«Adolescence» – könnte uns das auch passieren?
Die Serie, in der ein 13-Jähriger im Internet zum Frauenhasser radikalisiert wird, lässt Eltern mit Fragen zurück. Michelle Mitchell, Expertin für Jugendpsychologie, nimmt Müttern und Vätern etwas Druck und sagt, was sie tun können.

Die Netflix-Serie «Adolescence» ist genial, weil sie einen zentralen Gedanken verfolgt: Das könnte jeder Familie passieren. Diese Prämisse hat aktuell Tausende von Menschen in das Gespräch über den Umgang unserer Kinder mit Technologie und Social Media hineingezogen.
Jamie, der 13-Jährige, um den es in der Geschichte geht, kommt daher wie ein ganz normaler Jugendlicher. Er hat ein kindliches Aussehen. Seine Familie wirkt wie eine, die wir kennen könnten. Dass wir uns derart identifizieren können, hat uns alle zum Reden gebracht – und dieser Fakt allein ist schon ein grosser Gewinn.
Ich will an dieser Stelle aber auch ein bisschen Entwarnung in die Richtung von besorgten Eltern senden. Denn im wirklichen Leben sind die Geschichten von 13-Jährigen, die schwere Gewalttaten begehen, selten in normalen, liebevollen Familien verwurzelt, wie es bei Jamie in «Adolescence» der Fall zu sein scheint.
Ein Faktor ist selten ausreichend.
Die Kinder und Jugendlichen, die für die Manosphäre (ein loses Netzwerk von antifeministischen Bloggern, Influencern und Podcastern) am anfälligsten sind, sind diejenigen, die keine Verbindung zu einem liebevollen, fürsorglichen Zuhause haben. Und sie sind ohne eigenes Verschulden in sehr komplexe Geschichten hineingeboren worden.
Sehr oft sind sie von einem oder mehreren der folgenden Risikofaktoren umgeben:
- Gefährdung durch häusliche Gewalt
- Misshandlung oder Vernachlässigung durch Bezugspersonen
- Früher Kontakt mit Drogen und Alkohol und deren Konsum
- Vorgeschichte von Verbrechen oder Gewalt
- Probleme mit der psychischen Gesundheit
Diese Liste ist natürlich nicht abschliessend. Gesellschaftliche Ausgrenzung ist beispielsweise ebenfalls ein Risikofaktor, und genau das war bei Jamie und seinen Freunden in «Adolescence» der Fall.
Aber selbst dann ist ein Faktor selten ausreichend. Es ist die Anhäufung mehrerer Risikofaktoren im Laufe der Zeit, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Kind anderen Schaden zufügt. Gewalt entsteht nicht einfach über Nacht und selten ohne Vorwarnung – sie ist das Ergebnis von lang anhaltendem Schmerz, zerbrochenen Bindungen und unerfüllten emotionalen Bedürfnissen.
Eltern haben mehr Einfluss als Andrew Tate
Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Kind, das ansonsten mit sich selbst im Reinen ist, sich in jemanden verwandelt, der in der Lage ist, einen anderen Menschen zu töten. Auch dann nicht, wenn es sich Andrew Tate ansieht oder in die Manosphäre eintaucht.
Wie mein eigener Sohn ironisch bemerkte: «Ich glaube, Andrew Tate bekommt viel zu viel Anerkennung. Ich denke, dass die Beziehung von Eltern, Lehrer:innen und Sporttrainer:innen zu einem Kind einen viel grösseren Einfluss hat.»
Als Eltern stehen wir zwischen der Manosphäre und unseren Kindern – wenn wir es so wollen. Ich will gerne die ermutigende Stimme sein, die sagt: Wir wehren uns. Wir schaffen das – gemeinsam. Ja, diese Maschinerie ist mächtig, aber wir sind es auch!
Sei die wichtigste Bezugsperson für dein Kind. Überlass das nicht TikTok. Nicht YouTube.
Wir müssen auf Verbindungen setzen. Auf offene, ehrliche, manchmal unangenehme Gespräche. Auf unsere Vorbildfunktion. Wir müssen auch Grenzen aufzeigen. Unsere Kinder mögen vielleicht schwanken und von den schrecklichen toxischen Botschaften rund um Männlichkeit beeinflusst werden, aber wenn sie vertrauenswürdige Erwachsene haben, die sie anleiten und sie zur Verantwortung ziehen, haben sie eine sichere Basis.
Und wenn sie eine Beziehung zu einer Mutter oder einer Schwester haben, die sie lieben, sind sie emotional an Frauen gebunden.
Wie viel Social Media soll ich zulassen?
Heutzutage Eltern zu sein, fordert uns alle. «Adolescence» soll uns vielleicht auch motivieren, die Art von Eltern zu sein, die wir aktuell im Leben unserer Kinder sein müssen. Wir sollten ein Auge darauf haben, was sie online tun. Sicherheitssoftware oder Begrenzungen verwenden. Wenn sie etwas beschäftigt, sollte uns das nicht entgehen. Wir müssen kommunizieren, kommunizieren und nochmals kommunizieren. Seien wir da – und vor allem: Bleiben wir in der Nähe.
Wenn du als Elternteil dich als respektvoller, anständiger Mensch in dieser Welt zeigst und gesunde Beziehungen vorlebst – DANKE. Wir Eltern müssen zusammenhalten, wenn wir den vielen technologischen Veränderungen begegnen wollen.
Was zählt also wirklich?
Sei die wichtigste Bezugsperson für dein Kind. Überlass das nicht TikTok. Nicht YouTube. Nicht irgendeinem Podcast-Moderator, der verspricht, die Geheimnisse der Männlichkeit oder von Beliebtheit zu lüften.
Wie viel Bildschirmzeit ist zu viel? So sehe ich das: Wenn die Bildschirmzeit zwischen dir und deiner Beziehung zu deinem Kind oder seinem Wohlbefinden steht, ist es zu viel. Zeit vor dem Screen kann unterhaltsam, informativ und sogar lustig sein, aber sie darf niemals der emotionale Anker oder die Identitätsquelle unserer Kinder sein.
Wenn du in der Nähe seiner Freunde bist, bring dich ein. Jungs nehmen mehr auf, als sie zugeben. Du musst nicht cool oder clever sein – nur echt. Ein einziger Kommentar, eine Geste oder sogar eine Bewegung kann die Art und Weise prägen, wie sie das Mannsein und sich selbst sehen.
Ein Kommentar, eine Geste oder eine Bewegung kann die Art und Weise prägen, wie Buben das Mannsein und sich selbst sehen.
Wenn dein Sohn an sich arbeiten will, dann nimm das aktiv zur Kenntnis. Im Internet gibt es haufenweise Menschen (aller Geschlechter), die deinem Buben noch so gerne sagen wollen, wie er ein Mann sein soll.
Buben brauchen Erfahrungen aus dem wirklichen Leben, die sie ihren eigenen Wert spüren lassen. Das ist niemals die Aufgabe einer einzelnen Person. Es kommt eine Zeit im Leben eines jungen Mannes, in der er sich umschaut und eine Gemeinschaft von Männern braucht, mit denen er das Leben erleben kann. In dieser Zeit dürfen wir kein Kind zurücklassen.
Sollen wir «Adolescence» mit unserem Teenager schauen?
Manche Eltern fragen sich vielleicht, ob sie «Adolescence» zusammen mit ihrem Kind schauen sollen? Ich meine: Nur, wenn das Kind daran interessiert ist. Ich sehe keinen Grund, Kindern diese Serie aufzudrängen, weder in der Schule noch zu Hause. Aber natürlich kann sie als Diskussionsgrundlage dienen. In jedem Fall: Schau die Serie zuerst selbst an, da sie schwere Themen und Inhalte enthält.
«Adolescence» mag in dieser einen Sache etwas übertrieben haben. Aber die Macherinnen und Macher haben so vieles richtig gemacht: Die Serie bringt die Diskussion über die Gefahren der Manosphäre in jeden Aufenthaltsraum, an jedes Schultor und in die Herzen der Eltern. Wir alle nehmen unterschiedliche Dinge mit aus dieser Serie, und das ist wunderbar.
Uns alle beschäftigt dieses grosse, bedrohliche Thema – dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir auch die Lösung bereits kennen: Verbindung.
Und auf sie dürfen wir vertrauen.
*Michelle Mitchell hat diesen Text auf ihrer Webseite veröffentlicht. Wir haben ihn mit ihrem Einverständnis ins Deutsche übersetzt.
Informationen zum Beitrag
Veröffentlicht am 27. März 2025.
Bildquelle: Netflix
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