«Während ich meine sterbende Mutter pflegte, kamen meine Kinder zu kurz»
Die eigenen Kinder betreuen und kranke oder gar sterbende Eltern pflegen: Unter dieser Doppelbelastung leidet vieles. Ein Erfahrungsbericht.
Vieles hat sich verändert, seit meine Mutter krank geworden und gestorben ist. Vieles hat sich wieder eingerenkt und gelegt. Vieles ist wieder schön und gut. Vieles ist wieder normal. Doch etwas steckt noch tief in mir drin: Trauer, Verzweiflung und viel Wut. Vieles ist kaputt gegangen in mir. Und auch um mich herum.
Am allerschlimmsten für mich ist, dass die Beziehung zu einem meiner Kinder in dieser Zeit wahnsinnig gelitten hat.
Als meine Mutter krank wurde, war sie 62, ich 31, meine Kinder drei und fünf Jahre alt. Die Krankheit – eine unheilbare, höchst aggressive Krebserkrankung – schritt sehr schnell voran. Vom Zeitpunkt der Diagnose bis zu ihrem Tod vergingen bloss zehn Monate.
Zehn Monate im Sturm.
Nach der Diagnose stellte sich uns die Frage der Betreuung meiner Mutter, da sie halbseitig gelähmt war und nicht mehr alleine zu Hause sein konnte. Mein Vater war noch Vollzeit erwerbstätig, meine zwei Brüder auch. Wir akquirierten die Spitex für die Körperpflege, die sonstige Betreuung deckten mein Vater, meine Schwägerin und ich ab.
Ein grosser Fehler, wie ich heute weiss. Wie sollten drei Personen, welche nebenbei arbeiten, Kinder haben und keine Nacht durchschlafen, die Rundumversorgung eines todkranken Menschen bewerkstelligen?!
Doch wir wussten es zu diesem Zeitpunkt nicht besser, wollten es alleine schaffen, wollten für Mami alles tun. Für sie, die ja auch immer alles für uns getan hatte. Heute weiss ich es besser. Heute weiss ich, wie unachtsam wir gegenüber uns selbst waren, wie viel wir aufs Spiel gesetzt haben.
Während der Betreuung meiner Mutter kamen meine Kinder definitiv zu kurz. Wir mussten hin- und herhetzen, und ich hatte auch immer schon die Trauer um Mami im Hinterkopf. Wir wussten ja alle, dass sie bald von uns gehen würde.
Mein jüngeres Kind hat meine Anspannung und Traurigkeit weniger gespürt. Mein älteres Kind jedoch ist sehr sensibel auf Gefühle und reagiert stark darauf. Es wurde wütend und forderte selbstverständlich mehr Aufmerksamkeit ein, die ich ihm wiederum nicht geben konnte, da ich nicht mehr ich selbst war.
So wurde unsere Beziehung immer instabiler, wir waren beide sehr frustriert.
Ich wollte vor den Kindern immer stark sein, hab mir äusserlich nichts anmerken lassen, nicht geweint, keine Hilfe geholt und bin innerlich zerbrochen. Ich habe mir keine Auszeit gegönnt, keine Zeit für die Trauer genommen. Wie sollte ich auch; man kann ja nicht einfach freinehmen als Mutter, habe ich mir gedacht. Dies hatte starke Auswirkungen auf meine Psyche.
Ich habe nur noch äusserlich gelacht, habe mich gefühlt wie eine leere Hülle.
Aber ich war eine gute Schauspielerin. Erst das Einschreiten einer guten Freundin, welche mich per Zufall in einer schlimmen Verfassung gesehen hat, hat mir die Augen geöffnet. Sie hat mich überzeugt, dass externe Hilfe nötig ist und es so nicht weitergehen kann. Wäre sie damals nicht gewesen, ich weiss nicht, was mit mir noch alles passiert wäre.
Nach dem Tod meiner Mutter habe ich erst mal den Halt verloren.
Obwohl wir wussten, dass der Tag kommen wird, wir gehofft haben, dass sie nicht allzu lange leiden muss, hat mir der Tod den Boden unter den Füssen weggerissen. Aber auch da, stark sein für die Familie, Lachen, obwohl es mir zum Heulen zumute war, keine Schwäche zeigen.
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Doch mein älteres Kind konnte ich nicht täuschen. Es hat sehr wohl gemerkt, dass die Umarmungen von mir nicht mehr echt waren, mein Lachen eine Lüge und mein Körper zwar anwesend, diese Hülle aber völlig leer war. Meine Seele war traurig und nicht bei mir. Die Spannungen zwischen meinem älteren Kind und mir wurden immer schlimmer und oftmals hatte ich böse Gedanken.
Ich wünschte mir, ich hätte keine Kinder, dann hätte ich Zeit für mich und meine Trauer.
Ich habe meinen Kindern die Schuld gegeben, dass alles so schwer war und es mir einfach nicht besser ging. Heute weiss ich, dass ich durch die Unterdrückung der Trauer dem Gefühl nur noch grössere Macht über mich gegeben habe.
Mein älteres Kind hat in dieser Zeit leider gelernt: Auf meine Mutter kann ich mich nicht verlassen; wenn ich also etwas brauche, muss ich mich selbst darum kümmern.
Unsere Beziehung ist nach wie vor schwierig, es ist vieles kaputt gegangen in dieser Zeit.
Ich arbeite fest daran, in seinen Augen wieder die Mutter zu sein, bei welcher sich die Umarmungen echt anfühlen. Ich arbeite an meiner Wut über mich und daran, das Gefühl loszuwerden, dass meine Kinder mir die Zeit zum Trauern weggenommen haben. Denn logisch weiss ich, dass daran nicht meine Kinder Schuld waren – und das macht mir nur noch mehr Schuldgefühle. Ich arbeite daran.
So wie es uns damals ging, geht es täglich Tausenden von betreuenden Angehörigen.
Egal ob sie ihre todkranken Eltern umsorgen, ihre Partnerin oder ihren Partner oder die eigenen Kinder pflegen. Sie arbeiten still, opfern sich auf und vergessen sich dabei völlig.
Viele betreuende Angehörige sind Frauen und leisten diese Arbeit unentgeltlich. Von Söhnen wird oft nicht erwartet, dass sie sich um die schwer kranken Eltern kümmern. In unserem Fall war es zum Glück nicht so, meine Brüder haben sich am Wochenende um meine Mutter gekümmert und waren viel anwesend, haben getan, was sie konnten.
Mitten im Sturm hat man nicht auch noch die Kraft, um Hilfe zu bitten.
Darum seid achtsam in eurem Umfeld. Gebt eure Hilfe aktiv und bietet sie nicht nur an. Sagt nicht «Melde dich, wenn ich helfen kann», sondern sagt «Morgen hole ich deine Kinder um 14 Uhr ab, dann hast du Zeit zu trauern» oder «Komm doch zum Mittagessen und bring deine Wäsche mit». Um Hilfe zu bitten, braucht so viel Kraft und Mut. Mir hätte es wohl geholfen, wenn mir aktiv Hilfe «angedreht» worden wäre; diese hätte ich besser annehmen können.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 21. Februar 2024 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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