Tabus bei der Geburt: Was du übers Gebären wissen solltest
Über manche Dinge rund um die Geburt eines Kindes spricht man nicht. Über unfreiwilligen Stuhlgang zum Beispiel, angeschwollene Schamlippen oder vaginale Verletzungen. Wir schon!
Wir müssen reden. Über ein Tabu. Über das, was während einer Geburt passiert mit uns und unserem Körper. Nicht nur über die Zuckerwattemomente wie die Liebe, die uns beim ersten Anblick unseres Babys durchflutet. (Was übrigens nicht alle so empfinden.) Sondern auch über Körperflüssigkeiten, Schmerzen und traumatische Erlebnisse.
Vor einiger Zeit haben wir euch auf Instagram und Facebook dazu aufgerufen, über Tabuthemen rund um Geburt und Wochenbett zu sprechen. Eure Rückmeldungen waren zahlreich. Und aufschlussreich. Oft amüsant, manchmal erschreckend. Vor allem haben wir ganz oft den Satz gelesen:
«Das hätte ich gerne vorher gewusst.»
Und weil wir finden, dass wir alle davon profitieren, wenn Tabuthemen nicht länger tabu bleiben, greifen wir in diesem Beitrag eure Erlebnisse und Gedanken im Zusammenhang mit der Geburt auf (ihr findet sie als fettgedruckte Zitate in den nachfolgenden Abschnitten). Frauenärztin Dr. Ariane Eichenberger Maio liefert das medizinische Fachwissen dazu.
Wir wollen werdenden Müttern keine Angst machen. Sondern dafür sorgen, dass sie es eben vorher wissen. Damit diese Themen nicht länger mit so viel Scham behaftet bleiben, sondern darüber gesprochen wird. Damit Vorstellung und Realität in Zukunft vielleicht etwas weniger weit auseinanderliegen. Und um euch zu zeigen: Ihr seid mit solchen Erlebnissen nicht alleine.
Inhaltsverzeichnis zum Drauftippen:
- #1 Der Schleimpfropf – die Geburt beginnt
- #2 Intimfrisuren und Haare ums Fudiloch
- #3 Begleitung zur Geburt und Geburtsort
- #4 Venöser Zugang
- #5 Einlauf und Blasenkatheter
- #6 Stuhlabgang beim Pressen
- #7 Erbrechen unter der Geburt
- #8 «Das Schlachtfeld da unten»
- #9 Dammrisse und andere Geburtsverletzungen
- #10 Saugglocke, Zange und Kristeller-Handgriff – die vaginal-operative Geburt
- #11 So viel Blut
- #12 Die Plazenta – oder warum die Geburt noch nicht vorbei ist
- #13 Kaiserschnitt – not the easy way out
- #14 Hormone – und was sie während der Geburt mit uns machen
#1 Der Schleimpfropf – die Geburt beginnt
«Wenn ich den Schleimpfropf erwähne, gucken alle immer total entsetzt. Den kennt niemand.»
Dabei wäre es durchaus sinnvoll, dieses kleine schleimige Etwas zu kennen, kündigt sein Abgang doch meist die nahende Geburt an. Man muss sich das so vorstellen: Der sogenannte Kristellsche Schleimpfropf verschliesst während der Schwangerschaft den Muttermund wie ein Badwannestöpsel und verhindert so, dass Keime in die Gebärmutter eindringen können.
Wenn die Wehen einsetzen und sich der Muttermund zu weiten beginnt, löst sich der Schleimpfropf – manchmal erst unter der Geburt, manchmal schon Tage vorher. Manche Frauen finden ihn in der Unterhose, manche hören ihn ins WC platschen und wiederum andere bemerken ihn gar nicht. In jedem Fall gibt er den Startschuss für die Geburt.
#2 Intimfrisuren und Haare ums Fudiloch
«Den Hebammen ist es schnurzpiepegal, ob du da unten rasiert bist oder nicht.»
«Alle Frauen haben Haare ums Fudiloch. Amen.»
Spätestens mit dem Platzen der Fruchtblase oder dem Einsetzen regelmässiger Wehen verfallen viele Schwangere in Aktionismus und haben das Gefühl, sie müssten sich jetzt noch rasch die Beine und den Intimbereich rasieren, obwohl sie ohne kontorsionistische Fähigkeiten mit dem Rasierer kaum noch an ihrem Bauch vorbeikommen, geschweige denn, daran vorbeisehen können.
Doch Fakt ist: Eine Rasur im Intimbereich ist bei einer vaginalen Geburt nicht nötig. Weder aus ästhetischen noch aus medizinischen Gründen. Ob Lockenpracht oder Kurzhaarschnitt – Hebammen und Frauenärzt*innen haben wohl schon so ziemlich jede Intimfrisur gesehen. Und bei einer allenfalls nötigen Dammnaht stören die Schamhaare ebenfalls nicht. Vor einem geplanten Kaiserschnitt wird im Spital häufig der Bereich unterhalb des Bauchnabels und über dem Schambein rasiert.
«Falls sich eine Schwangere rasieren möchte, dann ist es besser, wenn dies ein paar Tage vor der Geburt geschieht», rät Ariane Eichenberger Maio. Das Rasieren verursacht häufig Mikroverletzungen, erst recht ohne freie Sicht zwischen die Beine, und die Haarfollikel können sich entzünden.
#3 Begleitung zur Geburt und Geburtsort
«Ich war nicht darauf vorbereitet, wie hilflos ich den Schmerzen meiner Partnerin gegenüberstehen würde.»
Klassischerweise begleitet der werdende Vater seine Partnerin zur Geburt – und hofft insgeheim, nicht vor den versammelten Hebammen in Ohnmacht zu fallen. Das war aber nicht immer so: Bis in die 1960er-Jahre wurden Männer im Gebärsaal als störend empfunden. Und auch heute rät Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan werdenden Eltern dazu, sich im Vorfeld Gedanken zu machen, ob der Mann bei der Geburt wirklich dabei sein soll und will.
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In manchen Fällen kann eine gute Freundin, die Schwester oder die eigene Mutter an der Seite viel hilfreicher sein. Oder auch eine Doula, eine nicht-medizinische Geburtshelferin, die der Frau vor allem emotional zur Seite steht.
Auch das Spital als Geburtsort ist keinesfalls in Stein gemeisselt. Wenn aus medizinischer Sicht nichts dagegen spricht, dann können die werdenden Eltern den Geburtsort frei wählen – und zwar unabhängig von allfälligen Zusatzversicherungen. Die Grundversicherung der Krankenkasse übernimmt sowohl eine Spitalgeburt wie auch eine Geburt im Geburtshaus oder zu Hause. Auch im Spital gibt es mehrere Optionen, etwa eine Geburt mit Beleghebamme oder eine ambulante Geburt.
Lest dazu auch:
«Wo und mit wem soll ich gebären? Ein Guide» von Nadja Brenneisen
«Mein Körper, meine Geburt – der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung» von Meera Drey über ihre beiden Geburtshaus-Geburten und selbstbestimmtes Gebären allgemein
«Vorbereitung auf die Geburt: Wichtig für Frau und Mann!» von Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan
«Viermal geboren und trotzdem überfordert: Mit der Tochter im Gebärsaal», ein Erfahrungsbericht von Corine Turrini Flury über die Geburt ihres Enkelkindes
Oder hört unseren Podcast:
«Meine eigene traumatische Geburt hat mich zur Doula gemacht» mit Nadja Brenneisen
#4 Venöser Zugang
«Ich wusste nicht, dass mir beim Eintritt ins Spital gleich ein venöser Zugang gelegt wird. Er störte mich und gab mir das Gefühl, krank zu sein.»
Der venöse Zugang wird in den meisten Spitälern routinemässig gelegt. Dabei handelt es sich um einen dünnen, relativ festen Plastikschlauch, der in eine Vene (auf dem Handrücken, am Unterarm oder in der Ellenbeuge) geschoben wird, damit bei Bedarf schnell Medikamente oder Infusionen verabreicht werden können. Im Geburtshaus und bei Hausgeburten wird kein venöser Zugang gelegt.
Was viele Frauen nicht wissen: Auch im Spital können Gebärende theoretisch den Venenzugang verweigern, wenn sie beispielsweise grosse Angst vor Nadeln haben oder den Zugang als sehr störend empfinden. «Der venöse Zugang ist sozusagen ein Angebot, das eine Frau natürlich auch ablehnen kann – im Wissen, dass diese Entscheidung mit einem gewissen Risiko verbunden ist», sagt Ariane Eichenberger Maio dazu.
Bei den allermeisten Geburten werde der Zugang nicht notfallmässig benötigt, sagt die Gynäkologin. «Aber es können bei einer Geburt Komplikationen auftreten, die innert kürzester Zeit zu einem sehr heftigen Blutverlust führen, und dann ist es entscheidend, dass man sehr schnell reagieren kann.»
#5 Einlauf und Blasenkatheter
«Da sass ich dann nach dem Einlauf gefühlte Stunden auf dem Klo und traute mich nicht mehr zurück in den Gebärsaal, weil ich Angst hatte, bei der nächsten Wehe käme bestimmt nochmals ein Gutsch braune Sosse mit.»
Einlauf? Zieleinlauf? Leider nein. Es geht nicht um die Ziellinie im Sport, sondern um den Darm. Genauer: Um die Leerung des Darms. Dazu wird bei einem Einlauf durch ein Röhrchen warme Flüssigkeit in den Enddarm gedrückt, wodurch innert kurzer Zeit Stuhldrang ausgelöst wird. Tabuthema par excellence…
Immerhin kann ein Einlauf die Gebärende näher zum Ziel bringen. Denn: «Der Einlauf ist ein uralter Hebammen-Trick, um eine Geburt einzuleiten», verrät Ariane Eichenberger Maio. «Die wellenartigen Darmbewegungen, die man durch einen Einlauf auslöst, übertragen sich häufig auf die Gebärmutter und können so Wehen in Gang setzen oder vorhandene Wehen verstärken.»
Ein Einlauf wird heutzutage nicht mehr routinemässig gemacht. «Medizinisch notwendig ist eine Darmentleerung bei der Geburt nicht. Die Frauen können selbst entscheiden, ob sie das möchten oder nicht.»
Anders ist die Situation bei der Blase, wie die Gynäkologin ausführt: «Es ist wichtig, dass die Blase unter der Geburt regelmässig geleert wird, denn eine volle Blase nimmt Platz weg im Unterleib. Dadurch kann das Kind weniger gut in den Geburtskanal eintreten oder wird gebremst. Ausserdem kann eine volle Blase durch das tiefertretende Kind geschädigt werden.»
Wenn eine Frau in der Pressphase nicht mehr aufstehen und zur Toilette gehen kann oder will, wird ein Einmalkatheter in die Blase eingeführt, um sie zu leeren. Unter den Wehen nehmen das die meisten Frauen kaum wahr.
Bei einem Kaiserschnitt und teilweise auch bei einer PDA (Periduralanästhesie) wird ein Dauerkatheter gelegt, da die Gebärende dann ihre Blasenfunktion nicht mehr willkürlich steuern kann. Einige Frauen empfinden das Legen des Katheters als unangenehm, andere beschreiben lediglich ein Gefühl von Kälte. Pony M. rät in ihren Tipps für Schwangere dazu, beim Kaiserschnitt darauf zu bestehen, dass der Blasenkatheter erst im OP unter Anästhesie gelegt wird.
Lest dazu auch:
«Because you asked: Tipps für Schwangere von Pony M.», die neben dem Blasenkatheter-Tipp noch viele weitere gute Ratschläge auf Lager hat
#6 Stuhlabgang beim Pressen
«Als ich das erste Mal gehört habe, dass man während der Pressphase meist unkontrolliert kackt, hing mir fast die Kinnlade runter. Nicht weil ich das mega gruusig finde, sondern weil ich nicht verstehen konnte, wie eine gesamte Gesellschaft solch eindrückliche und natürliche Erfahrungen tabuisieren kann.»
Es ist wohl die Horrorvorstellung schlechthin: Man liegt mit weit gespreizten Beinen auf dem Spitalbett, darum herum stehen die Hebamme, die Ärztin und der Partner, die ohnehin schon mehr Einblick haben, als einem vielleicht lieb ist. Und dann passiert es. Beim Pressen rutscht nicht nur das Baby tiefer, sondern auch der Darminhalt. «Oh Gott, wie peinlich«, denken die meisten Schwangeren.
Doch wir können euch beruhigen: In den meisten Fällen kriegt das die Gebärende nicht einmal mit, wie Ariane Eichenberger Maio bestätigt. Und für das Spitalpersonal ist es ohnehin Alltag. Einmal wegputzen und gut ist. Unwillkürlicher Stuhlabgang während der Pressphase ist bei einer vaginalen Geburt überhaupt nichts Ungewöhnliches.
Der Geburtskanal ist der direkte Nachbar des Enddarms, wo der Stuhl in der sogenannten Ampulle (Ampulla recti) quasi zwischengelagert wird, noch bevor Stuhldrang auftritt. Wenn das Baby tiefer rutscht, dann übt sein Köpfchen Druck auf die Ampulle aus und dort vorhandener Stuhl wird herausgepresst. «Für uns Geburtshelfer ist Stuhlabgang also ein sehr positives Zeichen», sagt Ariane Eichenberger Maio. «Dann wissen wir, jetzt ist das Kind so weit unten, jetzt haben wir es bald geschafft.»
Viele Frauen haben bei Wehenbeginn sowieso weichen Stuhl oder gar Durchfall, so dass der Enddarm bei der Geburt leer ist. Wenn eine Frau eher verstopft ist und sich vor unwillkürlichem Stuhlabgang fürchtet, hilft ein Einlauf.
#7 Erbrechen unter der Geburt
«Ich war nicht darauf vorbereitet, dass Chötzle und Schiisse zur Geburt dazugehören. Und sogar gut sind!»
So wie die Schwangerschaft begonnen hat, so endet sie auch oft: mit Übelkeit und Erbrechen. «Häufig tritt dieses Phänomen in der Übergangsphase auf, wenn der Muttermund ganz eröffnet ist, unmittelbar bevor die Pressphase beginnt», erklärt Ariane Eichenberger Maio. «Es gibt verschiedene Theorien, wieso viele Frauen in dieser Phase erbrechen müssen, aber den genauen medizinischen Grund kennt man noch nicht.»
Dagegen tun kann man nichts. Ausser – wie im Flugzeug – eine Kotztüte bereitzuhalten. Und das Erbrechen als positives Zeichen zu werten, dass die Geburt nun in die nächste Runde geht. Um den gruusigen Geschmack im Mund schnell wieder loszuwerden, hilft es, ein kleines Fläschchen Mundspülung oder vorgeschnittene Limettenschnitze (Pro-Tipp meiner Doula) in der Spitaltasche dabeizuhaben.
#8 «Das Schlachtfeld da unten»
«Meine Vulva sprang mir entgegen.»
«Das Gefühl, meine Vulva sei nach der Geburt angeschwollen wie vorher der Bauch…»
«Nach einer spontanen Geburt sind die Schamlippen so gross wie Dumbos Ohren. WTF!»
«Eine Geburt ist eine gewaltvolle Sache», stellt Ariane Eichenberger Maio klar. «Die Kräfte, die da abgehen; darauf sind die meisten Frauen nicht vorbereitet. Es ist wie ein Zug, der angerollt kommt – und man kann ihn nicht stoppen.»
Der Zug, er fährt nicht spurlos vorbei. Der Intimbereich wird bei einer vaginalen Geburt arg strapaziert. Die Vagina dehnt sich bei der Geburt – Achtung, tief durchatmen – aufs Zehnfache. Natürlich bildet sie sich auch wieder weitgehend zurück (und bleibt keine Turnhalle), aber nicht gleich mit dem ersten Schrei des Babys.
Das dauert. Schwellungen, Blutergüsse, blaue Flecken, Mikrorisse und Schürfungen tun ihr Übriges zum zuweilen desaströs empfundenen Zustand im Intimbereich.
Dazu haben uns am meisten Rückmeldungen von euch erreicht. Während die einen den Rat gaben, das «Schlachtfeld da unten auf gar keinen Fall zu früh zu besichtigen», erzählten uns andere, dass sie zur zweiten Geburt einen Spiegel mitgenommen haben, «um sich die Baustelle kurz nach der Geburt genauer ansehen zu können».
Ob Schlachtfeld oder Baustelle: Kleine Verletzungen heilen, Blutergüsse verschwinden, Dumbos Ohren schrumpfen mit der Zeit wieder. Einig waren sich jedoch die meisten von euch, dass der Intimbereich nach einer Geburt nie mehr ganz so aussieht wie vorher. Die Schamlippen können grösser bleiben, die Vagina weniger verdeckt, der ganze Schambereich kann «offener aussehen».
Aus medizinischer Sicht sind solche Veränderungen in der Regel nicht relevant. «Ausser bei einer weiteren Schwangerschaft«, sagt Ariane Eichenberger Maio, «statistisch gesehen kann man nämlich davon ausgehen, dass jede weitere Geburt etwas schneller vorangeht, weil das Gewebe schon einmal gedehnt war.»
Hört dazu auch unseren Podcast:
«Die Vagina ist keine Turnhalle!» mit Sexualtherapeutin Dania Schiftan
#9 Dammrisse und andere Geburtsverletzungen
«Der Dammriss, der einem die ganze Freude am Baby nach der Geburt nimmt.»
«Dammriss – klar, schon öfter gehört. Aber Klitorisriss?! Aua…»
«Analfissuren, Hämorrhoiden… Kämpfe auch 15 Monate nach der Geburt noch damit.»
«Ring of fire» – so heisst nicht nur Johnny Cashs Welthit (Kopfmusik an), sondern auch der Moment, wenn der Kopf des Babys geboren und der Damm maximal gedehnt wird, so dass er dünn wie Pergamentpapier erscheint (Kopfkino an). «And it burns burns burns» passt da ganz gut. Doch es brennt nicht nur, sondern ist auch der Moment, in dem es oft zu Geburtsverletzungen kommt (an dieser Stelle Kopfkino besser wieder ausschalten).
«Die Chance, dass eine Frau ihr erstes Kind ohne jegliche Geburtsverletzung zur Welt bringt, ist ziemlich klein», sagt Ariane Eichenberger Maio. «Die häufigste Geburtsverletzung ist ein Dammriss, die zweithäufigste ein Labienriss.» Studien zufolge erleiden 80% der Erstgebärenden eine versorgungspflichtige Geburtsverletzung.
Der Dammriss ist den meisten Schwangeren ein Begriff. Dabei reisst das Gewebe zwischen Vulva und After (abhängig vom Ausmass der Verletzung wird der Dammriss in verschiedene Schweregrade von 1 bis 4 eingeteilt). Auch dass manchmal durch die Geburtshelfer ein Dammschnitt (Episiotomie) vorgenommen werden muss, wenn sich das Gewebe nicht genug dehnt oder begleitend bei einer Saugglocken- oder Zangengeburt, ist gemeinhin bekannt.
Gemäss Statistik kommt es etwa bei der Hälfte aller vaginalen Geburten in der Schweiz zu einem Dammriss. In den allermeisten Fällen handelte es sich um einen Dammriss ersten oder zweiten Grades. Die Dammschnittrate hingegen ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Während 2012 noch bei einem Viertel aller vaginal Gebärenden in der Schweiz ein Dammschnitt vorgenommen wurde, waren es 2017 nur noch 17%.
Ihr habt uns aber nicht nur von Dammrissen berichtet, sondern auch von weniger bekannten Verletzungen wie Labienrissen (Schamlippenrissen), Vaginalrissen (oft entstehen sie, wenn das Kind mit der Hand neben dem Kopf geboren wird), Klitorisrissen, Zervixrissen (Risse im Gebärmutterhals), Rektalrissen oder Analfissuren. Auch Hämorrhoiden, Marisken oder eine Symphysenlockerung können bei der Geburt entstehen.
In ganz schlimmen (aber zum Glück auch sehr seltenen Fällen) kann es zu einer Uterusruptur, einem Scheidenabriss, Beckenboden-Muskelrissen, Knochenbrüchen des Schambeins oder des Steissbeins oder zu einer Symphysensprengung kommen. Das tönt erst einmal ganz schön gruselig. In der Realität sind jedoch die meisten dieser Verletzungen extrem selten.
Umstritten ist, mit welchen Massnahmen sich den leichteren Verletzungen vorbeugen lässt. Empfehlungen gibt es viele, allen voran die Dammmassage und die Vaginaldilatation – Stichwort Epi-No (oh ja, das lustige blaue Ballöndli – been there, done that). Andere raten zu Akupunktur, Leinsamen, Himbeerblätter-Tee oder Heublumen-Dampfsitzbädern (been there too).
«Es gibt kaum wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit dieser Massnahmen und ich persönlich habe Zweifel, ob man etwas Vorbereitendes machen kann, das nachher wirklich einen Effekt hat», sagt Ariane Eichenberger Maio. «Das Risiko für Geburtsverletzungen ist von so vielen Faktoren abhängig, auf die wir gar keinen Einfluss haben.» Von der Anatomie der Frau etwa, der Grösse des Kindes und vor allem des kindlichen Kopfes, von der Elastizität des Bindegewebes, der Länge der Geburt (wenn es sehr schnell geht, hat das Gewebe wenig Zeit, sich zu dehnen) und vom Dammschutz, den die Hebamme unter der Geburt vornimmt.
Die Gynäkologin rät deshalb den Frauen, die sie in der Schwangerschaft betreut, nur das zu machen, worauf sie auch Lust haben. «Wenn eine Frau ihren Körper auch bauchnabelabwärts exploriert, finde ich das grundsätzlich toll, aber keine Frau soll sich unter Druck gesetzt fühlen, ihren Damm zu massieren, wenn es ihr zuwider ist.»
Lest dazu auch:
«VerDAMMt – Wenn der Dammriss nicht heilt», ein Erfahrungsbericht von Aline Maeder
«Meine Mariske: Nichts Schickes, Französisches. Au Contraire» und «Vorhang auf, Mariske ab: heute wird operiert (und geweint)», zwei schonungslos lustige Erfahrungsberichte von Livia Seiler
#10 Saugglocke, Zange und Kristeller-Handgriff – die vaginal-operative Geburt
«Am Ende haben sie mir meine Tochter mit der Glocke rausgezogen und das ist mir als Bauerntochter sehr viel brutaler eingefahren als eine Geburt bei Kühen.»
«Vor der ersten Geburt hatte ich keine Ahnung, was ein Kristeller ist. Wünsche es niemandem!»
Schon mal ein WC mit einer Saugglocke entstopft? Eine Saugglocken-Geburt (noch romantischer: Vakuumextraktion) funktioniert grundsätzlich nach demselben Prinzip. An den Kopf des Kindes wird eine kleine, flache Saugglocke aus Metall oder Gummi angebracht und von Hand oder mittels elektrischer Pumpe langsam ein Vakuum aufgebaut. Im Rhythmus der folgenden Wehen kann das Baby mit leichtem Zug auf seinem Weg nach unten unterstützt werden.
Eine Saugglocke kommt dann zum Einsatz, wenn der Muttermund vollständig eröffnet ist, das Baby die engste Stelle des Beckens passiert hat und beispielsweise auf Grund eines Sauerstoffmangels oder abfallender Herztöne beim Kind eine baldige Entbindung erforderlich ist oder wenn die Gebärende zu erschöpft zum Pressen ist. Auf dem Kopf des Babys kann durch das Vakuum eine leichte Schwellung oder ein Hämatom entstehen, das aber nach einigen Tagen wieder verschwindet.
Alternativ zur Saugglocke kann auch eine Geburtszange eingesetzt werden, mit der der kindliche Kopf umfasst und herausgezogen wird. Auch hier können Druckstellen am Kopf des Babys zurückblieben, die schnell abheilen. «Welche Methode zum Einsatz kommt, hängt hauptsächlich mit den Fertigkeiten des Geburtshelfers zusammen», erklärt Ariane Eichenberger Maio. «Wenn man die Zange richtig einsetzt, ist sie die schonendere Variante für das Kind. Aber nur noch wenige Ärztinnen und Ärzte sind heute geübt im Umgang mit der Zange.»
Eine vaginal-operative Entbindung ist gar nicht so selten, wie man vielleicht denken würde: Gemäss Statistik wurde in der Schweiz im Jahr 2017 etwa jedes zehnte Baby mit Saugglocke und jedes hundertste mit Zange entbunden. Eine solche beschleunigte Geburt ist für den Beckenboden sehr belastend und oft auch für die Gebärende traumatisierend. Häufig wird die Vakuum- oder die Zangengeburt mit einem Dammschnitt kombiniert (gerade bei Erstgebärenden), da der Damm noch wenig Gelegenheit hatte, sich langsam zu dehnen, und dafür meist auch keine Zeit bleibt. Teilweise kommt auch der Kristeller-Handgriff zum Einsatz.
Als Kristeller-Handgriff (übrigens nach demselben deutschen Gynäkologen benannt wie der Kristellsche Schleimpfropf) wird eine Methode bezeichnet, bei der die Geburtshelferin oder der Geburtshelfer während den Austreibungswehen durch Druck auf den Oberbauch der Gebärenden das Kind quasi nach unten schiebt und so die Geburt zu beschleunigen versucht. Diese Methode wird von Frauen oft als sehr unangenehm empfunden.
«Es mag für die Gebärende und ihren Partner sehr wild aussehen», gibt Ariane Eichenberger Maio zu, «aber ich versuche den Frauen bei einer Vakuumgeburt immer zu erklären, dass ich weniger am Kopf des Kindes zerren muss, wenn sie durch ihr Pressen und die Hebamme durch den Kristeller das Kind von oben herab schieben.»
#11 So viel Blut
«Ich hab’s ja nicht gross mitbekommen, aber mein Partner hat mir später erzählt, dass er wahnsinnig geschockt war über all das Blut, das er bei der Geburt gesehen hat.»
Blut gehört zu einer Geburt unweigerlich dazu – und wirkt doch manchmal sehr furchteinflössend. Dabei ist eine Blutmenge von bis zu einem halben Liter durchaus normal. Denn wenn sich die Plazenta von der Gebärmutter ablöst, entsteht eine offene Wundfläche, die blutet.
Normalerweise verschliessen sich die Gefässe rasch und die Nachwehen unterstützen diese Heilung. Die häufigste Ursache für einen übermässig starken Blutverlust ist eine Uterusatonie (die Gebärmutter zieht sich nach der Geburt nicht zusammen).
#12 Die Plazenta – oder warum die Geburt noch nicht vorbei ist
«Ich wusste nicht, dass die Geburt erst fertig ist, wenn die Plazenta da ist.»
«Plazenta, die nach der Geburt nicht rauskommt und die Ärzte drücken dann auf den Bauch. Autsch!»
Das Kind ist da, die Schmerzen mit einem Mal weg. Ende gut, alles gut? Noch nicht ganz, denn: Nun beginnt die dritte Geburtsphase. Erst wenn die Plazenta zusammen mit Nabelschnur und Eihäuten, eben die Nachgeburt, vollständig ausgestossen wurde, gilt die Geburt auch aus medizinischer Sicht als abgeschlossen.
Allzu schmerzhaft ist das in der Regel nicht. Die Plazenta wird zwar ihrem Namen Mutterkuchen vom Gewicht (etwa ein halbes Kilo) und der Grösse her durchaus gerecht, ist dabei aber weich und schwammig. Jedoch kann es auch jetzt noch zu Komplikationen kommen, etwa wenn sich die Plazenta nicht alleine oder nicht vollständig von der Gebärmutterwand löst. Wenn dies passiert, müssen die restlichen Gewebsstücke im OP ausgeschabt werden, weil sonst schwere Blutungen oder eine Infektion auftreten können.
Nach der Geburt landet die Plazenta normalerweise in der Verbrennungsanlage. Es gibt aber auch Frauen, die dieses während der Schwangerschaft so wichtige Organ, das eigentlich zum embryonalen Organismus gehört, behalten möchten. Die Gebärende hat das Recht, die Plazenta mitzunehmen und damit zu machen, was sie will.
Es gibt Frauen, die ihre Plazenta kochen und essen, im Tiefkühler aufbewahren, unter einem Baum vergraben oder daraus homöopathische Globuli oder Kapseln herstellen lassen. Auch eine Nabelschnurblut-Spende ist möglich. Dabei werden dem kindlichen Blut aus der Plazenta und der Nabelschnur Blutstammzellen entnommen und eingelagert. Diese können bei der Behandlung gewisser Krankheiten (z.B. Leukämie) eingesetzt werden. In der Schweiz gibt es allerdings nur in gewissen Spitälern die Möglichkeit, das Nabelschnurblut zu spenden.
#13 Kaiserschnitt – not the easy way out
«Ich gehöre zu dem einen Drittel der Frauen in der Schweiz, die ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt gebracht haben. Ich gehöre ebenfalls zu den drei Dritteln der Frauen, die das Gefühl haben, sich dafür rechtfertigen zu müssen.» (Andrea)
«Hast du natürlich geboren oder war es ein Kaiserschnitt?» Eine Standard-Frage an frischgebackene Mütter. Doch bei jenem Drittel der Frauen, die gemäss Statistik in der Schweiz ihr Kind per Kaiserschnitt zur Welt gebracht haben, löst sie oft Unbehagen aus. Viele haben das Gefühl, versagt zu haben, sich irgendwie rechtfertigen zu müssen, ihr Baby nicht aus eigener Kraft geboren zu haben.
Dabei ist ein Kaiserschnitt definitiv nicht «the easy way out», sondern eine Operation (manchmal gar eine Notoperation mit Vollnarkose), die Spuren hinterlässt. Am Körper, im Körper und auch im Kopf. Und deshalb ist es hilfreich, die bewertende Bezeichnung «natürliche» Geburt möglichst durch «spontane» oder «vaginale» Geburt zu ersetzen.
«Ich finde es ganz wichtig, einer Frau nach einem ungeplanten Kaiserschnitt klarzumachen, wieso es dazu gekommen ist und dass sie nichts dafür kann», sagt Ariane Eichenberger Maio. «Wir müssen uns auch bewusst sein, dass es immer schon Frauen gab, die nicht spontan gebären konnten, und dass diese Frauen und oft auch ihre Kinder früher einfach verstorben sind. Insofern können wir uns glücklich schätzen, dass wir heute diese Möglichkeit haben.»
Um ein Geburtstrauma zu verarbeiten – egal ob nach einem Kaiserschnitt oder nach einer vaginalen Geburt -, kann es hilfreich sein, mit einer erfahrenen Hebamme darüber zu sprechen (eine solche findet man zum Beispiel über das Netzwerk Verarbeitung Geburt).
Lest dazu auch:
«Ein Kaiserschnitt ist keine bequeme Geburt!» von Andrea
#daschamebruuche aus unserem Concept Store
#14 Hormone – und was sie während der Geburt mit uns machen
«Während der Geburt, das war nicht mehr ich. Ich verlor jegliche Hemmungen, schrie, stauchte meinen Mann zusammen, war wie in Trance.»
«Ich erlebte alles wie durch einen Schleier und kann mich heute nur noch bruchstückhaft erinnern.»
«Ich fühlte mich high, wie auf Drogen.»
Selten erlebt der moderne Homo sapiens – oder besser gesagt die moderne Homo sapiensin – heute noch einen so tiefgreifenden Kontrollverlust wie bei einer Geburt. Sind wir uns doch gewohnt, uns jederzeit im Griff zu haben. Bei der Geburt ist es anders: Wir müssen loslassen können, uns gehen lassen, den Kopf ausschalten, unserem Körper und dem Kind die Führung überlassen.
Keine einfache Aufgabe für die meisten von uns. Immerhin hat die Natur vorgesorgt: Das Geheimrezept heisst Endorphine. Endorphine sind körpereigene Hormone, die bei der Geburt in der Regel in grossen Mengen ausgeschüttet werden und schmerzlindernd oder gar schmerzunterdrückend wirken. (Kleiner Exkurs: Oft tut sich der weibliche Körper nach einer künstlich eingeleiteten Geburt etwas schwerer mit der Endorphin-Ausschüttung, wodurch die so ausgelösten Wehen als schmerzhafter empfunden werden können.)
Nebeneffekt: Die Endorphine machen uns zuweilen etwas gaga. «Man ist in diesem Zustand wirklich nicht so ganz zurechnungsfähig», bestätigt auch Ariane Eichenberger Maio. «Die Endorphine haben eine sehr ähnliche Struktur wie beispielsweise Heroin. Das Denken ist unter der Geburt zwar nicht gerade ausgeschaltet, aber eben so kanalisiert, dass man nicht zu viel denkt.» Es kann also nicht schaden, den werdenden Vater schon mal vorzuwarnen.
Jetzt wisst ihr Bescheid!
Wenn ihr bis hierhin gelesen habt, dann könnt ihr nun immerhin nicht mehr behaupten, wir hätten euch nicht gewarnt. Aber lasst euch gesagt sein: Eine Geburt läuft zwar selten nach Plan, kann aber durchaus sehr schön und komplikationslos sein.
Und dann ist da ja auch noch das Resultat der Geburt, das einem zwar in den kommenden Jahren den Schlaf rauben, den Toilettengang verunmöglichen und viele Nerven kosten wird, aber doch jede Anstrengung wert ist.
Habt ihr ähnliche oder ganz andere Erfahrungen gemacht? Erzählt es uns in den Kommentaren!
Und wenn ihr mehr über die Tabus im Wochenbett erfahren möchtet, hier klicken: Tabus im Wochenbett: Was erwartet mich nach der Geburt?
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 11. März 2021 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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