Schluss mit Angstmache: Das Smartphone ist nicht an allem schuld
Das Buch «Generation Angst» von Jonathan Haidt hat aufgerüttelt. Es nennt die sozialen Medien als Hauptursache für psychische Probleme bei Jugendlichen. Doch vieles darin ist wissenschaftlich zweifelhaft. Eine Widerrede – plus Tipps für Bildschirmzeit bei Kindern.
Ich gebs zu: Ich bin zuerst auch reingefallen. Als ich im April erstmals von Jonathan Haidts Warnungen im «New Yorker» las (naja, ich sah einen Post auf Instagram), habe ich seine alarmierenden Aussagen rasch weitergeteilt.
«Jonathan Haidt wants you to take away your kid’s phone», stand da, und im Interview erklärte der Psychologe, seit 2012 sei ein enormer Anstieg von psychischen Problemen bei Jugendlichen zu beobachten, und dieser könne nur durch das Aufkommen von Smartphones und insbesondere sozialer Netzwerke erklärt werden.
Klang für mich plausibel. Sofort hatte ich auch ein wenig ein schlechtes Gewissen: Meine Kinder haben fast täglich Bildschirmzeit und sind völlig versessen auf Games. Werden sie deshalb psychische Probleme entwickeln?
Kinder am Bildschirm = Eltern mit schlechtem Gewissen
Wie gut, haben wir bei Kleinstadt so ein schlaues Netzwerk. Die renommierte Digitalexpertin Anna Jobin, Präsidentin der Eidgenössischen Medienkommission, warnte mich sofort vor dem unreflektierten Weiterteilen von Haidts Thesen:
«Das Thema ist komplexer. Leider schürt Haidt gleichzeitig Panik, Resignation und Schuldgefühle mit schlechter Pseudowissenschaft, weil es sich verkauft», schrieb sie mir. «Es gibt gute Argumente, ihn nicht ernst zu nehmen.»
Ihre Warnung hinterliess Eindruck bei mir – und ich fing an zu recherchieren.
Je länger ich mich durch Haidts Buch «Generation Angst» durchgekämpft habe, desto besser verstand ich, was sie meinte – und was trotzdem so verlockend ist an seinen Thesen, dass er in der NZZ und im «Tages-Anzeiger» interviewt wurde, dass «Fritz+Fränzi» sein Buch als «fundiert» empfiehlt, der «Nebelspalter» es lobt, sogar SRF es bespricht und Buchhandlungen sein Werk bei den Erziehungsratgebern prominent ausstellen.
Jonathan Haidt liefert den denkbar einfachsten Sündenbock für ein komplexes Problem. Und das macht ihn so gefährlich.
Warum? Eine Anti-Leseempfehlung in 4 Punkten:
#1 Jonathan Haidt verstellt den Blick auf die wahren Ursachen
Erstens und am wichtigsten: Haidt fokussiert auf ein Symptom und verstellt damit den Blick auf die unterliegenden Ursachen. Indem er Smartphones und generell die Bildschirmzeit für alles verantwortlich macht, befassen wir uns nicht mehr damit, was die wahren Gründe sind für die grassierenden psychischen Erkrankungen unter jungen Menschen.
Tatsächlich nahmen diese in den vergangenen Jahren stark zu und sind heute das häufigste Gesundheitsproblem bei Kindern und Jugendlichen. Zwischen 13 und 20 Prozent sind betroffen, statistisch gesehen in jeder Schulklasse drei Kinder.
Die Ursachen dafür sind aber, anders als Haidt behauptet, einerseits vielfältig.
Es gibt nicht DEN EINEN Auslöser für psychische Erkrankungen.
Und zum anderen sind die Ursachen noch längst nicht erforscht. Deshalb forderte zum Beispiel erst jüngst die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen mehr Forschung und Monitoring zu den Einflussfaktoren.
Denn klar ist: Wenn wir jetzt alle aufs Smartphone losgehen (und bald bestimmt schon die ersten politischen Vorstösse zum Thema auftauchen werden, wait for it …), diskutieren wir nicht mehr darüber:
- dass der schulische und berufliche Leistungsdruck zunimmt, wie mehrere Studien beweisen;
- dass Erfahrungen von Diskriminierung schädlich sind;
- dass es eine riesige Versorgungslücke gibt bei psychischen Erkrankungen von jungen Menschen;
- dass wir heute erst richtig über psychische Erkrankungen sprechen und die Dunkelziffer früher einfach noch viel höher war
und vor allem:
- dass Studien konstant einen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und psychischen Problemen nachweisen.
«Das wiederkehrende Problem ist, dass wir gerne auf die Bildschirme zeigen, wenn wir eigentlich auf die Ungleichheiten hinweisen sollten», sagte die Soziologin Claire Balleys in einem Interview mit «Le Temps». «Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen verbringen viel Zeit vor Bildschirmen, weil sie nur wenige Alternativen haben.»
Das zeigte jüngst auch diese Studie auf.
Also: Vielleicht sollten wir als Gesellschaft zuerst einmal über soziale Benachteiligung und Ungleichheit sprechen. Über die Zeitarmut von Eltern. Über Leistungsdruck und Diskriminierung.
Und danach über Smartphones.
Weil eine ungesund lange Bildschirmzeit womöglich eher Ausdruck des Problems als dessen Ursache ist.
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#2 «Generation Angst» wird von zahllosen Expert:innen als unwissenschaftlich kritisiert
Jonathan Haidts Thesen sind laut Fachpersonen wissenschaftlich nicht haltbar.
Wenige gingen so weit wie der Statistiker Aaron Brown, der in einem Artikel Haidts gesammelte Quellen zum Thema Smartphones und Mental Health stichprobenmässig prüfte und zu folgendem Schluss kam: Die meisten in Haidts Sammlung erwähnten Studien seien «Müll». Die Stichproben seien so «peinlich schlecht», dass sie «völlig nutzlos» seien.
Ein Vorwurf aus der Wissenschaft lautet, dass Haidt Kausalitäten behauptet, wo keine bewiesen seien. Oder anders gesagt: Wenn zwei Kurven (beispielsweise Social-Media-Nutzung und das Aufkommen psychischer Erkrankungen) parallel verlaufen, heisst das noch lange nicht, dass die eine die andere beeinflusst.
Tatsächlich zeigen die meisten Studien über das Medienverhalten von Jugendlichen mehrheitlich neutrale und auch immer positive Auswirkungen von Sozialen Medien.
Hier ein jüngeres Beispiel dazu.
Die Auswirkungen sozialer Medien seien «nuanciert, bestenfalls gering, wechselseitig im Zeitverlauf, geschlechtsspezifisch und abhängig von den Analysemethoden», wie eine grosse Analyse 2019 zeigte.
Die Kritik von Expert:innen aus Psychologie, Soziologie und Medienwissenschaften an Haidts Thesen ist so überwältigend, dass ich hier längst nicht alle Artikel zitieren kann, die ihn zerreissen.
Am besten fasste es wohl die Psychologieprofessorin Candice L. Odgers in «Nature» zusammen: «Haidt ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, aber seiner Geschichte fehlen die Beweise.» Hunderte Studien hätten versucht, den Zusammenhang zwischen Smartphonenutzung und psychischer Gesundheit, wie Haidt ihn herstellt, zu beweisen, und niemand habe ihn nachweisen können.
Aber: «Als Psychologin, die sich seit 20 Jahren mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen befasst, kann ich die Frustration und den Wunsch nach einfachen Antworten nachvollziehen. Als Elternteil von Jugendlichen würde ich auch gerne eine einfache Ursache für die Traurigkeit und den Schmerz finden, von denen diese Generation berichtet. Leider gibt es keine einfachen Antworten.»
#3 Haidts Buch macht Eltern Angst und Schuldgefühle, zeigt aber keine realistischen Lösungen auf
Smartphones und Social Media erst ab 16, rigorose Einschränkungen in Schulen und zuhause: Jonathan Haidts Empfehlungen klingen erst einmal sehr vernünftig.
Und, ehrlich gesagt: Ich wäre als Mutter auch glücklich über weniger Peer Pressure («alle anderen Kinder spielen auch Brawl Stars!»). Und ich hätte nichts gegen strengere Gesetze, die den perfiden Methoden der Tech-Giganten entgegentreten würden, und mehr Schulen, die Handy-Verbote oder -Parkplätze einführen.
Tatsächlich sind Haidts Vorschläge aber einerseits nicht realistisch, wie mir Nina Hobi erklärte. Sie ist Projektleiterin bei der Nationalen Plattform Jugend und Medien, die zum Bundesamt für Sozialversicherungen gehört. «Seine Vorschläge sind ein Theoriegebilde, das überhaupt nicht alltagstauglich ist.»
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Beispiel Social Media erst ab 16. Dazu sagt Hobi: «Wer soll so eine Altersbegrenzung denn durchsetzen?» Der Vergleich mit der Pornografie liegt nahe: Die sehen Kinder laut Studien auch schon oft mit erst 13, 14 Jahren, auch wenn es strafbar ist, sie ihnen zugänglich zu machen. Aber so ein Häkchen auf einer Website ist halt schnell gesetzt.
Andererseits führen Bücher wie Haidts ebenso wie zunehmende Verbote und strengere Einschränkung der Bildschirmzeit auch zu einer Tabuisierung. Und damit genau zum Gegenteil dessen, was Kinder und Jugendliche brauchen: mehr Auseinandersetzung, gerade mit den Inhalten, die sie konsumieren, und den Mechanismen, mit denen Big Tech operiert.
Kinder benötigen Medienbildung, und Lehrpersonen und Eltern die Ressourcen dafür, ihnen diese zu ermöglichen.
Was wir alle nicht brauchen, sind Scham und zusätzlich Schuldgefühle.
Und damit operiert Haidt (er ist Moralpsychologe) meines Erachtens. Und hier wird der Hype um Haidt gefährlich:
Sehen Eltern Bildschirmnutzung zunehmend als schlecht und schädlich, werden sie ihre Kinder auch stärker kritisieren für eine Tätigkeit, die ihnen Spass macht und die subjektiv wichtig ist für sie.
Die stark negativ geprägte Sicht führt zu mehr Stress in den Familien, zu mehr Machtkämpfen. Wir werden unsere Kinder auch zunehmend alleinlassen mit problematischen Inhalten, wenn wir sie grundsätzlich für ihre Smartphonenutzung verurteilen.
Schaffen wir es, bei aller Vorsicht die neuen Technologien als neutrale Ressource zu sehen (eine halbe Stunde Ruhe vor dem Abendessen!, eine praktische Lernhilfe im Unterricht!, ein wenig Ablenkung nach dem strengen Schultag!), können wir anfangen, über eine sinnvolle Nutzung zu diskutieren (dazu weiter unten mehr).
#4 Haidt propagiert eine autoritäre Erziehung und bedient eine rechtspopulistische Agenda
Bereits seit den 1960er-Jahren wissen wir aus Studien, dass eine stark autoritäre Erziehung zu psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen führt (und, Ironie der Geschichte: zu Suchtproblemen).
Das scheint Haidt entweder zu ignorieren oder auszublenden. Denn er empfiehlt in seinem Buch nebenbei auch allen Ernstes «Time outs», also Kinder quasi in die «Schäm-dich-Ecke» zu stellen (sein Lieblingserziehungsbuch heisst «1-2-3 Magic: Effective Discipline for Children»). Er liefert mit solchen veralteten Erziehungstipps willkommene Unterstützung für zahlreiche rechte Stimmen, die von einer «Verweichlichung» der Jugend sprechen, die «Abhärtung» verlangen und Kinder als «Tyrannen» sehen.
Dieser autoritäre Backlash in der Erziehung hat auch politische Auswirkungen: Wer autoritär erzogen wurde, wählt auch eher rechtspopulitische Parteien (Herbert Renz-Polster zeigt diesen Zusammenhang in «Erziehung prägt Gesinnung» auf).
Kein Wunder, wünschen sich manche rechtskonservativen Politiker mehr Autorität in der Erziehung, garantiert sie ihnen doch zukünftige Stimmen. Kein Wunder, lieben Trump-Anhänger Haidt und zitieren ihn im extremen republikanischen Regierungsprogramm «Project 2025», das die Verfassung ausser Kraft setzen und die Macht des Präsidenten ausbauen will.
Wollen wir so etwas wirklich als Erziehungsratgeber? Ich nicht.
Wie könnte eine gute, umsetzbare Lösung aussehen?
Zum Schluss: Ja, wir alle wissen, übermässige Smartphone-Nutzung birgt Risiken. Wir alle wissen, dass Kinder eine gute Balance benötigen zwischen medialen und nichtmedialen Beschäftigungen. Wir wollen kein Online-Mobbing und keine Pausenplätze voller Smartphone-Zombies. Aber:
Das Letzte, was uns hilft, sind alarmistische Bücher, die noch mehr Ängste und Schuldgefühle verbreiten.
Was könnte uns stattdessen helfen?
Wir dürfen grösstenteils einfach bei unseren Werten bleiben. In der Schweiz ist vieles nämlich gang und gäbe, was Haidt in seinem Buch als verloren beklagt respektive als grosse Revolution feiert.
Kinder haben hierzulande viele Freiräume, die sie in den stark autobasierten USA nicht geniessen, und sie übernehmen auch früh Verantwortung. Schon Vierjährige gehen hier zu Fuss allein in den Kindergarten, hier turnen Kinder in der Freizeit auf wilden Robinson-Spielplätzen herum, hier gibt es Orte und Zentren, wo sich Jugendliche im real life treffen können.
Halten wir diese Freiräume hoch!
Was ist eine vertretbare Bildschirmzeit, ohne dass die Kinder Schaden nehmen?
Die Expertin Nina Hobi von der Nationalen Plattform Jugend und Medien ist kein Fan von strikten Zeitlimiten, die sich nur am Alter der Kinder orientieren. Mit einer Ausnahme:
Grundsätzlich sollten Kinder unter 1 Jahr gar keinen Bildschirm vorgesetzt bekommen. Und Kinder unter 3-jährig nur für kurze Zeitspannen und immer in Begleitung.
Danach wird es komplizierter – es gibt eben keine einfachen Lösungen oder fixen Rezepte. Bei Jugendlichen lohnt es sich dann sogar, den Fokus von der Bildschirmzeit umzuschwenken auf die bildschirmfreie Zeit: Wann ist das Handy ausgeschaltet? Trotzdem enthält die soeben erschienene Broschüre «Medienkompetenz» der Nationalen Plattform Jugend und Medien konkrete Zeitdauern.
Nina Hobi plädiert dafür, mehr Gewicht auf die konsumierten Inhalte zu legen statt auf die Dauer. Die Bildschirmzeit müsse zudem ins Familiengefüge passen (beispielsweise: «Du kannst jetzt bis zum Abendessen etwas schauen.») Der Inhalt muss altersgerecht sein.
Die Erziehungsberechtigten sollten zudem das Gesamtpaket berücksichtigen: Hat das Kind noch andere Hobbys, pflegt es Freundschaften, ist es viel körperlich aktiv? Und natürlich dürfen die Eltern ihre Vorbildfunktion nicht vernachlässigen (Handy an einem festen Platz in der Wohnung parkieren, beispielsweise).
Zudem sollten Screens nicht zur Belohnung oder Bestrafung eingesetzt werden – eine neue Studie bringt diese Erziehungsmethode unter anderem mit einer höheren Bildschirmzeit und einer stärkeren problematischen Nutzung von Videospielen in Verbindung.
Wie unterstützen wir das Kind im Umgang mit Smartphone, Tablet und Co.?
Hat das Kind jeweils Mühe, das Gerät auszuschalten (kennen wir wohl alle!), dann hilft es, das Kind dabei zu begleiten, statt ihm einfach das Gerät aus der Hand zu reissen. Sich daneben zu setzen, eine Frage zu stellen zum Geschehen auf dem Bildschirm, dem Kind Zeit zu lassen, aus der Geschichte oder dem Game hinauszufinden.
Bitte nie mittendrin unterbrechen! Und immer bedenken: Kinder haben noch kaum Impulskontrolle – und das bisschen, das sie entwickeln, wird von den manipulativen Mechanismen der milliardenschweren Techgiganten problemlos unterminiert.
Und ganz zum Schluss ein kleiner Reminder: Es ist niemals die Schuld von Kindern oder Jugendlichen, wenn sie dem Bann der Geräte und Medien verfallen. Kinder sind ebensowenig böse und schlecht wie es Smartphones und Social Media per se sind. Zwei Dinge können gleichzeitig wahr sein: Technologie ist ein Gewinn – und birgt gleichzeitig Risiken.
Die Welt ist komplexer, als es Bücher wie «Generation Angst» uns suggerieren. Leider. Oder: Zum Glück!
Weitere Infos zum Thema Bildschirmzeit und soziale Medien:
Broschüre mit Empfehlungen zur Bildschirmzeit (vom Oktober 2024)
Fünf Punkte zur Einordnung des Sachbuchs «Generation Angst» von Jonathan Haidt
Highlight zu Haidt auf Instagram von Nora Imlau
Podcast: Science vs. Social Media: Is it rotting your brain?
Podcast: «Digitale Jugend: Eine verlorene Generation?» von Cornelia Diethelm & Sarah Genner
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 4. Oktober 2024
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