Interview
«Und dann kam die erste Fehlgeburt»
Nach ihrer ersten Tochter wünschte sich Karen Merkel ein zweites Kind. Was folgte, waren drei Fehlgeburten in einem Jahr. Im Interview erzählt die Autorin vom Ratgeber «Wunschkind» ihre Geschichte – und macht auf Wissenslücken und Unterstützungsangebote aufmerksam.

Karen, sag mal – hast du mittlerweile ein Tattoo irgendwo auf deinem Körper?
Ich muss gestehen, ich habe immer noch kein Tattoo (lacht).
Du schreibst im Editorial deines Buches*, dass wenn du ein Tattoo stechen lassen würdest, es folgendes Sujet wäre: ein grosser Stern, drei kleine Sterne und ein Stern mit einem kleinen Extra-Zacken. Wofür steht dieses Bild?
Für unsere Geschichte. Der grosse Stern wäre meine Tochter, dann drei kleine Sterne für die drei Schwangerschaften, die ich durch Fehlgeburten verloren habe. Und der kleine Stern mit einem Extra-Zacken wäre mein Sohn, der das Down-Syndrom hat. Ich überlege immer noch, ob ich mir irgendwann ein Tattoo stechen lasse.

Keine Zeit oder zu müde zum Lesen? 😉 Dann hör dir hier das ausführliche Gespräch mit Karen Merkel zum Thema unerfüller Kinderwunsch als Podcast-Folge an 🎧.
Was hat dich dazu gebracht, über diese sehr persönliche Erfahrung ein Buch zu schreiben?
Als Journalistin frage ich mich oft, wenn mich etwas beschäftigt: Wie geht es anderen damit? Für uns war der Kinderwunsch anfangs problemlos. Bei unserer Tochter hat alles gut funktioniert. Beim zweiten Kind dachten wir uns: Legen wir nochmal los. Dann bin ich schnell schwanger geworden – und dann kam die erste Fehlgeburt. Innerhalb eines Jahres hatte ich drei Fehlgeburten.
Wie haben diese Erfahrungen dich verändert?
Obwohl ich als Journalistin viel über Schwangerschaft wusste und mir bewusst war, dass Fehlgeburten häufig sind, war ich plötzlich in einer ganz anderen Dimension. Ich wurde mit Fragen und meinem Körper konfrontiert, auf die ich nicht vorbereitet war. Als ich anfing, offen darüber zu sprechen, merkte ich: Fast jede Person hatte irgendeine Geschichte damit. Da kam der journalistische Instinkt: Vielleicht sollte ich vertiefter dazu arbeiten.
Ich wurde mit Fragen und meinem Körper konfrontiert, auf die ich nicht vorbereitet war.
Welches Wissen, welche Informationen haben dir konkret gefehlt?
Bei aller Informiertheit gibt es Lücken. Man weiss vielleicht theoretisch, dass Fehlgeburten häufig sind, aber was das mit einem als Frau macht, was das für den Körper bedeutet – dreimal hintereinander kurz schwanger zu sein und dann wieder nicht, die hormonelle Umstellung – da gab es viele Dinge, die oft nicht sichtbar sind. Auch wo man Hilfe und Unterstützung findet, ist sehr der einzelnen Person überlassen.
Du hast ja viele Fakten gesammelt. Wie viele Paare sind in der Schweiz von unerfülltem Kinderwunsch betroffen?
Die Weltgesundheitsorganisation spricht von Unfruchtbarkeit, wenn nach einem Jahr ungeschützten Sex keine Schwangerschaft entstanden ist. Das betrifft etwa jedes fünfte Paar. Viele dieser Paare können dann in der Reproduktionsmedizin Hilfe finden, aber es ist erstmal eine relativ grosse Zahl.
Was sind die häufigsten Ursachen?
Die Ursachen sind relativ gleich verteilt: etwa 30 Prozent liegen bei der Frau, 30 Prozent beim Mann, 20 Prozent bei beiden. Und bei einem Fünftel kann die Ursache nie geklärt werden. Das ist gar nicht so selten, dass Paare jahrelang versuchen herauszufinden, woran es liegt, und es wird nie herausgefunden.
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Jedes fünfte Paar ist betroffen. Und dennoch haben viele das Gefühl: Wir sind allein damit. Warum sprechen so wenige darüber?
Ich finde, man muss da unterscheiden. Es ist völlig verständlich, dass man nicht überall darüber spricht, weil es sehr persönlich ist. Bei Frauen im Berufsleben hat der Kinderwunsch auch Implikationen. Wann spreche ich darüber, dass ich eine Fehlgeburt hatte? Das bedeutet ja auch, ich sage damit: Wir haben einen Kinderwunsch. Hat das berufliche Konsequenzen? Es ist auch ein grosser Kontrollverlust, wenn die eigene Lebensplanung nicht aufgeht.
Du hattest drei Fehlgeburten innerhalb von einem Jahr. Ich stelle mir das unglaublich belastend vor. Magst du von diesem Weg erzählen?
Bei der ersten Fehlgeburt war ich völlig unvorbereitet. Ich hatte mir keine Gedanken gemacht, dass es schief gehen könnte. Das war einfach ein grosser Schock. Bei der zweiten habe ich einen anderen Trauerprozess gehabt als mein Mann. Ich habe geweint und war durcheinander, er sagte: «Das war ja noch gar nicht richtig.» Das war schwierig, dass wir an so unterschiedlichen Punkten waren.
Ihr seid unterschiedlich mit der Situation umgegangen. Wie habt ihr diese Zeit als Paar gemeistert?
Wir waren bei den grundsätzlichen Dingen einig, aber der Bezug zu den Fehlgeburten war komplett unterschiedlich. Für mich war es körperlich und emotional eine viel grössere Dimension. Was uns geholfen hat: Wir haben gelernt, uns gegenseitig stehen zu lassen und zu akzeptieren, wo jeder steht, ohne es zu bewerten.
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Die dritte Fehlgeburt war dann in der 13. Woche – in einer Phase, in der man eigentlich denkt, es kommt alles gut.
Wir hatten den Herzschlag bereits gesehen, dann war nur noch ein Kontrolltermin geplant. Plötzlich war kein Herzschlag mehr da. Da habe ich nur gefragt: «Wie viel Zeit habe ich?» Ich war überhaupt nicht in der Lage, Informationen aufzunehmen oder Entscheidungen zu treffen.
Was hat dir in diesen Momenten geholfen?
Am nächsten Tag bin ich nochmal ins Spital und habe nochmal einen Ultraschall machen lassen. Die Ärztin hatte viel Verständnis und hat mir Zeit gelassen, mich zu verabschieden. Ich konnte Abschied nehmen von diesem Wesen, das zu meinem Kind wurde. Anfangs dachte ich: Darf ich das denn? Das ist doch komisch. Aber die Ärztin sagte mir, dass Studien zeigen, dass es Frauen hilft, ihr Kind nochmal zu sehen.
Nach diesem Schock, war für euch klar, dass ihr es nochmals probiert? Oder gab’s da auch Zweifel?
Nach dieser Fehlgeburt wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, ob ich nochmal schwanger werden möchte. Wir haben uns dann Zeit gelassen. Ich habe in der Zwischenzeit den Job gewechselt, auch weil ich einen anderen Fokus brauchte. Als wir dann die Standortbestimmung gemacht haben, war ich unsicher. Aber als mein Mann fragte, ob ich sicher sei, dass wir schon durch sind, merkte ich: Nein, das bin ich noch nicht.
Mein Mantra war: «Nur für heute bin ich schwanger.» Das hat mir geholfen.
Dann wurdest du erneut schwanger und das Baby blieb. Wie hast du vierte Schwangerschaft erlebt?
Ich habe mir professionelle Unterstützung gesucht – eine Hebamme, die auf Folgeschwangerschaften spezialisiert ist. Die Ultraschalluntersuchungen waren schwierig, weil ich aus Erfahrung wusste: Das kann alles oder nichts sein. Bis zum Zeitpunkt, wo die letzte Fehlgeburt war, war ich angespannt. Ich länger niemandem von der Schwangerschaft erzählt, weil ich diese Zeit für mich brauchte. Mein Mantra war: «Nur für heute bin ich schwanger.» Das hat mir geholfen. Nach der ersten kritischen Phase konnte ich mich aber freuen und die Schwangerschaft auch geniessen.
Euer Sohn wurde dann geboren – mit einer besonderen Diagnose.
Bei der Geburt hatte er Atemprobleme. Ein Oberarzt kam und sagte sehr empathisch: Das ist der schwierigste Moment, aber ich habe den Verdacht, dass er das Down-Syndrom hat. Wie er das kommuniziert hat, werde ich nie vergessen. Zuerst stand das Akute im Vordergrund, dann war es eine riesige Umstellung. Wir mussten uns von einer Zukunft verabschieden, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie in mir hatte.
Wie geht es euch heute?
Unser Sohn ist über zwei Jahre alt. Am Anfang dachte ich, das Down-Syndrom würde immer im Fokus stehen. Heute ist es einfach ein Teil von ihm und alles ganz normal für uns. Wir sind an einem ganz anderen Ort. Am Schluss hat uns auch der ganze Kinderwunschprozess ein Fundament gegeben, um mit dieser Situation umzugehen.
*«Wunschkind» von Karen Merkel, Beobachter Edition.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 24. September 2025.
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