Tschüss, Vereinbarkeit! Schweizer Weltkonzern streicht das Homeoffice
Ein grosses Unternehmen hat Eltern und anderen Angestellten abrupt den Boden unter den Füssen weggezogen. Was passiert ist und wie andere Unternehmen mit Remote Work umgehen.
Stell dir vor, du hast endlich den Familienalltag durchorchestriert: die Arbeitszeiten der Eltern, die Termine der Kinder mit Schule, Kindergarten, ausserfamiliärer Betreuung, mit allem, was sonst noch so anfällt. Ja, Vereinbarkeit ist Rocket Science.
Stell dir vor, du kannst diesen Plan in die Tonne kippen. Jetzt gleich.
Genau das ist letzte Woche passiert. Am 29. April erhielten die Schweizer Angestellten von Schindler eine Infomail mit einer Richtlinie zu Remote Work. Schindler ist ein Weltkonzern für Aufzüge und Rolltreppen, mit insgesamt über 70’000 Beschäftigten. Neben dem Hauptsitz in Ebikon gibt es 19 Geschäftsstellen in der Schweiz und eine in Liechtenstein.
Die neue Richtlinie besagt, dass die Angestellten keinen Anspruch mehr haben auf Remote Work. Gültig per 1. Mai.
Zwei Tage Vorlauf. Wow.
Die Mitteilung hat alle überrumpelt, auch Führungspersonen. Seither herrscht Unruhe. Mündlich, es ist ein grosses Gesprächsthema, und auch physisch. Denn längst nicht alle, die zurückbeordert wurden, hatten gleichzeitig Platz an ihrem eigentlichen Arbeitsort, man musste teilweise auf andere Geschäftsstellen ausweichen. Nach durchdachter Planung klingt das nicht.
Mal ehrlich: Ich war baff.
Zur Transparenz: Ich bin die Frau eines Schindler-Mitarbeiters. Einmal pro Woche war er bisher fix im Homeoffice und betreute unsere Kinder über Mittag, damit ich an diesem Tag ausser Haus arbeiten konnte. Manchmal auch an anderen Tagen, immer in Absprache mit Vorgesetzten und Team.
Diese Flexibilität war eine Prämisse beim Einstellungsgespräch, ohne diese Zusicherung hätte er die Stelle nicht angetreten – viele andere Angestellte auch nicht.
Ein Eintauchen in die Details des Infomails (das ich hier nicht teile, da es ein vertrauliches internes Dokument ist) zeigt: Ortsunabhängiges Arbeiten ist bei Schindler in Zukunft nicht vollends unmöglich. Gelegentliche Aufenthalte in einer anderen Geschäftsstelle, näher beim Wohnort zum Beispiel, sind eher umsetzbar als Homeoffice. Für letzteres braucht es einen Antrag, der von hoher Stelle abgesegnet werden muss – und nur 20 Prozent aller Teammitglieder können dies regelmässig in Anspruch nehmen, ausserdem mit Beschränkung auf maximal einen Arbeitstag pro Woche.
Remote Work wird also mit verschiedenen Massnahmen so massiv erschwert, dass die Regelmässigkeit, sprich: Verlässlichkeit, fehlt.
Möglichst hohe Hürden einbauen, ein üblicher Kniff.
Menschen am Anschlag
«Wie geht’s dir?» lautet eine nationale interne Kampagne von Schindler rund um psychische Gesundheit.
Ja, wie geht’s denn so?
Für unsere Familie ist die neue Richtlinie nicht existenzbedrohend wie bei anderen Beispielen, die mir in den letzten Tagen zugetragen wurden. Ich bin selbständig und brauche mich keinem Arbeitgeber zu erklären, muss nicht um meinen Job bangen. Aber ich werde entweder Anfragen ausschlagen oder mich bei jedem neuen Auftrag aufwändig organisieren müssen. Ein grosser zusätzlicher Zeitaufwand und noch etwas mehr Mental Load.
Ich befrage Angestellte. Sie reden nur anonym, denn: Wer traut sich schon, in den Medien mit seinem Namen hinzustehen, wenn grad so etwas Vertrauenserschütterndes passiert ist?
Nein, es geht nicht gut.
Nicht der Familie mit kleinem Baby, wo dank regelmässigem und planbarem Homeoffice beide Elternteile erwerbstätig sein konnten. (Natürlich nicht, um das Kind während Homeoffice daheim zu betreuuen, sondern aus organisatorischen Gründen mit der Kita.)
Nicht dem geschiedenen Vater, der seine Kinder dank Homeoffice ab und zu über Mittag eine Stunde sah.
Nicht der Alleinerziehenden, die künftig Extrageld ausgeben muss für Mittagstisch und Schülerhort. Eine Betreuungslösung, die nur halbjährlich im Voraus buchbar ist, die kommenden drei Monate hat sie noch keine Lösung.
Nicht der Tochter, die ihre Mutter dank Homeoffice jeweils zu den Zeiten im Seniorenheim besuchen konnte, wenn die demenzkranke Frau eher klare Momente hatte.
Nicht all denjenigen, die ihre Stelle nur deshalb angetreten hatten, weil ihnen Homeoffice zugesichert wurde. Weil sie Eltern sind oder andere Care-Arbeitende, Tierbesitzerinnen oder weil Wohnort und Arbeitsstelle weit auseinanderliegen.
Nicht all jenen, die Schindler grundsätzlich einen guten Arbeitgeber finden, der sich bisher mit Talentförderungsprogrammen und mit anderen Massnahmen für ein «sicheres, gesundes und zukunftsorientiertes Arbeiten eingesetzt» hatte – so wie es als Versprechen auf der Webseite steht. Diese Angestellten hätten so eine kurzfristige und massive Änderung nie erwartet und sind verunsichert.
Warum so ein rigoroses Vorgehen gegen Remote Work?
Dass ein Unternehmen die Leute zurück ins Büro beordert, ist nicht ungewöhnlich. Vielerorts gab es nach dem Ende der Corona-Pandemie Anpassungen. Aber was sind die Hintergründe bei Schindler?
Ich wende mich an die Kommunikationsabteilung: Wie kam es zu diesem Entscheid?
Die offizielle Antwort: «Aus der Überzeugung, dass persönlicher Austausch zentral für den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit innerhalb und unter den Teams ist und sich positiv auf die Unternehmenskultur und damit den Geschäftserfolg auswirkt. Hieraus entstehen oft neue Ideen und Innovation, was sich immer wieder in unserer 150-jährigen Geschichte gezeigt hat.»
Zusammenarbeit, Ideen, Innovationen – das klingt wichtig. Nur: Ist diese getroffene Massnahme visionär oder nicht eher eine Rückkehr zu Altbekanntem?
Zielt eine solche Erschwerung von hybridem Arbeiten nicht komplett vorbei an neuen Realitäten und Bedürfnissen?
Ist sie gar fahrlässig in Zeiten von Fachkräftemangel und gestiegenen Wünschen nach flexiblen Arbeitsformen? Und auch ganz spezifisch unattraktiv für all die Väter mit dem Wunsch nach mehr Engagement im Familienleben?
Was sagt die Wissenschaft zu Remote Work?
Klappt es mit der Zusammenarbeit, mit Ideen und Innovationen tatsächlich besser, wenn man in Grossraumbüros zusammensitzt? Sind solche Massnahmen die Treiber für Motivation, Teamgeist, Kreativität?
Es gibt hierzu zahlreiche Studien und divergierende Erkenntnisse.
Eine grosse Befragung der Technischen Universität Darmstadt kam 2023 zum Schluss: Beschäftigte im Homeoffice sind zufriedener und wesentlich produktiver. Dem widerspricht eine Übersichtsstudie aus den USA, ebenfalls von 2023, sie ortet einen Effizienz-Abfall. Der FlexWork Survey 2022 der Fachhochschule Nordwestschweiz betrachtete Remote Work unter psychologischen Aspekten und kommt unter anderem zum Fazit, dass hybrides Arbeiten für viele Erwerbstätige mittlerweile ein absolutes Muss-Kriterium sei.
Alle Untersuchungen nennen auch Nachteile von Remote Work wie geringeres Zusammengehörigkeitsgefühl oder tendenziell weniger Kreatitivtät durch abnehmende teamübergreifende Begegnungen.
Drum: Grosses Verständnis für eine Organisationsstruktur, die regelmässigen Austausch vor Ort fördert. Auch der Schwatz an der Kaffeemaschine kann wertvoll sein und beispielsweise zu mehr Verständnis und neuen Lösungen führen.
Schindler zielt auch auf die interne Fairness ab und schreibt mir: «Ein weiterer Bestandteil des Entscheids ist die Solidarität mit den rund 70 Prozent der Schindler-Mitarbeitenden in der Schweiz, die im Feld oder in der Produktion arbeiten. Sie installieren und warten unsere Aufzüge und Fahrtreppen und sind bei unseren Kundinnen und Kunden vor Ort. Unsere Feldmitarbeitenden sind das Gesicht von Schindler in der Öffentlichkeit. Diese Mitarbeitenden können kein Remote Working machen. Die neue Regel ist ein Konsens, der die Interessen aller Schindler-Mitarbeitenden in der Schweiz berücksichtigt.»
Wenn die einen nicht von zu Hause arbeiten können, dürfen alle nicht.
Eine Logik, die nicht nach 2024 klingt, mich irritiert zurücklässt. Und nicht nur mich.
Gespräche mit Personen, die dieses Gesicht in der Öffentlichkeit sind, zeigen ein anderes Bild: Da ist keine Spur von Missgunst gegenüber den Büroleuten. Natürlich gebe es manchmal Sprüche über die Bürogummis im Homeoffice, dass diese es viel angenehmer hätten, heisst es. Das seien interne Frotzeleien. Aber wer draussen arbeitet, hat das ja so gewählt und war sich der Bedingungen bewusst.
Überdies gibt es nicht wenige, die jetzt Feldarbeiter sind und denen man einst einen internen Aufstieg schmackhaft machen wollte. Erst mal die technische Grundlage schaffen, daneben eine Weiterbildung absolvieren und nach einigen Jahren ins Büro wechseln, beispielsweise dann, wenn eine Familiengründung im Raum steht.
Seit der Mail vom 29. April habe dieser Wechsel innerhalb des Unternehmens enorm an Attraktivität verloren, wird mir erzählt.
#daschamebruuche – aus unserem Concept Store
Wie machen es denn andere Firmen?
Es gibt ja noch andere Arbeitgeber mit derselben Thematik, mit Angestellten im Aussendienst und im Büro. Wie handhabt es zum Beispiel die SBB mit Remote Work?
Von der SBB heisst es: «Die Pandemie hat gezeigt, dass gewisse Arbeiten im Homeoffice effizienter erledigt werden können und sich flexible Arbeitsformen positiv auf die Work-Life-Balance und die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben auswirken. Dabei gilt der Grundsatz: Homeoffice übersteigt in der Regel nicht mehr als 40 Prozent des individuellen Arbeitspensums. Die konkrete Ausgestaltung wird mit der Führungskraft vereinbart, wobei gesunder Menschenverstand angewandt und der Handlungs-/Gestaltungsspielraum gemeinsam genutzt wird. Die Teams organisieren sich unter der Führung ihrer Führungskräfte selbst und schaffen ausreichend Gelegenheiten der Begegnung und des Austausches vor Ort.»
Tadah befasst sich ebenfalls tagtäglich mit Vereinbarkeit und Remote Work: Das Unternehmen betreibt einen Coworking-Space mit Kinderbetreuung und berät Firmen im Bereich Vereinbarkeit.
Diana Wick Rossi von Tadah sagt: «Entgegen gängiger Meinung haben es sich Mütter und Väter im Homeoffice nicht bequem gemacht. Sondern sie versuchen, ihre Arbeit und ihre Familie so zu koordinieren, dass es keine Kollateralschäden gibt – nicht bei den Kindern, nicht bei der Arbeit und auch nicht bei sich selbst. Dies nennt man Vereinbarkeit. Und diese wiederum sorgt dafür, dass Mitarbeitende tatsächlich beides sein können: verantwortungsbewusste Arbeitnehmer:innen und ebensolche Eltern. Die Option Remote Work ist somit die beste Massnahme, welche ein Unternehmen für zufriedene Mitarbeitende, weniger Fehlzeiten, mehr Loyalität und mehr Frauen in Führungspositionen tun kann.»
Stellungnahmen von anderen grossen Arbeitgebern gehen in eine ähnliche Richtung: Man weiss um die Bedeutsamkeit von Homeoffice – nicht nur aus organisatorischen Gründen für Familien, sondern auch bezüglich psychischer Gesundheit und Lebensgestaltung aller Mitarbeitenden.
Manche Firmen, zum Beispiel Banken, haben die Angestellten vermehrt wieder ins Büro geholt und auch das stiess nicht immer auf Anklang. Aber sie ermöglichen mehr Flexibilität, bauen bezüglich Homeoffice weniger Hürden ein.
Und vor allem: Sie gaben für die Umsetzung mehr Vorlaufszeit. So dass sich die Angestellten nicht übertölpelt vorkamen.
Dieses Gefühl krallt sich tief hinein.
Und jetzt? Was passiert mit all den Leuten, die nicht so schnell alles umorganisieren können?
Auf meine Anfrage schreibt Schindler: «Wir nehmen Rückmeldungen zur neuen Regelung sehr ernst und vereinbaren selbstverständlich bei Härtefällen individuelle Übergangsfristen. In Notfällen oder aussergewöhnlichen Ereignissen kann auch in Zukunft in Absprache mit der/dem Vorgesetzten von zuhause aus oder remote gearbeitet werden.»
Ob sich das zerrüttete Vertrauen damit wieder kitten lässt?
Mal ehrlich: Wie würdet ihr euch in so einem Fall fühlen?
Update: Im Sommer wurden zahlreiche Anträge für einen Homeoffice-Tag pro Woche akzeptiert. Schindler anerkennt somit zumindest ein bisschen die Realität von Arbeitnehmenden im Jahr 2024. Trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück über die derart kurzfristige Kommunikation und die darauffolgenden Monate der Unsicherheit.
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Veröffentlicht am 9. Mai 2024
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