Kleinkinder vor dem Bildschirm: Das böse, böse iPad
Kennt ihr diese Eltern, die ihre Kinder im Restaurant vor dem iPad parkieren? Diese Eltern sind wir. Ein Text über Bildschirme und warum sie gar nicht so schlimm sind.

Tsss. Tsss.
Diese Eltern, die ihre Kinder im Restaurant vor dem iPad parkieren!
Diese Eltern sind wir.
Und ich mag mich dafür weder schämen noch entschuldigen.
Was man offenbar unbedingt und überschwänglich tun sollte, wenn man die eigenen Kinder an den Bildschirm lässt. „Ich bin eine Rabenmutter“, schrieb vor Kurzem eine Sicher-nicht-solche auf Facebook. Ihr Kind sei krank und sie habe ihm das iPad gegeben – allerdings mit einem „sooooo schlechten Gewissen“. Andere fragen gleichenorts nach guten Apps und erhalten stattdessen Bünzlischweizer-Kommentare, die so fein und fies sind wie ein Papercut: „Also, meine Kinder interessiert das ja gar nicht, die wissen noch, wie man richtige Holzklötzli aufeinander stapelt!“

Dumm, dick und aggressiv
Das iPad, dieses herrliche, spannende und teuflische Tool, das auch die kleinsten Kinder anzieht wie die Fliegen. Es fasziniert, animiert und: polarisiert. Das Tablet hat, wie seine Cousins, die Spielkonsolen und Fernseher, keinen guten Ruf. Dick, dumm und aggressiv würden die elektronischen Geräte die Kinder machen, wettert zum Beispiel der von obigen Kommentarschreibern häufig zitierte Manfred Spitzer.
Der stützt seine Behauptungen unter anderem auf eine Studie, bei der eine Gruppe junger Buben eine Playstation geschenkt kriegte und danach schlechtere Leistungen beim Lesen zeigten als die Kontrollgruppe ohne Spielkonsole. Die Gamer sind also nachweislich dümmer, folgert Spitzer. Dass die Jungen beim Spielen vielleicht dafür andere Fähigkeiten – wie zum Beispiel räumliches Denken – trainiert haben könnten, vergisst er bequemerweise.

Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
„Kein Bildschirm unter zwei!“
So lautet ein weiterer Ratschlag, der gerne geteilt wird. Seinen Ursprung hat er in einer Empfehlung der American Academy of Pediatrics von 1999, und er bezog sich damals natürlich ausschliesslich auf die passive Nutzung des Fernsehers. Nicht vergessen: Das iPhone feiert erst dieses Jahr seinen 10. Geburtstag, das iPad gibt’s seit 2010. Sowieso gibt es noch keine Langzeitstudien über die Auswirkungen von Tablets und Smartphones auf Kleinkinder, dafür sind die Geräte schlicht zu neu.
Der entscheidende Unterschied zum Fernseher: Touch-Screen-Geräte werden nicht passiv, sondern aktiv genutzt. Wenn ich meiner Tochter dabei zuschaue, wie sie Türme baut, Gegenstände nach Farben ordnet oder auch lernt, mit verschiedenen Bewegungen einen Zug zu lenken, dann stört es mich nicht, dass sie das „nur“ virtuell tut. Zumal sie es in der realen Welt ja auch kann (ausser das Zugführen – da üben wir noch).
Übrigens hat der Mann, dessen Zitat die Welt umrundet hat, seine Einschätzung im Hinblick auf das iPad im Jahr 2011 revidiert: „I believe that judicious use of interactive media is acceptable for children younger than the age of 2 years“, erklärt der Kinderarzt Dimitri A. Christakis. Die Interaktivität, die das Spiel auf einem Touch-Screen bietet, hat ihn dabei umgestimmt. Die Geräte erfüllen 6 von 7 Kriterien, mit denen der pädagogische Wert von Spielsachen bestimmt wird.

Digital Natives und ihre Zukunft
Also, in your face, ihr Holzklötzli-Mütter. Es ist 2017, und unsere Kinder sind Digital Natives, die in diese Welt hinein geboren werden. Sie werden nicht mehr unterscheiden zwischen virtueller und echter Realität, werden sich nahtlos von der einen in die andere Welt bewegen. Ihnen den Zugang dazu zu verweigern, insofern sie sich dafür interessieren, finde ich schlicht unfair.
Wenn wir davon ausgehen können, dass unsere Kinder in einer technologisierten Gesellschaft leben, in zwanzig Jahren womöglich Berufe ausüben, die es heute noch nicht gibt, oder die nicht mehr so aussehen werden wie heute, bin ich froh, wenn sie in diese Technologie hineinwachsen. Wie scheinheilig wäre es von mir, laut Studie durchschnittlich 2000 Mal pro Tag ein Handy in die Hand zu nehmen, und es gleichzeitig meinen Kindern komplett vorzuenthalten, weil es sie angeblich verdummt?
Glotzen und andere Gratifikationen
Zustände, die in den vorgängig zitierten nordamerikanischen Studien vorgefunden werden, bei denen Kleinkinder vier Stunden oder mehr täglich fernsehen oder ein Drittel der Dreijährigen einen eigenen Fernseher im Zimmer haben, haben mit unser aller Alltag hoffentlich wenig gemeinsam.
Ich bin davon überzeugt, dass die Kinder auch von passiven Inhalten lernen können, oder zumindest kurzfristig eine andere Gratifikation erhalten. Nebst dem Lerneffekt bietet der Bildschirm nämlich Entspannung, und wenn die Kinder nach einem anstrengenden Kindergartentag mal kurz in eine Phantasiewelt abdriften wollen, habe ich als Serien-Binge-Watcherin erstens vollstes Verständnis und zweitens – so viel Ehrlichkeit darf sein – ermöglicht das verpönte „vor dem Fernseher parkieren“ auch mir eine verdiente Pause.
Relevant ist nicht primär wieviel, sondern was
Nun würde ich lügen, wenn ich behauptete, dass meine Kinder sich am Bildschirm ausschliesslich mit pädagogisch wertvollen Spielen beschäftigen (das tun sie aber manchmal, und meine Favoriten habe ich hier zusammengefasst). Auch bei uns nervt Peppa Wutz. Die Lego-Ninjas wirbeln über den Bildschirm. Und der Sohn kennt den Text zu „Let it go“. Folgeschäden sind bis jetzt ausgeblieben. (Ausser, dass sich die Tochter nur noch mit dem Elsa-Badetuch abtrocknen lässt. Aber jänu.)
Es kommt aber jetzt doch noch, das ABER. Auch wir lassen die Kinder nicht einfach stundenlang am Bildschirm kleben und das iPad womöglich mit ins Bett nehmen (das sowieso nicht – das blaue Licht der Screens behindert das Einschlafen). Wir wollen den Überblick haben, was geschaut und gespielt wird, wollen mitreden können. Ich weiss beispielsweise, dass Schorsch Wutz Dinosaurier mag. Dass Lloyd der grüne Ninja ist. Und Kristof kein Rentier, sondern das Schätzeli von Anna.
Was ohne Begleitung gar nicht mehr geht: Youtube. Nicht nur wegen der stupiden Videos, in denen Spielzeug aus Knete oder Schleim herausgepult wird (really!), sondern spätestens seit auch auf Kinderchannels plötzlich gefakte Videos im Trickfilmlook auftauchen, die auch Erwachsenen Albträume einjagen könnten.

Zurück ins Restaurant, wo meine Kinder vom iPad „gebabysittet“ werden. Oft passiert das in den Ferien, denn zu Hause beschäftigen wir lieber einen lebenden Babysitter und gehen dann alleine aus. Sind die Kinder aber dabei, und haben wie gewöhnlich nach sieben Minuten ihr Znacht beendet, wuseln sie weder zwischen den Beinen der Bedienung hindurch, noch nehmen sie die Restaurantdeko auseinander. Sie lassen uns (und die anderen Gäste!) in Ruhe essen.
Gern geschehen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 29. Juni 2017 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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