«Drama Queens»? Ernsthaft, liebe Migros?
Ein Kind wirft sich beim Einkaufen auf den Boden, weil es den Riegel oder das Plüschtier nicht bekommt. Die Migros wirbt zurzeit auf einem Sujet mit genau dieser Situation und schreibt dazu: «Unser Boden ist eure Bühne». Warum das problematisch ist.

Ein kleiner Bub sitzt auf dem Boden und weint verzweifelt. Dazu stehen die Zeilen «Merci, Drama Queens. Unser Boden ist eure Bühne». Mit diesem Sujet wirbt die Migros unter anderem in einer aktuell grossangelegten Kampagne. Zum 100-jährigen Bestehen sagt sie den Menschen darin «Merci».
Das Plakat soll «mit einem humorvollen Ansatz auf eine alltägliche Situation hinweisen, die viele Eltern kennen», erklärt die Migros. Die Detailhändlerin will Eltern, Grosseltern oder Tanten und Göttis abholen und ihnen mit einem «spielerischen und ironischen Ton» vermitteln:
Ein kindlicher Wutausbruch in der Migros ist ein «kleines Drama des Alltags» und imfall okay.
Ist es das? Okay?
Abseits der geschönten Werbewelt fühlt es sich nämlich eigentlich nie okay an. Wer regelmässig mit Kleinen unterwegs ist, kennt die Stresssituation Einkaufen mit Kindern. Es gibt so vieles, das die Lust oder das Interesse weckt – und immer heisst’s dazu: Nein. Frust ist vorprogrammiert.
Als Eltern muss man beim Gang durch das Geschäft gefühlte hundertmal auf dieses Nein beharren. Nur mit ausgeklügelten Ideen («weisst du, das Stofftier wohnt hier und seine Freunde sind traurig, wenn es nicht mehr da ist») oder eben ganz viel Geduld schafft man es ohne grösseren Zwischenfall zur Kasse.
Schreianfall und böse Blicke an der Kasse
Dort wartet dann die grösste Hürde überhaupt: Schokoladenriegel, Gummibärli oder Kaugummi griffbereit und auf Augenhöhe der Kinder platziert. Und das an einem Ort, wo man meistens eine Weile anstehen muss.
Spätestens an dieser Stelle – und ja, darauf ist wirklich jedes Mal Verlass – eskaliert die Situation. Das Kind wird von seinen Gefühlen übermannt und setzt sich – wie auf dem Werbesujet der Migros – wütend, frustriert und in der Folge weinend auf den Boden. Böse Blicke sind einem dann auf sicher.
Ganz ehrlich, liebe Migros: Okay fühlen sich solche Situationen für Eltern nie an – auch wenn das Werbesujet das mit witzigem Unterton zu suggerieren versucht.
Der Puls steigt, der ganze Körper verspannt sich. Obwohl man innerlich kocht, versucht man für all diejenigen, die an der Kasse nebendran stehen, den Schein zu wahren und ruhig zu bleiben.
In 99 Prozent der Fälle kochen die elterlichen Emotionen über. Warum? Weil das Nervensystem in 99 Prozent der Fälle schon in den Stunden davor überstrapaziert wurde. Und weil der Schlaf mit kleinen Kindern im Haus in 99 Prozent der Fälle NICHT erholsam ist.
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Häufig endet es dann so: Das Kind kriegt halt die verdammten Gummibärli – «ausnahmsweise», wie man extralaut betont, damit man nicht auch noch dafür verurteilt wird, das Kind zu verwöhnen.
Liebe Migros, diese Situation ist Stress pur – für Mütter und für Väter. Vor allem aber ist sie Stress pur für die Kinder.
Kindliche Gefühlswelt wird verharmlost
Lisa Werthmüller, diplomierte Individualpsychologische Beraterin AFI und Elterncoach, nimmt das Sujet der Migros in den sozialen Medien auch zum Anlass, um auf mögliche Missverständnisse und Annahmen über die Entwicklung von Kindern aufmerksam zu machen.
Sie erläutert uns die Problematik wie folgt: «Begriffe wie ‹Dramaqueen› schaffen ein Bild, das die Gefühlswelt von Kindern verharmlost und suggeriert, dass sie ‹nur Theater machen›. Dabei wird völlig ausser Acht gelassen, dass Kinder in solchen Momenten in einer echten emotionalen Notlage sind.»
Kinder würden starke Gefühle erleben, die sie nicht selbst regulieren können, fügt die Expertin an. Die kindliche Reaktion sei entwicklungspsychologisch vollkommen angemessen, denn ihre Fähigkeit zur Emotionsregulation und die Fähigkeit kognitive Lösungen zu finden, sei schlicht noch nicht ausgereift.
Nun könnte man sagen: Es ist ja nur Werbung und diese soll auch witzig sein dürfen. Allerdings prägen genau solche Sujets mit ihrer Präsenz auf den Strassen und in den Sozialen Medien gesellschaftlich verankerte Muster mit.
Da hilft es wenig, wenn die Migros schreibt, es liege ihr fern, «jemanden zu beleidigen oder negative Assoziationen zu wecken».
Die Gefühlswelt der Kinder zu verstehen, hilft als Eltern bei emotionalen Ausbrüchen gelassener und verständnisvoller zu reagieren – und vielleicht auch die genervten Blicke zu ignorieren.
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Was nicht hilft, liebe Migros: Einen weinenden, kleinen Jungen als Dramaqueen zu bezeichnen (müsste es nicht sowieso eher «Dramaking» heissen?) und damit das Bild in der Gesellschaft zu verstärken, dass Kinder mit ihren Emotionen eben «nur Theater machen».
Ein grosses «Merci» geben Eltern euch zurück, wenn ihr statt mit kindlichen Gefühlsausbrüchen zu werben, sie in den Läden nicht noch zusätzlich provoziert. Ganz einfach, indem ihr Produkte für Kinder ein, zwei Regale weiter oben platziert. Dann wären Mütter und Väter beim Einkaufen sicher einiges gelassener – und wohl auch häufiger besser gelaunt in euren Filialen anzutreffen.
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Veröffentlicht am 21. Januar 2025
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