Kommentar
Schämt euch, ihr schlechten Eltern
Eine Kampagne von Zürcher Gemeinden und Schulen zielt auf die Bildschirmzeit von Eltern und Kindern ab – und trifft daneben. Mütter und Väter brauchen beim Thema digitale Medien keine Schuldgefühle, sondern Unterstützung.

Jöö, das süsse Baby! Es liegt am Boden und brabbelt.
Aber he, was macht der Papa?
Er sitzt auf dem Sofa und SCHAUT AUFS HANDY!
«Baby-Momente haben keinen Replay-Button», steht in grosser Schrift über diesem Bild. Und dann: «Kinder brauchen nicht viel. Nur unsere Zuwendung.»
Dieses Video ist Teil einer Kampagne von Zürcher Schulen und Gemeinden. Sie heisst «Go Offline – keine digitalen Medien bis 4 Jahre», will «Eltern und Bezugspersonen für einen bewussten Umgang mit digitalen Geräten» sensibilisieren «und zeigt, wie Kinder ohne elektronische Medien mehr erleben und sich entfalten können». Zur Kampagne gehören Plakate, Videos und eine Website. Später sollen weitere Angebote dazukommen.
Die Message, die dieses Video verbreitet – alle drei ersten Sujets der Kampagne: Es ist ganz, ganz schlecht, wenn Eltern im Beisein ihres Kindes am Handy sind. Es ist auch ganz, ganz schlecht, wenn kleine Kinder vor einem Bildschirm sind.
Das Gefühl, das die Kampagne vermittelt – und Gefühle sind in der Werbung nun mal entscheidend – ist: Schuld. Vielleicht sogar Scham. Die meisten Eltern dürften sich mindestens ertappt fühlen beim Betrachten dieser drei Sujets. Die Plakate schreien uns an: Fühlt euch schlecht – tut das nicht!
Schuld und Scham machen aus mir keine bessere Mutter. Niemand lernt gut, wenn er oder sie sich schlecht fühlt.
Das Problem ist, dass Schuld und Scham zwar kurzfristige Verhaltensänderungen hervorrufen mögen (ich lege mein Handy weg, grad wenn ich das Plakat sehe). Längerfristig machen sie aber aus mir keine bessere Mutter. Ich fühle mich einfach schlechter als vorher. Lust, auf dieser Website nach Ausflugstipps zu stöbern, vermittelt mir diese Kampagne schon gar nicht.
Dass Beschämung in der Erziehung nicht hilfreich ist, wissen wir aus der Entwicklungspsychologie. Niemand lernt gut, wenn er oder sie sich schlecht fühlt – weder Kinder noch Erwachsene. Von einer anscheinend breit abgestützten Kampagne, die von Schulen mitgetragen und von öffentlichen Geldern finanziert wird, würde ich eine Kommunikation auf Augenhöhe der Bürgerinnen und Bürger erwarten.
Das Negativbeispiel aus Berlin
Es gibt eine ältere Kampagne aus Berlin, die sehr ähnliche Botschaften vermittelt wie die brandneuen «Go Offline»-Sujets: «Heute schon mit Ihrem Kind gesprochen?», steht da. Auch 2018 schon schaukelte ein armes Kind alleine, weil seine Bezugsperson aufs Handy fixiert war.
Ich weiss von einer Expertin für Kinder und Medien, welche die Kampagne aus Berlin in ihren Referaten vor Fachpersonen jeweils als Negativbeispiel zeigt. «Ab sofort habe ich ein aktuelles aus der Schweiz», sagte sie mir mit einem bitteren Lachen. Der Appell ans schlechte Gewissen helfe nicht, um Eltern ins Boot zu holen.
Was ebenfalls nicht hilft, sind willkürliche Altersgrenzen und absolute Verbote wie «keine Bildschirme bis 4», wie sie «Go Offline» propagiert. Sogar der Psychoanalytiker Serge Tisseron, der die berühmte 3-6-9-12-Regel erfand und einst keine digitalen Medien unter 3 empfahl, hat seine Regeln schon vor Jahren angepasst. Heute empfiehlt er: Unter drei keine Bildschirme ohne Begleitung.
Das Thema beschäftigt auch unsere Community:

Ist es okay, wenn das 2-jährige Kind mit dem Geschwister «mitschaut»?
Oder stell deine eigene Frage.
Digitale Medien, gerade Smartphones, gehören zu unserem Alltag. Auch den Kampagnenverantwortlichen ist nach eigenen Aussagen bewusst, dass ihre Empfehlung «stark abweicht von der heutigen Realität in vielen Familien» (siehe Box). Klar ist: Kleine Kinder brauchen keine digitalen Medien. Aber ob sie ihnen schaden, ist eine andere Frage.
Das haben Forschende im Rahmen des Projekts «Kinder und Digitale Medien» (KiDiM) jüngst gemacht. Sie haben über 150 Studien systematisch analysiert. Die Auswertung zeigt: Die Befunde zu möglichen negativen Auswirkungen von Bildschirmkonsum auf die Entwicklung von Kindern bis drei Jahren und solche ohne nachweisbaren Zusammenhang halten sich in etwa die Waage.
Ein absolutes Verbot, wie es diese Kampagne propagiert, empfehlen Fachleute sowieso nicht – eher im Gegenteil.
Angstmache, «moral panic», ist fehl am Platz. Denn Eltern sind ja nicht doof.
Angstmache, «moral panic», ist fehl am Platz. Denn Eltern sind ja nicht doof. Die meisten Eltern (und gerade die gut gebildeten, die wie die Kampagnenmodels in geräumigen Wohnungen sitzen) wissen nämlich sehr wohl um die Risiken von Bildschirmen – und sie machen es grösstenteils wirklich gut. Das zeigt die grosse SWIPE-Studie.
Das 2-Jährige, das den ganzen Tag im Buggy vor dem iPad sitzt, ist die traurige, aber grosse Ausnahme – und seine Eltern gehören zu einer besonders vulnerablen Gruppe, die ganz bestimmt nicht durch belehrende Plakate zu einer Verhaltensänderung motiviert werden: Eltern, denen es psychisch und/oder physisch schlecht geht, die sozial isoliert sind, die finanziell unter hohem Druck stehen. Ob ihnen so eine Kampagne hilft?
Noch mehr böse Blicke in der Öffentlichkeit
Ich habe auch bei anderen Fachstellen nachgefragt. Lulzana Musliu, Leiterin Politik & Medien bei Pro Juventute, will die Kampagne nicht beurteilen, da sie diese zu wenig kennt. Grundsätzlich «begrüsst sie jedoch, wenn Projekte Eltern sensibilisieren und den Dialog über Mediennutzung im Familienalltag fördern, gerade auch auf lokaler Ebene».
#daschamebruuche aus unserem Concept Store
Sie sagt allgemein zu Präventionsarbeit: «Grundsätzlich hat sich gezeigt, dass Botschaften besonders wirksam sind, wenn sie Orientierung und Sicherheit vermitteln, anstatt ausschliesslich Verbote auszusprechen.» Konkret: «Klare, einfache Empfehlungen verbunden mit Verständnis für die alltäglichen Herausforderungen erreichen Eltern am besten – und dies gilt insbesondere auch für vulnerable Familien.»
Meine persönliche Befürchtung ist, dass die provokanten Sujets nicht nur nichts nützen – sondern sogar schaden. Weil solche Bilder und Videos auch ein elternfeindliches Klima weiter begünstigen, wie es uns aus jeder Kommentarspalte entgegenspringt. Müssen wir jetzt echt noch mehr böse Blicke im Zug ertragen, weil wir das Kind (um die Mitreisenden nicht zu stressen notabene) kurz mit einem iPad ablenken? Viel mehr als Moralin und weitere Schuldgefühle bräuchten viele Eltern handfeste Unterstützung in ihrem oftmals stressbelasteten Alltag.
«Kinder brauchen nicht viel. Nur unsere Aufmerksamkeit»: Wenn ich diesen Claim lese, möchte ich schreien.
Apropos Stress und Belastung: «Kinder brauchen nicht viel. Nur unsere Aufmerksamkeit»: Bitte, was? Wenn ich diesen Claim lese, möchte ich schreien. Ich bin seit 10 Jahren Mutter, und bei aller Liebe – wenn ich an meinen armen Körper, meine schlaflosen Nächte, meine Nerven, meine Freizeit und meinen Kontostand denke, muss ich widersprechen: Doch, Kinder brauchen sehr viel. Wer ist das Zielpublikum, das sich in dieser Aussage wiederfinden soll?
Und warum bitte «nur» Zuwendung? «Nur» Aufmerksamkeit? Ist das etwa nichts?
Nach all der Kritik möchte ich jetzt aber doch noch versöhnlich enden (weil, eben: man lernt nicht gut, wenn man sich schlecht fühlt). Deshalb zum Schluss ein positiver Aspekt: Im Rahmen der Kampagne ist auch geplant, dass Eltern einmal im Monat im Familienzentrum Uster ihre Geräte von einem Profi kindersicher einstellen lassen können und eine Medienpädagogin Beratungen anbietet.
DAS ist mal ein hilfreicher Ansatz!
Bitte mehr davon. Und weniger Eltern-Shaming.
Information
Und was sagen die Verantwortlichen?
Die im Kommentar erwähnten Plakate und Videos sind nur einer der Pfeiler der «Go offline»-Kampagne, wie Andrea Faeh erklärt. Sie ist Leiterin Kindheit, Jugend und Inklusion bei der Stadt Uster und verantwortlich für die Kampagne. Diese baut auf drei Pfeilern auf: Provokation, Information, Alltagstipps. Auf der Website finde man Informationen, Tipps für mehr Offline-Zeit, aber auch Anleitungen für Kindersicherheitseinstellungen auf Geräten. Und bald sollen weitere Angebote dazukommen, etwa Offline-Zonen in Geschäften und die erwähnten Werkstatt-Nachmittage im Familienzentrum.
Andrea Faeh sagt, dass ein absolut bildschirmfreies Leben bis 4 Jahre heute «nicht realistisch» sei. Aber um die Eltern auf die Problemlage aufmerksam zu machen, brauche es zuerst ein Aufrütteln, sagt Faeh: «Ziel dieser Kampagne ist darum klar auch die Provokation, weil wir die Eltern mit den herkömmlichen Mitteln, wie beispielsweise Elternbildungsveranstaltungen, nicht mehr erreichen.»
Sandro Walder von der Agentur Stuiq hat die Kampagne umgesetzt. Er sagt: «Bei dieser Kampagne geht es nicht darum, Eltern anzuklagen oder neue Medien zu verteufeln. Sondern den richtigen Umgang damit zu lernen. Darum sind unsere Zielgruppen neben den Eltern auch Grosseltern, Bezugspersonen, Lehrpersonen und Fachkräfte.» Ziel der Kampagne sei es, Menschen wachzurütteln, für dieses gesellschaftlich wichtige Thema zu sensibilisieren und für die Kampagnenwebseite zu gewinnen, auf der sie sich mit dem Thema digitale Medien vertieft auseinandersetzen könnten.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 5. September 2025.
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