«Ich möchte, dass meine Kinder endlich ausziehen!»
Die Kinder könnten auf eigenen Beinen stehen, tun es aber nicht. Unsere Autorin wünscht sich Abstand und fragt: Darf ich das?
Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir vorwerfe, eine Rabenmutter zu sein. Ich habe vor Jahren gar ein ganzes Buch zum Thema geschrieben. Aber diesmal geht es nicht darum, dass ich keine Breie selbst kochen mag oder lieber zu Hause lese, als auf den Spielplatz zu gehen. Ich habe den Wunsch geäussert, dass meine knapp volljährigen Kinder endlich ausziehen.
Nein, das ist nicht nur einer dieser Sprüche, den wir Mütter gerne äussern, wenn uns alles zu viel wird. Ich wünsche mir ehrlich, dass sie endlich ihr eigenes Leben leben.
Ich wünsche mir, weniger Teil ihres Lebens zu sein. Denn das bin ich schon ihr ganzes Leben lang!
Sie teilten mit mir ihren Liebeskummer, ihre Prüfungen, ihre Sorgen im Beruf, wegen des Geldes, und was da alles täglich auf eine Mutter einprasselt (auf einen Vater sicher auch, aber in meinem Fall weniger).
Ich brauche Abstand von meinen Kindern.
Ist das so verwerflich?
Zum ersten Mal Mutter wurde ich vor 20 Jahren, seither füttere ich, räume hinterher, bekoche, tröste, höre zu.
Ich half ihnen bei Mobbing, Hausaufgaben, Stellensuche, neuen Freund:innen, Auseinandersetzungen, Beziehungen. Wenn ich nicht aktiv am Unterstützen bin, denke ich darüber nach, schlaflose Nächte sind keine Seltenheit.
Mental Load lässt grüssen. Jeden Tag. Jeden Tag seit 20 Jahren!
Es gibt nichts, das ich jemals JEDEN TAG habe tun müssen – abgesehen von grundsätzlichen Bedürfnissen wie essen, trinken, schlafen. In allen anderen Lebensbereichen gibt es regelmässige Pausen, Feierabend, Wochenende oder gar ganze freie Wochen.
Nur bei diesem Mutterjob nicht.
Mutter bin ich permanent.
Und solange die Kinder klein waren, war es logisch, dass sie mich täglich brauchten.
Aber jetzt?
Warum brauchen mich meine Kinder immer noch so sehr?
Obwohl ich alles versucht habe, sie zur Selbständigkeit zu erziehen?
Ja, sie waschen ihre Wäsche selbst, räumen ihre Zimmer auf und helfen im Haushalt (wenn ich sie mindestens dreimal darauf aufmerksam gemacht habe).
Aber kochen? Einkaufen? Bewerbungen oder Prüfungen schreiben? Da höre ich früher oder später immer dieses oft so verhasste «Mami?».
Und bevor ihr es sagt: Ja, wahrscheinlich bin ich selbst schuld. Das liegt aber meiner Einschätzung nach vor allem an meiner physischen Nähe. Ich bilde mir ein, dass das anders wäre, wenn sie mich nicht jeden Tag sehen und hören würden.
Deshalb sollen meine Kinder ausziehen.
Ich brauche eine Pause. Nicht das Freundinnen-Wochenende, ohne dass ich die letzten Jahre sowieso schon verrückt geworden wäre. Auch nicht die Auszeit mit meinem Mann, bei der wir früher oder später sowieso über unsere Kinder reden.
Ich brauche eine längere Pause, eine Mutterpause, Bemutterungspause, einen Kit-Kat-Break von mindestens einem Jahr.
Natürlich könnte auch ich ausziehen.
Aber erstens will ich meinen Mann ja nicht verlassen, ohne den ich die letzten 20 Jahre sowieso nicht überstanden hätte. Und natürlich will ich auch die Kinder nicht verlassen, schliesslich liebe ich sie.
Ich möchte, dass meine Kinder mich verlassen. Wie es sich gehört für junge Menschen. Ich möchte, dass sie ihre Unabhängigkeit endlich in die Hand nehmen und ihr eigenes Leben leben. Selbstverantwortlich, auf eigenen Beinen, mit eigenem Portemonnaie.
Ich möchte, dass sie mich nicht mehr brauchen. Nicht mehr so, wie in den letzten Jahren.
Wann sollten denn Kinder ausziehen?
Beim Versuch, diese Situation mit derjenigen aus meiner eigenen Jugend zu vergleichen, scheitere ich. Ich war etwas über 20, als ich ausgezogen bin. Gleich, nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte. Ich wäre liebend gerne früher ausgezogen. Aber als Studentin fehlte mir das Geld, das Studium habe ich mir dank Job selbst finanziert.
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Mein Auszug war für meine Eltern eine Tragödie in vier Akten: Tränen, Wut, Unverständnis und Schuldgefühle. Sie waren untröstlich und verstanden nicht, warum ich sie verliess. Ich erklärte ihnen damals, dass ich nicht (nur) sie verliess, sondern mit meinem Leben starten wollte.
Natürlich sollen mich meine Kinder nicht vollständig verlassen, aber Besuche am Wochenende und Telefonate würden mir im Moment reichen.
Ich hoffe inständig, dass sie bald eigenständige Individuen werden, die ihre Probleme selbst in die Hand nehmen. Dass ihre Schuhe in ihrem eigenen Korridor liegen, sie sich mit WG-Kolleg:innen um die Benutzung des Badezimmers streiten und ihren eigenen Kühlschrank leer essen.
Mir ist bewusst, dass ich in diesem Text das Wort «ich» sehr oft benutzt habe.
Ja, es fühlt sich ein wenig so an, als wäre langsam ich dran.
Die Zeit ist reif.
Macht mich das zur Rabenmutter? Oder geht es anderen auch so?
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Veröffentlicht am 15. August 2024
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