Verlieren lernen: Wie Kinder ihre Gefühle regulieren können
Wut, Tränen, Geschrei – das Spielen mit Kindern endet oft in Gefühlsausbrüchen. Verlieren will gelernt sein. Was hilft in solchen Situationen und was eher nicht?
Die Kinder kugeln sich vor Lachen: Meine Spielfigur ist gerade in ein Loch geplumpst. Fünf Sekunden später: Das Figürchen eines Kindes fällt in ein Loch. 3, 2, 1… Wutausbruch.
Manchmal wird laut rumgeschrien. Manchmal fliegt das gesamte Brettspiel in die Luft. Manchmal werden Spielkarten zerknüllt oder zerrissen.
Ihr kennt das, oder?
Kennt ihr auch Möglichkeiten, wie man seinem Kind hilft beim Verlieren lernen?
Wisst ihr, wie man den Kleinen beibringt, mit Misserfolgen umzugehen?
Ich hatte keine Ahnung, wie das geht. War immer wieder von der Heftigkeit der Gefühlsausbrüche überrascht. Überfordert. Und habe dann sehr oft sehr suboptimale Dinge gesagt.
Ich merkte sofort, dass meine Aussagen eher das Gegenteil bewirken und die Kinder weder beruhigen noch ihnen Frusttoleranz vermitteln. Und ich erkannte mit der Zeit, dass mein älteres Kind ungern Fehler macht und schwierige Situationen lieber vermeidet aus Angst vor diesen überwältigenden negativen Gefühlen.
Ich wollte, dass mein Kind ein gesundes Selbstvertrauen entwickelt.
Dass es die Sicherheit verspürt, dass es Misserfolge überstehen kann – und weiss, dass es jederzeit bedingungslos geliebt wird.
Also befasste ich mich intensiver mit dem Thema.
Weil wir bei mal ehrlich gerne Spiele kreieren – zum Beispiel das Früher-Heute-Spiel, Bullsh*t-Bingos oder ein Mütter-Quiz – habe ich ein Quiz für euch zusammengestellt rund ums Thema Verlieren lernen. Viel Spass:
1. Das Kind verliert und zeigt seinen Frust, mit Weinen, Schreien oder Ähnlichem.
Ich sage:
A) Mach nicht so ein Theater!
B) Ist doch nicht so schlimm.
C) Das macht dich ganz schön wütend, stimmt’s?
Lösung:
A) Ist dann richtig, wenn man das Haus ohnehin bald renovieren möchte.
Oder wenn gerade Halloween ist und man das Haus zwar toll dekoriert hat, aber für die perfekte Atmosphäre noch grusliges Geheul bräuchte. Ansonsten bringt dieser Satz nichts. Er hat in der gesamten Geschichte der Menschheit kein einziges Mal funktioniert, führt nur zu mehr Frust, mehr Tränen, mehr Geschrei. Oder er bringt kurzzeitig Ruhe – aber dann sind nachgelagerte (und umso krassere) Emotions-Eruptionen garantiert.
Obwohl wir das alles wissen: Der Satz rutscht vielen von uns ab und zu raus.
Zum Beispiel dann, wenn wir keine Energie mehr übrighaben, um emphatisch zu handeln. Oder er rutscht uns einfach raus, weil wir ihn selber als Kind so oft gehört haben und weil wir als Erwachsene absurderweise oft die Muster unserer Kindheit wiederholen.
B) Führt im ersten Moment oft zu einer Beruhigung der Situation.
Der kritische Moment wird abgewürgt – ebenso wie die Emotionen des Kindes. Es lernt dabei, die eigenen Gefühle nicht ernst zu nehmen, sie runterzuschlucken.
Sehr gerne merkt es sich diesen Satz auch und wendet ihn dann gegen uns.
Zum Beispiel bei Dingen, die es nicht so schlimm findet, wie überflutete Badezimmer, im Gully versenkte Hausschlüssel oder gepiesackte Geschwister.
Wer also möchte, dass sein Kind eigene Gefühle nicht einordnen kann und auch die Gefühle von anderen nicht so wichtig findet: Dieser Satz hilft massiv dabei.
C) Hilft, mit dem Kind in Kontakt zu kommen und Verständnis zu signalisieren.
Dieser Satz klingt für mich heute so logisch – und war es so lange nicht. Dass ein Kind erst lernen muss, seine Gefühle zu benennen, war mir nicht vollends bewusst. Es wird von etwas überrollt, ist komplett überfordert und weiss nicht, was da mit ihm passiert – und reagiert oft so dankbar, wenn man ihm Worte dafür gibt. Wenn es als Frage formuliert ist, wirkt es auch nicht so wie eine aufgedrückte Diagnose.
Manchmal sage ich diesen Satz und der Wutanfall verebbt abrupt.
Die Schultern sinken hinunter, das zuvor noch tobende Kind kommt zu mir und fällt mir in die Arme. Es fühlt sich verstanden, angenommen. (Manchmal geht der Wutausbruch auch weiter. Aber es fühlt sich für mich trotzdem besser an, einen Schritt auf das Kind zugemacht statt es verbal weggestossen zu haben. Ich ertrage den Wutanfall dann gelassener.)
2. Das Kind möchte wieder ein Spiel spielen.
Ich…
A) … lasse es von nun an einfach immer gewinnen.
B) … schlage vor, dass wir gemeinsam überlegen, wie sich das Verlieren weniger furchtbar anfühlt.
C) … sage: «Sicher nicht, du rastest sonst nur wieder aus.»
Lösung:
A) So einfach!
Also nicht für Lehrpersonen, Sporttrainer:innen, Kolleg:innen meines Kindes… die dann den Wutanfällen ausgesetzt sind. Aber who cares, gäll.
B) Anspruchsvoll, aber wirkungsvoll.
Wieso soll man etwas Neues lernen? Wir Menschen brauchen einen Grund für die Mühe, sonst investieren wir lieber keine Energie. Ein Kind ist also eher motiviert, sich mit dem Verlieren auseinanderzusetzen, wenn es sich davon etwas verspricht.
Vielleicht möchte es diese Wut nicht mehr durchleben müssen, sich ihr nicht mehr ausgeliefert fühlen. Vielleicht sind ihm seine Wut-Tränen in bestimmten Situationen unangenehm. Vielleicht wünscht es sich, dass seine Freund:innen wieder mit ihm spielen. Vielleicht möchte es einen Teamsport machen und spürt, dass die Frustanfälle ein Hindernis sind.
Es hilft, gemeinsam zu überlegen, was die Vorteile sind beim Verlieren lernen.
Ich hätte nicht gedacht, dass diese Überlegungen schon etwas bewirken. Tatsächlich aber halfen sie sehr viel: Sie zeigten dem Kind auf, dass es die Gefühle nicht regulieren soll, weil «man sich nicht so benehmen kann». (Ja, den Satz habe ich auch schon gesagt. Und ich hasse eigentlich alle «man»-Sätze… Uff.) Sondern dass es selber Vorteile darin sieht und sich aussuchen darf, was ihm wichtig ist.
C) So simpel!
Ab jetzt muss man nie wieder mit seinem Kind spielen. Und hat ihm eine Weltsicht beigebracht, die es vor Offenheit und Flexibilität bewahrt.
3. Das Kind möchte das Verlieren lernen.
Wenn es nun verliert…
A) … lobe ich es für kleine Veränderungen in seinem Verhalten.
B) … lache ich es besonders laut aus.
C) … machen wir danach eine detaillierte Nachbesprechung.
Lösung:
A) Es ist so schwierig, und doch so wichtig:
Kleine Verhaltensänderungen wertschätzen und aufzeigen. Ich wünschte, es gelänge mir besser. (Moment! Jetzt könnte ich das ja gleich an mir üben. Ja, ich wünschte, ich könnte das noch besser. Aber ich anerkenne, dass ich es schon ein wenig besser kann als vor einigen Monaten. Juhu!)
Man kann sich darauf trainieren, diese kleinen Fortschritte zu sehen. Und es hilft unglaublich viel, wenn man dem Kind sagt: «Hast du gemerkt, dass du nur noch kurz aufgeschrien hast? Vor einiger Zeit hättest du zehn Minuten gewütet.» Oder es zu fragen:
Du hast diesmal recht locker reagiert. Wie hast du das geschafft?
Wie bei uns Erwachsenen auch: Aussenstehende bemerken Fortschritte oft besser als wir selber. Und wie gut tut es bitteschön, wenn jemand uns auf eine kleine positive Entwicklung hinweist?!
B) Scham ist eines der lähmendsten Gefühle überhaupt.
Mit dem Auslachen des Kindes kann man die emotionale Erstarrung massiv fördern und das Verlieren lernen sabotieren. Wer das gerne noch verstärken möchte: Wieso nicht noch ein Video machen, wenn das Kind einen Wutanfall hat und es im WWW verbreiten?
C) Ideale Antwort, wenn das Kind endlich mit dieser blöden Sportart aufhören soll.
Oder wenn man Platz im Schrank braucht und die voluminösen Brettspiele entsorgen möchte. Zu detaillierte Nachbesprechungen haben nur einen Effekt: Die Freude an der Sache verderben. Learning by doing ist sehr viel beglückender – eigentlich nicht nur für Kinderhirne, sondern für alle Altersstufen. Oder gibt es irgendwen, der von sich sagen kann: «Beim Frontalunterricht habe ich in der Schule am allermeisten gelernt»?
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4. Mein Kind kommt nun immer besser mit Niederlagen klar.
Ich…
A) … klopfe mir auf die Schultern.
B) … erkläre nun allen Eltern, wie sie es richtig machen sollen.
C) … gebe denen Tipps, die danach fragen.
Lösung:
A) Yes!
Es ist anstrengend, sein Kind liebevoll zu begleiten und ihm das Verlieren lernen langsam beizubringen. Auch deshalb, weil man oft mit eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert wird. Ich zum Beispiel musste erkennen, wie wenig ich selbst auf meine Gefühle achte, und wie sie mich dann überrollen. Mein Kind flippt aus, weil es bei «Lotti Karotti» verliert.
Ich flippe aus, weil ich beim «Wir müssen pünktlich aus dem Haus»-Spiel verliere.
Also musste ich auch lernen, in mich reinzuspüren und meine Gefühle besser zu regulieren. Und konnte dem Kind gleich vermitteln, dass ich imfall auch noch viel zu lernen habe – dass wir alle Fehler machen und das völlig okay ist.
B) Der Geheimtipp, …
… um auf der Beliebtheits-Skala weit nach oben zu schiessen. Alle mögen Besserwisser.
C) Genau das tue ich jetzt.
Falls ihr gerne mehr zum Thema Verlieren lernen wissen würdet, sehr hilfreich fand ich:
- den Biber-Blog – mit einem Video, das man sich auch mit den Kindern anschauen kann
- das Buch «Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden» von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund (mit ihnen gibt es bei uns ein Interview zum Thema ADHS und einen Podcast zum Thema «Kinder brauchen keine perfekten Eltern»)
- das Buch «Erziehen ohne Schimpfen» von Nicola Schmidt (wir haben eine Podcast-Episode mit Nicola: Kindererziehung: STOPP, ich muss gar nichts! )
- den Podcast «Familienrat»
- das Kinderbuch «Gefühle – So geht es mir»
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 4. Juni 2021 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
Dies ist eine Kooperation mit Ravensburger. Das bedeutet: Das Thema des Beitrags wurde gemeinsam definiert, weil beide Seiten es wichtig finden. «Lernen durch Spielen» ist genau das, wofür Ravensburger steht. In der Umsetzung des Artikels waren wir komplett frei und haben lediglich zwei Spiele zum Testen erhalten. Alle anderen empfohlenen Spiele sind diejenigen der Autorin.
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