New Work oder Expat für ein Jahr
Meine Familie und ich werden Expats für ein Jahr. Das bedeutet auch: Arbeiten von anderswo. Warum wir es tun und auch, was dagegen spricht.
Meine Familie und ich gehen für ein Jahr ins Ausland.
Nach Hawai’i, um genauer zu sein. Ich werde dort arbeiten (no worries, bei uns hier auf Any Working Mom geht alles weiter wie bisher, nur, dass der Instagram-Account womöglich etwas schwer erträglich wird für Euch im Winter), die zwei grossen Kinder gehen in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule, und die Kleinste mag eh keine Kleider – von dem her: es passt alles.
Viele fragen: Warum tut ihr das?
Gegenfrage: Warum nicht?
Das ausschlaggebende Argument für diesen Entscheid war der Faktor, dass es keines gibt, das wirklich dagegen spricht. Und noch viel wichtiger: Wir nicht wissen, ob diese günstige Konstellation jemals so wieder eintreten wird. Any Working Dad im Sabbatical, die zwei grösseren Kinder stehen so oder so vor einem Schulwechsel, der Kleinsten ist es egal, wo sie Sandburgen baut und ganz, ganz wichtig: Wir sind alle gesund. Wir, und auch die Grosseltern.
Im Bewusstsein, dass sich vor allem diese Situation sofort ändern kann und dass sich das Leben nur sehr bedingt planen lässt, haben wir im Februar die Entscheidung getroffen: wir gehen. Denn wir wissen nie, was morgen ist.
Höher, weiter, schneller
Als wir im letzten Jahr von unserer Weltreise mit Familie zurückgekehrt sind, fand ich den umgekehrten Kulturschock schwierig zu verarbeiten. Ich «passte» irgendwie nicht mehr. Nicht, weil ich die Schweiz nicht mag – im Gegenteil. Ich finde die Schweiz wunderschön, wenn auch alles andere als perfekt, und hier leben unsere Liebsten, hier sind wir zu Hause. Hier will ich nach wie vor leben.
Und trotzdem: Hat der Abstand zur Heimat auch etwas mit uns gemacht, mit mir vor allem. Die Leistungsgesellschaft, in der wir leben, das hohe Tempo, das wir uns selber aufbürden, der überhöhten Wert, den die Erwerbsarbeit hier gegenüber allem anderen hat – das alles bringt nicht meine beste Seite in mir hervor. Im Gegenteil:
Ich springe darauf an, werde schneller, will noch mehr und höher und weiter und habe mehr Ideen, als Kraft, sie umzusetzen.
Dabei vergesse ich fast, was mir wirklich wichtig ist.
Die Zeit auf der Reise hat mich der Natur näher gebracht, sie hat mir gezeigt, wie wertvoll die Zeit mit meiner Familie und mit Freunden ist, sie hat mich achtsamer werden lassen. Mein Motto für die Triage von Anfragen oder Commitments, das ich frei von Derek Sivers übernommen habe – «if it’s not a HELL, YEAH! it’s a No» – konnte ich eine zeitlang mühelos umsetzen.
Bis ich wieder anfing, zu rennen. Zu wenig zu schlafen. Zu wenig von allem.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Warum ans andere Ende der Welt, warum Hawai’i?
Mit der Distanz hoffe ich also auch wieder auf mehr Nähe zu mir selber. Aber dafür gleich in die entfernteste Ecke der Erde? Hallo, Flugscham?!
Natürlich sind Palmen und Strand ein Mitgrund. Das Inselleben hilft, runterzufahren, sich auf die wichtigen Dinge zu besinnen aber ganz ehrlich, das ginge auch im Kloster Einsiedeln.
Was uns aber immer wieder ans andere Ende der Welt zurückruft, sind keine Touristenattraktionen, sondern ein Gefühl, ein «Spirit». Was in Reiseführern oft als Übersetzung von «Hallo» angegeben wird, ist «Aloha» und bedeutet aber so viel mehr.
Da geht es um ein Gemeinschaftsgefühl, um Nächstenliebe, um gegenseitiges Helfen, um eine tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit zur Natur. Und nein, ich werde nicht zum Guru und nein, die Inselkette ist auch nicht besiedelt von Gutmenschen – aber wir möchten «Aloha» ein Jahr lang leben und eben: schauen, was es mit uns macht.
Ein Jahr als Expat – warum Leben und nicht Reisen?
Bewusst haben wir uns dafür entschieden, an einem Ort zu leben, und ihn nicht nur als Touristen zu besuchen. Wir werden «unsere» Insel – Kauai – anders entdecken als auf unseren letzten Besuchen, ich gehe davon aus, dass wir auch stark an der Oberfläche kratzen und auch mit den weniger schönen Seiten konfrontiert werden. Aber genau das finden wir spannend, das Eintauchen in eine andere Kultur, einen anderen Alltag.
Denn: Alltag wird es geben.
New Work und warum es mich hier nicht zwingend braucht
Muss Any Working Mom jetzt ohne die Scheffin weitermachen? Nein. Denn ich bin nach wie vor präsent, nur halt nicht physisch. Unser Unternehmen praktiziert seit je her «New Work», ein Begriff für unsere Arbeitsweise, der mir leider erst vor kurzem aktiv begegnet ist, den ich uns aber seither gross auf die Fahne schreibe.
Erfunden wurde er vor 40 Jahren von Frithjof Bergman, zur Zeit erlebt er sein grosses Revival: Arbeit verändert sich. Sie wird agil, ortsungebunden und sie hat Purpose, einen Sinn – genau das ist auch unser grösster Motivator bei AWM wenn wir versuchen, den «Mythos Vereinbarkeit» zu entzaubern und Eltern den Druck der Perfektion zu nehmen.
Auch sonst finden wir uns in den wichtigsten Schlagworten von New Work wieder:
Agility: Als unabhängiges Medium können wir tun und lassen, was wir wollen – und auch wann wir wollen (wenn das mal kein HELL YEAH! ist!)
Coopetition: Wir glauben nicht an einen Kuchen, von dem alle ein Stück kriegen. Lieber arbeiten wir mit anderen zusammen. Kuchen für Alle!
Holacracy: Wir haben keine klassische Hierarchie, sondern fällen wichtige Entscheidungen gemeinsam. Jede von uns hat in ihrem Bereich die Entscheidungshoheit, die Inputs von unserem erweiterten Team sind uns sehr wichtig.
Diversity: Mit Gastbeiträgen aus allen Ecken und unseren Videos über und mit diversen Menschen versuchen wir, aus unserer eigenen Bubble auszubrechen. Denn wir sind uns sehr bewusst, dass die nicht die einzige Wahrheit kennt.
Work-Life-Blending: 9 to 5 gibt es bei uns schon aus Vereinbarkeitsgründen nicht. Es gilt schon eher 21 – 24, denn abends ist bei uns im virtuellen Büro (Slack, Trello) oft am meisten los.
Und jetzt hockt halt noch eine auf der Insel. So what? Das wird der ultimative Test, ob New Work wirklich funktioniert.
Wohnung, Steuern, Stutz: woran muss man denken?
Und jetzt doch noch – wie funktioniert das in der Praxis? Die letzten paar Monate waren einmal mehr eine grosse Lernkurve:
Steuern
Wer sich für ein Jahr verabschiedet, muss natürlich an vieles Denken und mit einerPackliste ist es leider nicht getan. Von der Gemeinde abmelden mussten wir uns nicht, da wir weiterhin hier Steuern zahlen werden. Die Steuern – hach – wer länger in die USA reist, sollte sich hierzu gut informieren. Bei der Bank gelten wir ab sofort als «US-Persons» und müssen uns an eine spezielle US-Desk wenden, auch müssen wir in den USA bei der IRS belegen können, dass wir Schweizer Steuerzahler sind. Wer sich also ein ähnliches Unterfangen überlegt, sollte sich hier bitte frühzeitig bei Experten informieren.
Schule
Die Schule mussten wir lediglich über unsere Absenz informieren, und uns dann in einem Jahr wieder anmelden. Das gilt übrigens im Kanton ZH (Achtung, anderswo gelten andere Regeln – Föderalismus sei Dank!) ab drei Monaten. Vorher muss ein Gesuch gestellt werden. In den USA werden unsere Kinder eine alternative Privatschule besuchen. Der öffentliche Schulbesuch ist dort strikte geregelt, als Ausländer braucht man in der Regel ein spezielles Visum und Bewilligungen für einen Austausch, vor allem für die Primarschule.
Wohnung
Unsere Wohnung werden wir zeitweise an Bekannte untervermieten.
Stutz
Die Sache mit dem Geld. Gerade im ländlichen USA (ja, auch eine Insel ist ein Kaff) läuft das meiste noch via Scheckbuch. Dafür braucht man aber ein US-Bankkonto und dafür wiederum in 99% Prozent der Fälle eine Social Security Number (SSN). Die können wir zwar mit unserem Visum beantragen, aber erst nach einer Weile. Und so werden wir einerseits Cash mitnehmen, haben bei unserer Bank eine USD- Kreditkarte beantragt und US Dollar gekauft, um immerhin die Wechselkosten zu vermeiden UND haben uns eine unabhängige Revolut-Kreditkarte besorgt (kann ich auch für Reisen sehr stark empfehlen!).
Die Kosten für ein solches Unterfangen sind natürlich individuell. Dass die Möglichkeit, diese Chance zu ergreifen, ein Privileg ist, will ich nicht bestreiten. Gewisse Fixkosten zu Hause bleiben bestehen, aber die Lebenskosten werden durch das Verbleiben an einem Ort natürlich nicht annähernd so hoch wie auf einer Reise als Touristen, sondern – in unserem konkreten Fall – maximal gleich hoch wie zu Hause. Weitere Berichte von Expats findet ihr beispielsweise bei uns im «Mal ehrlich» – Video mit Linda und Björn Hering, oder auf den Blogs Becomingnashvillian.com oder Kleinstadt.ch in der Rubrik «Unser Leben in…».
Visum
Wer länger als 90 Tage als Tourist in die USA reist, braucht ein Visum. Da wir ein Jahr bleiben möchten, und aber keinen US-Arbeitgeber haben, der für uns bürgt, macht für uns das I-Journalistenvisum am meisten Sinn. Auch hier lohnt es sich, sich möglichst früh und genau zu informieren – der Visumsantrag kostet pro Person 160 CHF und man muss persönlich in Bern vorsprechen. Kleine Kinder müssen zum Termin nicht mit, Laptops dürfen nicht mit und können auch nirgends deponiert werden (drum: alles ins Schliessfach am Bahnhof vor dem Botschaftsbesuch!) – das nur so aus einschlägiger Erfahrung.
Packen
Da wir in ein möbliertes Haus einziehen werden, müssen wir nichts verschiffen, sondern reisen mit Koffern. Die Kinder lassen wir seit einem Learning aus unserer letzten Reise (viele, VIELE Tränen wegen eines zurückgelassenen Spielzeughundes!) selber packen. Und ansonsten werde ich wohl meine eigenen Listen und Tipps zu Rate ziehen.
Und Tschüss!
Der Abschied wird nicht einfach – und trotzdem: Ein Jahr ist eine sehr kurze Zeit. Die Welt ist nicht mehr ganz so gross, dank elektronischer Kommunikation. Mit unseren Kindern haben wir die Idee von Anfang an besprochen, und sie waren einverstanden, sogar begeistert. Dem Fakt, dass sie ihre Freunde eine Weile nicht sehen werden, begegnet zumindest der Sohn recht pragmatisch:
Dann lerne ich halt neue Leute kennen!
Genau das werden auch wir tun. Und selbstverständlich Euch auch daran teilhaben lassen.
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 28. Juli 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
1x pro Woche persönlich und kompakt im mal ehrlich Mail.