Wenn die Kinder streiten, kann ich nicht klar denken
Geschwisterstreit gehört zu jeder Familie. Einmischen oder machen lassen? Nadja Schnetzler lebt die Hands-off-Philosophie. Beim Thema Streit fällt ihr das besonders schwer.

Die Teenager stehen in der Küche und streiten sich um einen Kaugummi. Einen Kaugummi! Innerhalb von Sekunden hat sich der Streit in ein Geschrei verwandelt («Aber du hast zwei genommen, ich habe es gesehen!»), und das macht mich wahnsinnig.
Da ich heute selbst nicht so gut gelaunt bin (ich bin gerade aufgestanden, es ist Samstag und ich habe ein volles Programm vor mir), schreie ich die beiden mit meiner empörten Mutter-weiss-es-besser-Stimme an: «Überall auf der Welt sterben Menschen in Kriegen und Hungersnöten, und ihr streitet euch wegen eines Kaugummis!?!?!» Also genau so, wie ich es selber auf keinen Fall möchte.
Meine positive «Hands off»-Haltung geht völlig unter, wenn die beiden sich streiten.
Es hat sich herausgestellt, dass einer der wenigen Momente, in denen meine positive «Hands off»-Haltung völlig untergeht, der ist, wenn die beiden sich streiten. Das macht mich verrückt. Und weil es mich in den Wahnsinn treibt, mische ich mich ein.
Eigentlich ist es mehr als nur Einmischen. Ich denke, die Dynamik funktioniert wahrscheinlich ungefähr so: Ein Kind will Aufmerksamkeit, die es von mir nicht bekommt, aus welchem Grund auch immer. Ein lautstarker Streit mit dem Geschwisterkind verschafft ihm Aufmerksamkeit, auch wenn es sich um negative Aufmerksamkeit handelt. Schon bald wird Mama da sein, wenn auch schreiend, aber wenigstens hört sie jetzt zu. Oder?
Emotionen in der Familie sind okay
Dieses Muster ist wahrscheinlich nicht nur in unserem Haushalt anzutreffen. Aber da ich als Kind in Mexiko aufgewachsen bin, habe ich eine entspanntere Einstellung zu dem, was ich «emotionale Familienausbrüche» nennen würde.
Es ist völlig normal, wie die Partnerin meines Schwagers (sie kommt aus Spanien) immer sagt, «sich anzuschreien, bis die Nachbarn kommen, und dann alle zu umarmen und in Tränen auszubrechen». Und ich stimme zu, dass es in Ordnung ist, die Emotionen in der Familie von Zeit zu Zeit hochkochen zu lassen, solange sich alle sicher fühlen und wissen, dass dennoch jederzeit alle geschätzt und geliebt werden.
Aber darum geht es hier nur am Rande. Es geht darum, dass es mir unheimlich schwer fällt, die Finger davon zu lassen, wenn meine Kinder streiten.
Während ich völlig entspannt bleiben kann, wenn sie ausgehen oder woanders übernachten, werde ich bei Streit nervös und mische mich ein.
Mein Reflex ist, mich zwischen die beiden zu stellen, und wenn ich das tue, gehen die Dinge sehr schnell den Bach hinunter, denn beide sind ausgezeichnete Pokerfaces, die die «Sie hat damit angefangen, ich bin völlig unschuldig»-Haltung (und umgekehrt) ewig aufrechterhalten können.
Ich habe noch nicht herausgefunden, warum ich diesen Drang habe, mich einzumischen, wenn sie streiten. Liegt es daran, dass ich Harmonie brauche und möchte, dass sie besser miteinander auskommen? Liegt es daran, dass ich mir Sorgen mache, dass etwas Schlimmes passieren könnte (die Kämpfe können ziemlich hässlich werden, was bei Teenagern wahrscheinlich normal ist), oder ist es etwas anderes?
Während ich völlig entspannt bleiben kann, wenn sie ausgehen, woanders übernachten oder Leute mit nach Hause bringen, oder es mir leicht fällt, sie zu ermutigen, ihre eigenen Ideen und Pläne zu erforschen, auch wenn die Schule darunter leidet, werde ich bei Streit sehr nervös und mische mich ein.
Meine Gedanken heute
Die obenstehenden Texte hatte ich im Jahr 2012 geschrieben. Damals waren meine Kinder noch nicht erwachsen, ich verfasste einen eigenen Blog und schrieb dort über meine Philosophie des Hands-off-Parenting.
Mit meinem neu erworbenen Wissen zu Gewaltfreier Kommunikation denke ich, dass ich heute vielleicht ein kleines bisschen anders an die Sache rangehen würde. Ich würde versuchen, zu erraten, welche Bedürfnisse hinter dem Streit stehen.
Der Wunsch nach Aufmerksamkeit und gesehen/gehört zu werden ist ein mögliches Bedürfnis. Oder als eigenständige Person wahrgenommen werden. Es kann aber auch ein Bedürfnis nach Fairness oder Gerechtigkeit sein.
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Eine Option wäre, darum zu bitten, dass der Streit nicht vor meinen Augen stattfindet, sondern woanders. Eine andere Möglichkeit wäre, dass wir uns zu dritt hinsetzen und ich den Fokus vom Streit wegbringe, indem ich frage, was alle jetzt gerade brauchen oder sich wünschen würden. Und dann schaue ich oder wir schauen gemeinsam, wie wir alle diese Bedürfnisse gemeinsam oder einzeln erfüllen können.
Streit ist für mich ein Trigger. Ich weiss nicht genau warum, aber er paralysiert und lähmt mich. Ich kann nicht klar denken, wenn geschrien oder laut gestritten wird. Heute wäre ich mir dessen vermutlich besser bewusst.
Was mir beim erneuten Lesen des Textes auch auffällt, ist, dass ich es völlig okay finde, wenn es nicht in jedem Lebensbereich möglich ist, «Hands off» zu sein, oder wenn es Bereiche gibt, wo «Hands off» sein eine echte Herausforderung ist, über die ich immer wieder stolpere.
Passend dazu: Das Manifest zur Hands-off-Philosophie

Wie wir Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, authentische, selbstbestimmte Erwachsene zu werden, die für ihre eigenen Bedürfnisse einstehen und auf die Bedürfnisse anderer Menschen eingehen können.
Das Manifesto zum Ausdrucken in A3- oder A4-Format findest du exklusiv bei uns im Store als Download.
Noch mehr zu Hands-off-Parenting?
Hier geht’s zum Dossier mit allen Texten zur Hands-off-Philosophie von Nadja Schnetzler.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 25. März 2025.
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