären?
Wir sind beides Menschen mit denselben Rechten. Wir haben beide ein Recht auf Karriere, ein Recht auf seelische Gesundheit und wir haben beide ein Recht auf Beziehungen. Von da aus rückwärts zu planen ist die fairste Art in ein solches Gespräch zu starten. Das bindet die Männer auch ein, weil sie sehen, auf was sie eigentlich verzichten. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man diese Entscheidungen viel bewusster trifft.
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Veröffentlicht am 12. September 2025.
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