Meine Abtreibung: Nein zum Baby, Ja zum Leben
«Ich dachte immer, ich könnte niemals ein Kind abtreiben», schreibt Anne-Sophie Keller. Dann wurde sie schwanger und entschied sich gegen das Baby. Ein persönlicher Text über Klarheit, Dankbarkeit und Liebe.
Herausgefunden habe ich es an einem zu frühen Mittwochmorgen Ende Januar auf meinem Badezimmerboden. Als sich das Strichlein des Schwangerschaftstests langsam rot färbte, sagte alles in mir ein so deutliches Nein, wie ich es noch nie in meinem Leben verspürt hatte.
Und das, obschon ich allen erzählte, ich wolle dann bald mal Mutter werden. Ich bin 30, bei mir angekommen, ich könnte einem Kind geben, was es braucht. Ich nahm jedoch mein Handy und schrieb um halb sieben einer wundervollen Frauenärztin, mit der ich mal beruflich zu tun hatte, dass ich sie nun selber brauche. Danach weckte ich meinen Partner mit den Worten, ich sei noch nicht bereit und hätte schon alles organisiert.
Mein Körper, meine Entscheidung.
Dennoch musste der Entscheid gemeinsam gefällt werden und Boden haben. Wir kannten uns erst zwei Monate und mussten uns nun überlegen, ob wir uns vorstellen könnten, miteinander eine Familie zu gründen.
Man sagt, eine Abtreibung zerstört eine Beziehung oder bringt sie näher zusammen. Als er mir in meinem einzigen «aber was, wenn doch»-Moment sagte «Wenn du dieses Baby willst, dann machen wir das», wusste ich, dass ich mir eine Zukunft mit ihm vorstellen kann.
Es ist nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, wie viel Klarheit, Dankbarkeit und Liebe dieser Entscheid in mein Leben gebracht hat. In erster Linie war ich all den Frauen dankbar, die mir zuvor ihre Geschichte erzählt hatten. Durch diese Auseinandersetzung mit dem Thema konnte ich zu einer eigenen Haltung gelangen.
Ich wusste genau, in welche Praxis ich gehen wollte, und habe am selben Nachmittag einen Termin gekriegt: An den Wänden hingen Frauenstreik-Poster, der Parkettboden knarzte, die Frauen trugen bunte Kleider, sie gaben uns beiden Bachblütentropfen, wir fühlten uns zuhause.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Ich war dankbar.
Dankbar, dass ich in Zürich lebe, wo solche Orte einfach aufzufinden sind. Dankbar für meinen Lohn, da uns das ganze Vorgehen am Ende 1200 Franken gekostet hat – unsere Selbstbehalte liegen bei 2500 Franken.
Ich war dankbar für mein Alter, da ich mich Anfang 20 für einen derart klaren Entscheid noch nicht gut genug gespürt hätte. Ich war dankbar für unser politisches System, das mir das Recht über meinen eigenen Körper gibt.
Und ich war dankbar, dass ich einen Mann an meiner Seite hatte, der das einzig Richtige tat: seinen Mann stehen.
Unser Nein zum Baby war der lebensbejahendste Entscheid meines Lebens.
Es war ein Ja zu unserer Beziehung, die mir so wertvoll ist, dass ich uns zumindest noch einen ersten gemeinsamen Frühling zu zweit geben wollte. Es war ein Ja zu mir selbst, da ich mich nicht schon wieder in die nächste Herausforderung stürzen wollte. Und es war ein Ja zum künftigen Leben unseres Babys.
Ein Kind verdient ein klares Ja. Kein «ja gut, dann machen wir das halt», sondern ein «ja, wir wollen dich».
Also machte ich, was (potentielle) Mütter so tun: das Beste für ihr Kind. Ich schickte unser Baby ins Universum zurück, wo es noch ein paar Runden drehen sollte, bis wir dann wirklich vielleicht einmal bereit dafür sind. Wir liessen uns noch eine Woche Bedenkzeit, in der wir jede Sekunde zusammen verbrachten. Wir haben zusammen geweint, aber nie aus Zweifel. Denn selbst wenn es ein klarer Entscheid war, war es ein grosser Entscheid für zwei Frischverknallte.
Dann kamen die Tage der Abtreibung.
An einem Dienstagnachmittag im Februar schluckte ich drei Tabletten Mifegyne, die dazu führen, dass der Körper das Gewebe abstösst. Zwei Tage später hätte der nächste Termin folgen sollen, bei dem ich ein Medikament kriegen würde, das Wehen auslöst und den Inhalt der Gebärmutter ausstösst. Was ich damals noch nicht wusste: Ich gehörte zu den glücklichen drei Prozent, bei denen das erste Medikament reicht. Das hing auch damit zusammen, dass ich erst etwa sechs Wochen schwanger war.
Etwa 24 Stunden nach der Einnahme begann ich zu bluten. Beim Pinkeln musste ich alles, was dabei heraustropfen würde, mit einem Sieb auffangen und in einem mit Wasser gefüllten Konfitüreglas aufbewahren. Es kamen Fetzen aus geronnenem Blut heraus wie bei einer Menstruation. Und auch ein kleines Gewebeteil, das ich aufbewahren musste.
Am nächsten Tag machten wir uns mit Kissen, Decken, Büchern, Laptop, Essen, Tee und Schmerzmitteln bepackt auf in die Praxis. Uns erwartete der einzige Teil, vor dem wir Angst hatten: stundenlange Wehenschmerzen. Nach einem kurzen Vorgespräch, untersuchten die Frauen der Praxis das Konfitüreglas.
Das Gewebeteil, das wars. Es war raus. Einfach so. Wir wurden wieder nach Hause geschickt.
Es war vorbei. Ohne Widerstand. Ohne Schmerzen.
Ein Fruchtsäckchen in der Grösse eines Fingernagels, darin für die Augen unsichtbar ein klitzekleines Embryo von zwei Millimetern Grösse. Wir erhielten es in einem Kartonböxli und entschieden uns, es mitzunehmen. Wir fanden, dass es einen schönen Abschied verdient hat. Zuhause erwartete uns Besuch von Freunden, die uns Blumen schickten und Kuchen mitbrachten.
Unter dem Besuch war eine schwangere Freundin. Und alles war genau so, wie es sein sollte.
Nicht jede Abtreibung ist schmerzhaft oder schwierig. Ich glaube, jede Frau spürt in dieser Situation, was zu tun ist – wenn ihr Umfeld sie lässt. Hätte ich das früher gewusst, hätte uns das viele Ängste erspart.
Ein paar Tage später verbrannten wir das Böxli in meinem Lieblingspark, kleideten eine kleine Grube mit Rosenblättern aus und vergruben die Asche mit einem Citrinstein, damit es nicht so dunkel ist. Letzten Endes war es etwas, das wir gemeinsam erschaffen hatten, und somit etwas Wertvolles.
Weshalb ich über meine Abtreibung schreibe?
Ich veröffentliche diesen Text aus Dankbarkeit allen Frauen gegenüber, die sich mir mit ihren Geschichten geöffnet haben. Ohne euch wäre diese Zeit weniger klar gewesen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass uns Menschen nichts näher zusammenbringt, als wenn wir unsere Erfahrungen und Erlebnisse offen miteinander teilen.
Ich finde, dass man das Leben mit all seinen Entscheidungen nicht alleine durchstehen muss. Und ich habe erfahren, dass ich nicht Mutter werden muss, um ein erfülltes Leben als Frau zu führen.
Unser Baby wäre letzten September gekommen. In dieser Zeit dachten wir ein paar Mal an unsere Entscheidung zurück – immer mit der Gewissheit, dass sie richtig war. Manchmal sahen wir superherzige, junge Familien. Wow, das könnten wir sein. Manchmal sahen wir superlaute, schreiende Babies und ihre Eltern im Tram. Wow, das könnten wir sein.
Aber das waren wir nicht. Wir haben für uns den anderen Weg gewählt und die Abtreibung in keinem Moment hinterfragt, bis heute nicht. Das Schönste daran: Diese junge Familie, wir könnten das immer noch eines Tages sein. Wir sind zwei junge, fruchtbare Menschen, die sich lieben. Wir haben das Privileg, beide Optionen zu haben. Wie wunderschön.
Ich dachte immer, ich könnte niemals ein Kind abtreiben.
Nichtsdestotrotz bin ich jahrelang für das Recht auf Abtreibung demonstrieren gegangen – es ist fundamental wichtig, dass wir diese Wahl haben.
Denn wie bei so vielem weiss man erst, was es heisst, wenn man selbst betroffen ist.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 18. August 2020 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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