Bye, bye Baby – meine Tochter zieht in die Welt hinaus
Meine Tochter wird erwachsen. Auch wenn ich diesen Moment herbeigesehnt habe, stehe ich verloren und heulend am Bahngleis.
Schlussszene am Bahnhof: Ich stehe am Ende des Perrons von Gleis 9. In der Ferne erstrahlt der Prime-Tower im Licht der aufgehenden Sonne. Die Bahnhofsuhr leuchtet gelb und zeigt exakt 6.31 Uhr. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung.
Und mit ihm eine junge Frau. Mein Baby.
Eben noch Kind, jetzt schon erwachsen. Den Kopf voller Flausen und bar jeder Lebensweisheit.
Aber erwachsen genug, um ganz alleine in die weite Welt zu reisen. Ich winke und lache und mache Faxen durchs Fenster. Sie zieht eine Schnute und winkt zurück.
Dann trägt sie der Zug aus meinem Blickfeld. Er fährt weiter bis nur noch die roten Schlusslichter sichtbar sind. Die Sonne steht hell am Himmel, die Bahnhofsuhr ist erloschen.
6.33 Uhr. Mein Baby ist weg, für lange Zeit weit weg von zu Hause. Ich stehe erstarrt da und lasse meine Winkehand zusammen mit meinem Grinsen absacken.
Was habe ich getan? Habe ich tatsächlich mein Baby in diesen Zug einsteigen und ohne mich abfahren lassen? Habe ich sie gehen lassen, alleine, schutzlos und mit zwei Tonnen Gepäck, die sie unmöglich selber tragen kann? Wie konnte ich nur!
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Meine Tochter ist erwachsen geworden
Als Erstes steigt sie bestimmt in den falschen Zug um, dann wird sie ausgeraubt. Und zuletzt verliert sie das Mobile und kann mich nicht mehr erreichen.
Ich heule haltlos und finde mich sogleich peinlich, obwohl sich keine Menschenseele am Ende des Perrons befindet.
Etwas mehr Würde, bitte! Und Kaffee. Solche Lebensereignisse kann Frau unmöglich ohne Kaffee überstehen!
Auf dem Weg zum Kaffeestand beginnt ganz leise und immer lauter werdend der Song «Wild World» von Cat Stevens in meinen Ohren zu spielen:
«Oh, baby, baby, it’s a wild world
It′s hard to get by just upon a smile
Oh, baby, baby, it’s a wild world
I′ll always remember you like a child, girl»
Ein der Situation durchaus angemessener Soundtrack, finde ich. Dass sich Cat Stevens zum Tinnitus der nächsten Tage entwickeln würde, wusste ich da noch nicht.
Ich denke manchmal, ich weiss gar nichts.
Elternmission erfüllt, aber ich bin nicht erleichtert
Seit 17 Jahren bin ich Mutter und habe keine Ahnung, was mit mir in Situationen wie diesen passieren kann. Noch vor Wochen hatte ich mich auf diesen Moment gefreut.
Was sage ich: Ich hatte ihn herbei visualisiert!
Wie ich selbstzufrieden dem Zug den Rücken kehren und mit einem Gefühl der Leichtigkeit nach Hause schlendern würde. Wie ich zu Hause neben dem Namen meiner älteren Tochter einen fetten, roten Haken setzen würde. Erledigt!
Schule abgeschlossen, Lehre in der Tasche, auf dem Weg in den Auslandsaufenthalt und ins erwachsene Leben!
Mission erfüllt. Freiheit!
Für meine Tochter mochte das stimmen. Ich begegne der Situation mit Milcheinschuss und dem starken Gefühl, von innen von einem Baby getreten zu werden.
Jetzt heisst es loslassen
Dabei war das letzte Jahr alles andere als einfach gewesen. Die Lehrstellensuche brachte viele neue Erfahrungen mit sich. Sowohl für meine Tochter als auch für mich.
Früher Klassenbeste musste sie sich plötzlich anstrengen, um etwas zu erreichen. Sie machte erste Erfahrungen mit Erfolg und bald darauf auch erste Erfahrungen mit Absagen.
Für sie fühlten sich die Absagen wie Ablehnung an.
Das tat auch mir weh und am liebsten hätte ich alles für sie geregelt. Doch es gab für mich nichts zu regeln. Stattdessen redete ich auf sie ein.
Den Mut nicht verlieren, dranbleiben, den Selbstwert bewahren, nicht persönlich nehmen, an sich glauben, sich Mühe geben, sich anstrengen, kämpfen und am Schluss gewinnen. Ist ja nicht für immer. Hauptsache mal mit etwas beginnen.
Und: Glaube mir!
Klingt plausibel und verständlich. Hört sich aber für eine Teenagerin, die keinen Plan hat, was sie werden will, keinen Bock auf Arbeiten hat und sich nach ein paar Absagen traumatisiert fühlt, wie das Summen des Kühlschranks an.
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Schon bald bastelte sich mein Kind ein eigenes, kleines Burnout, chillte die meiste Zeit auf dem Sofa vor dem TV, um sämtliche Staffeln Sex & The City zu bingen, anstatt sich dem Wettbewerb um Lehrstellen zu stellen.
Mal abgesehen davon, dass Mr. Big in Sex & The City heutzutage gar nicht mehr geht, machte es mich wahnsinnig, meine Tochter reglos auf dem Sofa liegen zu sehen, während draussen das Leben vorbeizog.
Ein paar klare Worte ohne pädagogischen Wert, dafür mit militärischem Einschlag, brachten erstaunlicherweise wieder Schwung in die Lehrstellensuche.
Letzlich hat sie es gepackt und eine Lehrstelle gefunden. Mit Selbstinitiative und ganz aus eigener Kraft. Sie musste sogar ein bisschen darum kämpfen und freut sich nun riesig darauf.
Und wie ich mich für sie freue!
Nobody puts baby in the corner
Wie als Sahnehäubchen kam die Idee mit dem Auslandsaufenthalt, um Zeit zu überbrücken bis zum Lehranfang. Was für eine tolle Idee! Ich bin so stolz auf meine Tochter. Alles hat sie richtig gemacht und alles läuft perfekt.
Bis zu dem Moment heute Morgen auf dem Perron von Gleis 9, als der Zug abgefahren war und nichts als rote Rücklichter und Fragen hinterliess:
Wann ist sie so gross und selbständig geworden? Wie konnte das geschehen, ohne dass ich es bemerkt habe? Und was ist eigentlich mit mir in dieser Zeit passiert?
Bin ich ebenfalls gewachsen? Und werde ich selbständig sein ohne sie?
Ich denke schon. Sonst habe ich ja noch ein zweites Kind. Und zumindest meine Füsse sind grösser geworden. Vielleicht sollte ich mir zur Feier des Tages neue Schuhe kaufen, wie Carrie Bradshaw in Sex & The City. Gewisse Dinge gehen immer, vor allem heute.
«…but if you wanna leave, take good care
I hope you have a lot of nice things to wear…»
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Veröffentlicht am 10. September 2024
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