Andrea Jansen ist mal ehrlich: Bin ich aus dem Gröbsten raus?
Date Night ohne Babysitter – eine neue Ära beginnt. Ist Elternsein automatisch weniger anspruchsvoll, wenn die Kinder selbständiger sind? Oder werden mit der Autonomie auch die Probleme sprichwörtlich grösser?

«Wann waren wir eigentlich zum letzten Mal zusammen alleine im Kino?», raunte ich meinem Mann zu. Im Saal lief bereits die Werbung, mein Handy leuchtete etwas zu hell.
«Her» hiess der Film, daran konnten wir uns erinnern. Scarlett Johannssons Stimme als AI in der Hauptrolle. Johannsson beziehungsweise die AI Samantha war vor Kurzem wieder in den Medien, weil die Realität die Fiktion schon beinahe eingeholt hat. Und auch, weil ChatGPT Voice elf Jahre danach ziemlich dreist Johannssons Stimme kopiert hat.
Elf Jahre! So lange waren wir also nicht mehr gemeinsam im Kino gewesen, weil das Erlebnis damals ernüchterte: Date Night, das erste und einzige Kind noch kein Jahr alt und zu Hause mit der Nanny, wir beide viel zu müde, um im Kinosessel nicht ständig einzunicken.
Hätten wir doch lieber einfach zwei Stunden miteinander geredet, war das Fazit.
Und die Konsequenz: viele Jahre nur noch Netflix & Chill zu Hause.
Bis vor zwei Wochen eben. Zurich Film Festival, eine Dokumentarfilmpremière mit anwesendem Produzenten. Ich fühlte mich sehr erwachsen. Nicht so middle-age-ig, schon beinahe cool, aber das sagt die Gen Alpha heute ja nicht mehr, sondern «sigma’. (Aber DAS darf ich – schwör, Mami! – nie öffentlich benutzen. Ihr habt das nie gelesen.)
Ich genoss es sehr. Und dennoch:
Trotz äusserem Stoizismus war ich innerlich angespannt.
Alle zehn Minuten wanderte mein Blick aufs Handy: Unsere Kinder waren alleine zu Hause. Wir sind offiziell in dieser Phase angekommen, in der das möglich ist.
Wir können unsere Kinder gut mal zwei Stunden sich selber überlassen – alles, was sie brauchen, ist die Fernbedienung und den Pizzakurier auf der Direktwahl. Hätte mir das vor eben diesen elf Jahren jemand erzählt, mir wäre wohl der Kopf explodiert.
Unvorstellbar, damals. Diese zuvor selbstverständliche und unterschätzte Freiheit schien unerreichbar weit weg, als wir das erste Kind noch täglich davor behüten mussten, sich selber unabsichtlich umzubringen.
Jetzt sind wir also gemäss Definition wohl aus dem Gröbsten raus.
Wahrscheinlich schon viel länger, denn mit dem «Gröbsten» verbindet man Windeln, schlaflose Nächte und Tage, an denen man es nicht aus dem Pyjama schafft. Diese Zeit war, zugegebenermassen, ganz schön grob und ich erinnere mich immer wieder an die ersten drei Monate als Mutter, die sich für mich anfühlten wie drei Jahre.
Nach drei Monaten würden die Koliken weniger, hatte ich gelesen, der Rhythmus würde besser, sagte man mir, ich würde irgendwann nicht mehr im Stehen einschlafen. Ich hoffte.
«Alles nur eine Phase.» Der Satz ist das «Live Love Laugh» aller Eltern, die grad im Gröbsten mittendrin stecken. Ein abgenutztes Mantra, oft aufgedruckt auf einer Kaffeetasse (wie passend), das einen irgendwie ermuntern soll, das alles nicht so ernst zu nehmen. In den anstrengendsten Momenten würde man die Tasse aber am liebsten an die Wand schmeissen.
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Aber wer definiert denn, was das Gröbste ist?
Ist das nicht – wie eigentlich alles an dieser Eltern-Journey – individuell? Braucht es eine Wertung, den Vergleich von verschiedenen Lebensphasen? Müssen wir eine gröbste, eine schönste küren? Oder darf es einfach dann streng – oder schön, oder beides gleichzeitig – sein, wenn man es persönlich so empfindet?
Meine persönliche Hitliste von Phasen, die ich jetzt nicht so prickelnd fand, führt nämlich eine an, in der ich zwar ausgeschlafener war, dafür aber auch nicht mehr mit Baby-Endorphinen vollgepumpt:
Die «Ich-kann-es-zwar-noch-nicht-aber-will-es-umsverrecke-Phase»
Sie findet möglicherweise zwischen 12 und 16 Monaten statt und jeder Ausflug zum Spielplatz bedeutet, dass man entweder selber auch mit rutscht (Jeeeeeh! Not.), konstant gebückt mitrennt (aber doch mit genügend Abstand, weil man ja nicht als Helikoptermutter gelten will) oder krasse Nerven mitbringt und die Gehirnerschütterung als Teil der motorischen Entwicklung in Kauf nimmt.
Kombiniert mit der Autonomiephase vom älteren Kind brachte mich das hart an meine Grenzen.
Ich musste gleichzeitig festhalten und aushalten, meine eigenen Bedürfnisse passten noch knapp auf ein Zehnrappenstück. Wer mir heute erzählt, er oder sie habe ein ein- und ein dreijähriges Kind zu Hause, kriegt ungefragt eine Umarmung. So grob empfand ich das, subjektiv.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen.
Für mich waren und sind sie wichtig, die schwierigen Momente. Und meine kleinen Menschen, die durch diese Phasen hindurchgegangen sind, fand und finde ich noch immer grossartig. Und auch die Erfahrung als Eltern per se. Nur halt nicht immer.
Oft beobachte ich mich selber wie in einem Film, womit wir wieder im Kino angekommen wären. Noch öfter beschleicht mich aber das Gefühl, ich befände mich in einem Videogame.
Elternsein mit verschiedenen Levels
Hat man eine Phase gemeistert, muss man sich in der neuen Welt erst wieder orientieren, die Tricks rausfinden und Gegner besiegen (Ich denke da an Super-Mario-Bowser als hässigen Glaubenssatz, der in meinem Kopf hockt).
Sind die Kinder noch kleiner, besteht die Challenge darin, das Stück Brot korrekt zu schneiden und Peterli auf der Pasta zu vermeiden. Sind sie grösser, wird alles leiser. Direkte Kommunikation funktioniert seltener, Subtext und Timing sind alles.
Einfacher fühlt es sich nicht an.
Zeitgleich mit dem Wegfall der Babysitterin, die wir nun nicht mehr brauchen, sind neue Töne in unser Leben eingezogen. Knallende Türen, lautes Protestgeheule, der Satz «Du. Bisch. SO. Doof / Gemein / Peinlich / ______». Die komplette Renovation, die in so einem jugendlichen Gehirn stattfindet, ist zwar noch nicht in vollem Gange – aber hier und da werden definitiv erste Synapsen gekappt. Ich trage vorsichtshalber schon mal einen emotionalen Schutzhelm.
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Kleine Kinder, kleine Probleme. Grosse Kinder, grosse Probleme: Quatsch.
Selten so einen Seich gehört, zumindest seit «Ein Kind ist kein Kind». Die Herausforderungen sind andere, die Lösungen auch, und die Umstände sowieso.
Grössere Kinder brauchen uns nicht weniger als die Kleineren.
Beziehung wird nicht weniger wichtig, auch wenn lieben jetzt noch mehr loslassen bedeutet. Vielleicht müssen wir nicht mehr ständig «da» sein, aber eben unbedingt dann, wenn es uns braucht. Diese Momente gilt es zu erspüren.
Ich bin noch nicht ganz bereit für diese nächste Phase. Aber ganz ehrlich: Ich war es auch für die anderen nie. Mal sehen, wie sie wird.
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Veröffentlicht am 31. Oktober 2024
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