Interview über Tweens
«Bei 9- bis 12-Jährigen können Eltern einen Unterschied machen»
Die Jahre zwischen 9 und 12 werden oft übersehen und vor allem: unterschätzt. Dabei sind sie entwicklungspsychologisch besonders bedeutsam. Warum? Und wie schicken Eltern ihre Kinder gestärkt in die Teenagerjahre? Michelle Mitchell, eine der führenden Expertinnen für Tweens und Teenager, im Gespräch.

Michelle Mitchell, ich kannte den Begriff Tween nicht, bis mir eine Freundin Ihr Buch in die Hand drückte. Was genau verstehen Sie darunter?
Viele denken, ein Tween sei ein 12-Jähriger am Rande der Teenagerjahre. Aber Tweens sind im Alter von 9 bis 12 Jahren.
Sie sind überzeugt, dass diese Entwicklungsphase viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Warum?
Tweens sind keine Kinder mehr und doch sind sie noch keine Teenager. Diese Entwicklungsstufe haben wir als Gesellschaft bisher viel zu wenig auf dem Radar. Es ist wenig bekannt, was in dieser Phase im Gehirn passiert – aber es passiert unglaublich viel! Die Forschung zeigt, dass unsere Kinder uns in diesem Alter mehr brauchen, als viele denken. Ich habe viel mit Teenagern gearbeitet und sehe dabei: Bei den 9- bis 12-Jährigen können Eltern den grössten Unterschied machen, das Fenster ist da noch weit «offen».

Keine Zeit oder zu müde zum Lesen? 😉 Dann hör dir hier das ausführliche Gespräch mit Michelle Mitchell als Podcast-Folge an 🎧. Für einmal ist die Episode auf Englisch.
Warum? Was passiert denn genau in dieser Zeit?
Die Tweens bekommen Erwachsenendosen von Hormonen in ihre kleinen Körper geschüttet, von heute auf morgen – und das spüren sie natürlich. Sie verändern sich körperlich, emotional, sozial, kognitiv und sexuell. Wir als Bezugspersonen erkennen das oft nicht, der Prozess ist schleichend. Aber bei Mädchen passiert das bereits mit neun Jahren, bei Buben mit zehn. Das ist natürlich bei jedem Menschen unterschiedlich.
Sie können sich also auch nicht vergleichen mit gleichaltrigen Freundinnen oder Freunden.
Die Kinder fühlen sich wie auf einer Achterbahnfahrt, die einzigartig ist für sie. Manche Kinder entwickeln sich körperlich, aber sie sind sozial etwas verzögert oder umgekehrt. Sie wachen jeden Tag auf und fragen sich: Was ist normal? Ist das normal? Bin ICH normal?
Bei Teenagern ist es ja einfach – man sieht Achselhaare, man riecht plötzlich, wenn vielleicht mal wieder eine Dusche fällig wäre. Die gleiche Brille sollten Eltern schon bei 9-Jährigen aufsetzen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass viele Tweens sogar Angst haben davor, ins Teenageralter zu kommen. Warum?
Nebst den oben genannten, für manche vielleicht auch beängstigenden Veränderungen, liegt das auch daran, was Kinder über die Teenagerjahre von Aussen mitbekommen. Das Bild, das sie sich von ihrer eigenen Zukunft machen. Sie lesen auf Social Media von Teenagern, die in der Schule gemobbt werden. Oder sie hören von den Eltern: «Werde bitte kein schwieriger Teenager». Tweens sind ihren Eltern sehr nah und wollen ihnen gefallen. Es ist doch beklemmend, vielleicht bald jemand zu sein, der den Menschen, die man liebt, bald Kummer bereiten könnte. Diese Vorstellung beängstigt viele – dass sie diese enge Verbindung mit den Eltern für immer verlieren, sich von ihnen lösen müssen.
Wie können Eltern denn erkennen, wann diese hormonellen Veränderungen beginnen? Gibt es Anzeichen?
Bei Teenagern ist es ja einfach – man sieht Achselhaare, man riecht plötzlich, wenn vielleicht mal wieder eine Dusche fällig wäre. Die gleiche Brille sollten Eltern schon bei 9-Jährigen aufsetzen. Die Veränderungen sind körperlich weniger erkennbar. Aber da passiert viel unter der Oberfläche. Entscheidend ist, dass Eltern die Entwicklungen, die in diesem Alter passieren, verstehen und mitbedenken.
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Gerade bei Mädchen sehen wir Eltern häufig die Menstruation als Startpunkt für die Entwicklung zur Teenagerin. Sie sagen aber, es ist der Abschluss. Können Sie das erklären?
Als Eltern suchen wir nach äusseren Anzeichen. Aber wenn die Menstruation einsetzt, heisst das, dass der Körper vorher schon grosse Veränderungen durchgemacht hat. Unsere Buben erleben übrigens genau das Gleiche. Mein Sohn ist ein Paradebeispiel: Er wuchs etwa 30 Zentimeter in weniger als einem Jahr. Und plötzlich hatte er Schuhgrösse 44. Es war ein wahnsinnig anspruchsvolles Jahr. Nach diesem Entwicklungsschub sagte er mal zu mir: «Mama, ich wachte auf und fragte mich manchmal, was bloss mit mir passiert ist.»
Es hilft, die Perspektive der Kinder einzunehmen.
Ja, zu erkennen: Sie haben nicht um diesen Entwicklungsschub gebeten und müssen ihn jetzt durchmachen, ob sie wollen, oder nicht. Ihre Kindheit wird ihnen Stück für Stück weggenommen, ohne dass sie das steuern könnten. Sie passen sich den neuen Umständen genauso an wie wir.
Tweens entwickeln sich so schnell, dass sie nach stabilem Boden suchen. Also wollen sie viel mehr mit uns Eltern herumhängen.
Wie wirken sich diese vielen Veränderungen auf die Eltern-Kind-Beziehung aus?
Die Bindung zu den Eltern wird nochmals richtig wichtig. Ich mache ein Beispiel: Ein Kind hatte einen grossen emotionalen Zusammenbruch, vielleicht nach einem Streit mit dem Geschwister. Es weiss, dass es auch die Eltern damit verärgert hat. Eine Stunde später kommt das Kind zurück und sagt: «Es tut mir so leid, ich hätte mich nicht so verhalten sollen.» Oder vielleicht schreibt es auch einen dieser wunderbaren Briefe, die die meisten Eltern kennen. Kinder sind in dieser Phase so reumütig, weil sie sich mehr um die Meinung ihrer Eltern sorgen, als um alles andere auf der Welt. Das müssen sich Eltern immer wieder bewusst werden.
Was können Eltern tun, um das Kind und die Bindung zu stärken?
Aufmerksam sein und Verständnis zeigen. Kinder brauchen in dieser Phase besonders viel Nähe. Sie wollen vielleicht plötzlich nicht mehr in die Schule, haben – nachdem sie es vielleicht schon viele male gemacht haben – wieder Angst bei Freunden oder bei den Grosseltern zu übernachten. Sie entwickeln sich so schnell, dass sie nach stabilem Boden suchen. Also wollen sie viel mehr mit uns herumhängen. Für Eltern kann es natürlich auch anstrengend sein, wenn sie nachts plötzlich wieder zu uns ins Bett kriechen. Aber seien Sie sich bewusst: Es ist eine Zeit, in der es wichtig ist für ihre Kinder, sich sicher zu fühlen, damit sie danach wieder in die Welt gehen können.
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Haben Sie weitere solche Beispiele?
Kinder identifizieren sich in diesem Alter sehr stark mit uns Eltern. Ein Bub in der fünften Klasse sagt vielleicht: «Mein Papa kann 120 Kilo heben, ich bin so stark wie er!» Bei Teenagern, die sich stark abgrenzen, wär es ja der grösste Fehler als Eltern zu sagen: «Du bist grad genauso wie ich damals mit 14 Jahren.» Aber im Alter von 9 bis 12 Jahren sind sie voll da. Im Sinn von: Du und ich – lass uns passende Outfits aussuchen oder zusammen einen Film schauen, den wir beide lieben. Sie wollen ein Rad vor den Eltern schlagen, zeigen, wie hoch sie auf dem Trampolin springen können. Sie wollen, dass die Familie zu jeder Ballettaufführung kommen und viele Fotos machen. Sie wollen, dass sie das wichtigste Kind auf der ganzen Welt sind.
Kinder machen in diesem Alter also eher einen Schritt zurück in der Selbstständigkeit?
Das ist richtig. Und das macht den Eltern teils natürlich Sorgen. Sie fragen sich: Entwickelt mein Kind ein Angstproblem? Ich kann da entlastend antworten: Das ist entwicklungsbedingt alles normal. Und wenn die Eltern den Kindern in dieser Phase diese Nähe und Sicherheit geben können, helfen wir ihnen mit Blick auf die Teenagerjahre sehr. Ich denke, wir drängen sie heutzutage zu schnell in die nächste Entwicklungsstufe.
Wie können Eltern beim Thema Selbstwertgefühl und Vergleichen unterstützen?
Meine Botschaft ist da: Es geht nicht darum, ob sich Kinder vergleichen, sondern wie. Ich will nicht, dass meine Kinder mit aufgeblähtem hohem Selbstwertgefühl durch die Welt gehen. Ich will, dass sie eine realistische Einschätzung von sich selbst haben. Sie ihre Stärken und Schwächen erkennen und wissen, dass das nichts mit ihrem Wert als menschliches Wesen zu tun hat. Ihr Wert wird nicht dadurch bestimmt, was andere Menschen von ihnen denken.
Eltern halten im Grunde die Stellung, während das Kind lernt, wie es über sich selbst denkt.
In der Theorie ist das ja sehr gut. Aber wie bringe ich das als Mutter oder Vater im Gespräch rüber?
Nehmen wir ein praktisches Beispiel: Mein Kind kommt nach Hause und sagt: «Ich bin schlecht im Sport» oder «zu klein». Als Mutter oder Vater sehe ich nun, dass das Kind solche Dinge bemerkt und ich muss mich fragen: Ist es vielleicht wahr? In meinem Fall war ich das kleinste Kind in meiner Klasse – das war so, ein Fakt. Und da war niemand, der mir den Schmerz darüber hätte wegnehmen konnte. Es gibt manche Dinge, die wir nicht mit unseren Kindern wegdiskutieren können.
Das klingt ganz schön hart.
Zuallererst ist es doch gut, dass das Kind alles so wahrnehmen kann. Nur so können Menschen nämlich für sich feststellen, worin sie gut sind und worin nicht. Als Mutter würde ich sagen: «Ich sage dir, wie ich dich durch meine Augen sehe. Vielleicht ist das ganz anders als du dich siehst. Du weisst ja, ich bin immer in deinem Team. Aber wichtig ist, was du selbst in dir siehst. Du gehst durch die Welt mit deiner eigenen Perspektive.»
Ein sehr anspruchsvolles Gespräch für das Alter.
Das ist so. Eltern halten im Grunde die Stellung, während das Kind lernt, wie es über sich selbst denkt. Die Kinder hängen sehr an dem, was Mama denkt und oder an den Familienwerten. Als Eltern kann man zuschauen, wie sie sich langsam davon lösen. Plötzlich hört man Sätze, wie: «Das ist, was du denkst, Mama, aber nicht unbedingt, was ich denke.» Sie lernen zu erkennen: «Mama’s Standpunkt ist ein Standpunkt in der Welt, ich werde ihn in Betracht ziehen, aber ich verankere nicht meine ganze Perspektive darauf.»
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Sie haben praktische Konzepte wie den «Vertrauensraum» entwickelt. Können Sie das erklären?
Jede Familie braucht einen Raum oder einen Ort für wichtige Gespräche. Bei uns waren das verschiedene Orte. Als meine Kinder Teenager waren, war es oft das Auto: Wir fuhren irgendwo hin – Seite an Seite, aber nicht mit direktem Augenkontakt. Das kann aber auch das Schlafzimmer sein. Wichtig ist, dass es beide Wege gehen kann – nicht nur, dass ich sie in den Vertrauensraum ziehe, sondern dass auch sie kommen können.
Sie erwähnen im Buch auch einen Buzzer für zu Hause.
Einen solchen Buzzer habe ich als Beraterin Familien auch schon mit nach Hause gegeben (lacht). Die Idee: Legt den Buzzer auf den Küchentisch. Wenn Gespräche und Diskussionen überhitzen oder in einen Streit ausarten, hat jedes Familienmitglied das Reht, den Buzzer drücken. Dann gibt’s eine kurze Pause. So spüren Kinder, dass Respekt in beide Richtungen geht. Sie erhalten ein Mitsprachrecht.
Ich sage nicht: Eltern, gebt eure Jobs auf. Aber ich appelliere: Nutzt diese qualitative Zeit mit den Kindern.
Was bedeutet das alles für die Rolle der Eltern in diesen Jahren? Man denkt ja eher, man ist aus dem Gröbsten raus.
Ich höre eher von Eltern, die ihr Arbeitspensum nochmals reduzieren, weil sie spüren, dass es sie gerade wirklich braucht. Ich glaube diese Investition in die Kinder macht in dieser Phase nochmals Sinn. Ich mache gerne diese Metapher: Denken Sie an Bäume, die im Frühling blühen. Das Gehirn der Kinder wächst in dieser Phase stark hin zum Licht. Und dieses Licht sind die Mütter und die Väter. Je mehr Aufmerksamkeit und Zeit sie ihnen geben können, desto besser. Es ist nochmals eine Chance, den Kindern die wichtigsten Werte mitzugeben. Mit 15 Jahren ist diese Offenheit viel weniger da, weil die Kinder immer mehr zu ihrer eigenen Person werden. Sie haben ihr eigenes Leben, ihren eigenen Zeitplan.
Das ist eine grosse Herausforderung für berufstätige Eltern.
Ich sage nicht: Eltern, gebt eure Jobs auf. Ich habe auch alleinerziehende Mütter beraten, für die weniger Arbeiten keine Option ist. Dennoch appelliere ich: Nutzt diese qualitative Zeit mit den Kindern.
Zum Abschluss: Was ist Ihr wichtigster Rat für Eltern von Tweens?
Ganz generell: Wenn da etwas ist in der Beziehung zum eigenen Kind, was sich wie Trümmer auf der Landebahn anfühlt – Unausgesprochenes, Ungeklärtes – räumt es jetzt weg. Füllt den Tank mit Liebe auf und stellt sicher, dass die Verbindung jetzt wirklich stark ist. Dann können die Teenagerjahre kommen (grinst).
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Veröffentlicht am 27. Oktober.
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