Andrea Jansen ist mal ehrlich: Nehmt die Kinder ernst!
Die E-Mail von einem Nachbarn erreichte mich bei guter Laune und tiefem Puls. Das sollte sich aber schnell ändern. Ein Rant gegen Adultismus.
Eine E-Mail von unserem Nachbarn. Der Betreff: Sauerei beim Geräteschuppen.
«Liebe Andrea. Beim Geräteschuppen ist eine riesige Sauerei und es hat Farbflecken auf dem Boden. Ihr seid die einzige Familie mit noch relativ kleinen Kindern. Frage: Waren sie das?»
Ich kann mich nicht mehr erinnern, was die Röte schneller in meinen Kopf trieb: Die absolut unbegründete und unverblümte Anschuldigung? Die unsanft eingeleitete Frage mit Doppelpunkt? Oder der Fakt, dass man automatisch die üblichen Verdächtigen ins Visier nahm: Kinder. In diesem Fall meine, generell aber alle.
Kinder machen Dreck, sind laut, nerven, übernehmen keine Verantwortung, haben keinen Respekt vor Eigentum, sind grundsätzlich unerwünscht.
Dafür gibt es sogar einen -ismus. Und obwohl ich grundsätzlich nicht begeistert bin von den vielen -ismen, weil sie mich oft mit intellektuellem Zeigefinger daran erinnern, wo ich noch an mir arbeiten könnte: Adultismus ist in der Schweiz omnipräsent.
Kinder dürfen nur da sein, wenn sie still sind.
Kinder dürfen stattfinden, wenn sie brav in der Schule sitzen (aber nicht verhaltensauffällig sind), brav im Tram sitzen (aber nicht rumschreien), brav im Restaurant malen (aber ja nicht um den Tisch rennen).
Für Kinder muss man entscheiden, «die verstehen das ja noch nicht», Kinder muss man nicht ernst nehmen, weil sie den Ernst des Lebens ja noch nicht zu spüren bekommen haben. Weil sie noch zu fröhlich sind.
Diese Haltung gegenüber Kindern ist nicht nur verletzend, sie hat auch Konsequenzen.
Für Eltern bedeutet sie ein ständiges Downgrade, gerade wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht.
Ich stelle mir vor, die Bedürfnisse der Kinder würden gleich gewertet wie die der Erwachsenen. (Warum eigentlich nicht? Sind sie nicht die Erwachsenen von morgen?): Sie dürften mehr Platz einnehmen, lauter sein.
Als Eltern würde man im öffentlichen Raum nicht ständig auf Eierschalen tanzen.
Man dürfte sich gänzlich vom Gefühl lösen, sich mit Kind ausserhalb von designierten Kinderzonen in einer lose-lose-Situation zu befinden.
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Kinder sind ja sowieso blöd, klein, inkompetent
Ein weiteres Beispiel. Ein Museum mit Lichtinstallationen in Zürich, sensorisch mit Farben und Lichtern, es geht um Da Vinci. Ich klopfe mir natürlich mental auf die Schulter, dass ich einen so edukativen Familienausflug geplant habe – 100 Punkte auf mein Perfektionismus-Konto.
Beim Einlass guckt mir die Ticketing-Frau streng in die Augen, meine Kinder, die direkt neben mir stehen, ignoriert sie.
«Schauen Sie, dass die Kinder im Raum nicht rumspringen, schreien oder laut reden», weist sie mich an, und impliziert, dass Kinder das sowieso grundsätzlich tun und auch, dass sie zu blöd (?), klein (?), inkompetent (?) sind, um sie direkt anzusprechen und ihnen und uns die Regeln auf Augenhöhe zu erklären.
Im Raum selber waren es dann natürlich Erwachsene, die sich laut miteinander amüsierten.
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Ich regte mich auf, las den Kindern die Nachricht vor. Sie waren zu Recht verletzt. Warum würde jemand das denken?
Warum werden sie vorverurteilt? Nur wegen ihres Alters?
Und excusé – «Was ist denn mit DEINEN Kindern, waren es die?», hätte ich meinem Nachbarn gern zurückgeschossen.
Hab’ ich aber nicht. Und es geht grundsätzlich auch nicht um die Frage an sich, denn ja, selbstverständlich hätte es tatsächlich sein können, dass meine – oder irgendwelche – Kinder am Geräteschuppen Farbflecken hinterlassen. Höchstwahrscheinlich nicht mit böser Absicht, sondern als Nebenprodukt von Spass und kindlicher Neugier.
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Fehler passieren, Fehler kann man beheben. Und gerne darf man als Nachbar darauf hinweisen und fragen, ob jemand etwas davon weiss. Aber halt nicht so.
«Ich kann bestätigen, dass das nicht unsere Kinder waren.»
Schrieb ich zurück. Und fügte dann an, wie diskriminierend ich es finde, automatisch die Jüngsten im Quartier zu verdächtigen. Nachbar schmollte.
Eine Woche später erreichte mich erneut eine Nachricht, triumphierend. Die Übeltäter seien gefunden! Den Eltern habe man die Reinigung der Farbe «aufgebrummt»!
Man kann die Welt natürlich auch so sehen. Sie bleibt dann einfach sehr, sehr grau.
Wenn wir lernen, Kinder ernst zu nehmen und ihnen Raum zu geben, schaffen wir eine Gesellschaft, die nicht grau bleibt. Sondern bunt – so bunt wie die Farbflecken, über die man sich so aufregen kann.
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Veröffentlicht am 26. November 2024
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