Freiheit mit Nebenwirkungen: Die Wechseljahre machen uns verwundbar
Dass wir offener über die Menopause reden, ist toll. Leider jubelt auch die Diätindustrie. Wie können wir ihren Tricks widerstehen?
Hurra, hurra, wir sind frei! Wir haben die Fesseln gesprengt, das Tabu zertrümmert!
Oder doch nicht?
Jahrhundertelang waren die Wechseljahre der Moment, in dem Frauen quasi unsichtbar wurden. Die Fruchtbarkeit vorbei, der Nutzen für die Gesellschaft auch, tschüssi-tschau.
Yep, klingt furchtbar, aber weshalb sonst wurde Frauen ab einem gewissen Alter nahegelegt, sie sollten lieber unauffällige Klamotten und Frisuren tragen, nicht mehr allzu sehr hervorstechen? Und laut jammern bitte auch nicht. Mit den Beschwerden rund um die Wechseljahre hatte frau gefälligst selbst klarzukommen – «da muss man halt durch».
Heute kleben solche Vorstellungen in manchen Köpfen immer noch so hartnäckig wie Kaugummi unterm Kinosessel. Trotzdem ist vieles anders: Sheila de Liz, Miriam Stein, die Frauen von der Villa Margarita und viele weitere Expert:innen haben uns umfassend informiert über die Wechseljahre.
Wir wissen nun, was warum mit uns geschieht.
Dass wir eben nicht einfach alles aushalten müssen. Und dass wir auch nicht verschwinden müssen. Wir wurden lauter, auffälliger, unbequemer.
Wir haben die Frauenkörper befreit. Und jetzt haben wir den Salat. Oder eher: den Shake.
Weil die Diätindustrie begeistert klatscht, dass die Menopause enttabuisiert ist. Wenn mehr über die Wechseljahre gesprochen wird, wenn mehr Menschen sich darüber informieren und austauschen, lässt sich viel einfacher ein neues Problem kreieren und vor allem: verbreiten.
Wer auch immer sich auf Social Media für das Thema Menopause interessiert, dürfte früher oder später mit einem dieser Begriffe konfrontiert werden: Menopausenbauch, Hormonbauch, hormonal Belly, Meno Belly – den Marketingabteilungen fallen sicher noch weitere Wortschöpfungen ein. Sie produzieren gerade reihenweise Werbung zu diesem Thema.
Die Mechanik ist immer dieselbe: Problem in die Köpfe pflanzen mit knackigen Worten, kräftig giessen mit Werbebildern und dann die Lösung präsentieren: Pillen, Pulver, Programme.
Die Ernährungs- und Medienpsychologin Ronia Schiftan sagt: «Es gibt diesen generellen Optimierungsgedanken, in allen Lebenslagen. Wo ein Problem kreiert wird, entsteht Bedarf, kann man etwas verkaufen. Also platziert man bei den Leuten immer neue Problem-Areale.»
Wir alle wissen, wie es läuft. Und trotzdem fallen wir darauf rein. Wir schauen uns genauer an. Habe ich das auch? Wo weiche ich ab von der Norm? (Die es natürlich nicht gibt, aber auch das vergessen wir andauernd.)
«So entsteht ein problemfokussiertes Auf-sich-schauen. Dieser von aussen auferlegte Optimierungsdruck wird immer mehr ins Alter gezogen», sagt Ronia Schiftan.
Das Problem: Es reicht ein Fitzelchen Wahrheit, um uns zu verunsichern.
Denn es stimmt schon: Die Menopause verändert unseren Körper, auch den Bauch.
Die Gynäkologin und Bestseller-Autorin Sheila de Liz sagt: «Der Hormon Belly in den Wechseljahren soll ja spezifisch Gewichtszunahme am Bauch bezeichnen. Diese ist tatsächlich oft nicht nur äusserlich, sondern auch das innerliche Fett, das sich sozusagen unter der Bauchdecke an den Organen ansammelt, und auf Dauer gesundheitliche Probleme machen kann.»
Kann, nicht muss! Aber unser Gehirn denkt lieber: Aufgepasst, potenzielle Gefahr! Ha, Lösung verfügbar! Produkt xy rettet mich!
Sheila de Liz sagt jedoch deutlich: «Es gibt keine Wunderpillen oder Pulver, die dagegen etwas bringen, und ich ärgere mich sehr darüber, wie die Industrie wieder mit dem Leid der Frauen schnelles Geld machen will.»
Wisst ihr, wovor ich Angst habe?
Dass nun, wo wir endlich die Menopause enttabuisiert haben und nicht mehr unsichtbar sind, dies einfach der Auftakt ist für den nächsten Kampf mit unseren Körpern.
Und ich habe auch Sorge, dass ich mit diesem Text die eine oder andere überhaupt darauf gebracht habe, ihren Bauch näher zu betrachten. Über diese Problematik haben Ronia Schiftan und ich im Vorfeld gesprochen, es gibt keine Lösung dafür.
Aber ich glaube, die Menopausenbauch-Diät-Werbung wird uns in den kommenden Jahren überfluten, in den USA ist dies schon der Fall. Drum sollten wir darüber reden.
Wegen der Wechseljahre, um unsere erkämpfte Freiheit beizubehalten. Und ganz generell.
Wir müssen für uns und für unsere Kinder irgendeinen Weg finden, um von diesem Selbstoptimierungs-Karussell abzuspringen.
Aber wie entkommen wir diesem Drang? Was können wir tun?
Wie lernen wir, unsere Körper nicht ständig optimieren zu wollen?
Ronia Schiftan sagt: «Wir können ein positives Körperbild stärken. Liebevoll mit sich umzugehen, bedeutet nicht, sich die ganze Zeit zu korrigieren. Ich stelle fest, dass es für viele Menschen schwierig ist, mit Veränderungen umzugehen. Das betrifft Menschen in allen Lebenslagen und mit jedem Geschlecht.»
Wir haben das Gefühl, immer dieselben sein zu müssen – besonders äusserlich. «Es nützt wenig, wenn wir einfach üben, ein Körperteil zu akzeptieren. Weil sich der Körper ständig verändert. Wir sollten grundsätzlich daran arbeiten, den Körper als sich verändernd wahrzunehmen.»
#daschamebruuche aus unserem Concept Store
Wie das funktionieren kann? Ronia und ihre Schwester Dania Schiftan beschreiben im Podcast TOTAL NORMAL einige Übungen. Zum Beispiel, den Körper nicht mit der Lupe, sondern mit dem Teleobjektiv anzuschauen, weniger Detailversessenheit, mehr ganzheitliches Betrachten. Es hilft, sich nicht auf eine Körperregion zu konzentrieren – weil das verzerrt die Wahrnehmung.
Jetzt, wo ich all dies weiss und die Wechseljahre näherrücken… kann ich künftig der Werbung widerstehen?
Werde ich dem Optimierungsdruck immer trotzen?
Ha, schön wär’s.
An Tagen mit wenig Schlaf, viel Stress und wummernden Versagensgefühlen werde ich verwundbar sein und glauben, ich sei nur eine Kreditkarten-Abbuchung von der ewigen Glückseligkeit entfernt.
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Veröffentlicht am 11. Juni 2024
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