Die Schweiz hat mich zur Feministin gemacht
Sexismus? Diskriminierung? Kommt in der Schweiz nicht so häufig vor, dachte Alexandra Dufresne. Dann zog sie mit ihrer Familie hierher. Ein aufwühlender, weil schonungslos ehrlicher Text.
In den ersten 43 Jahren meines Lebens war Feminismus kein Thema für mich. Ich war zwar dankbar für alles, was die Frauenbewegung für uns getan hatte, aber in meinem Alltag war mir Gerechtigkeit für Kinder und Migranten wichtiger als der Kampf für Frauenrechte.
Klar, so etwas kann man nur aus einer privilegierten Position heraus sagen.
Diese Einstellung änderte sich 2016.
Als ich mit meiner Familie in die Schweiz zog.
Von Anfang an erzählten mir Freundinnen in der Schweiz, wie sie wegen ihres Geschlechts diskriminiert wurden. Zum Beispiel, wenn sie nach ihrer Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub bei der Arbeit gemobbt oder zurückgestuft wurden.
Und dann erfuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben Sexismus am eigenen Leib. Nur ein kleines bisschen, ganz subtil und überhaupt nichts Besonderes. Aber für mich, die daran gewöhnt war, dass nur die Leistung zählt, war es eine schmerzvolle Erfahrung. Nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hatte, dachte ich:
Ach so, DARÜBER reden die Leute also die ganze Zeit.
Plötzlich leuchteten die Geschichten ein, dich ich von Frauen aus beiden Ländern gehört hatte. Ebenso verstand ich plötzlich meine lehrbuchmässige Reaktion mit Selbstbeschuldigung, Verleugnung, Überraschung, Scham, Empörung und noch mehr Scham. Schmerzlich wurde mir bewusst, wie privilegiert ich gewesen war, dass ich so lange nichts Derartiges erlebt hatte.
Moment mal – die Schweiz?
Das Image der Schweiz ist das eines modernen, aufgeschlossenen Landes: exzellenter öffentlicher Verkehr, wissenschaftliche Forschung von Weltklasse, hochwertige Nachrichtenmedien, aussergewöhnlich hoher Wohlstand und ein hoher Beschäftigungsgrad der mehrsprachigen Bevölkerung.
Wie viele andere Neuankömmlinge war ich vom Ausmass des hier herrschenden Sexismus völlig überrascht.
Einige meiner Schweizer Freundinnen fühlen sich durch solche Aussagen von mir in die Defensive gedrängt. Deshalb lasst es mich erklären: In einigen Untersuchungen steht die Schweiz in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter besser da, als die USA, und in anderen hat die USA die Nase vorn. Im Bundesrat, der siebenköpfigen Regierung, gibt es heute drei (kinderlose) Frauen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Schweizerinnen erst seit 1971 das Wahlrecht haben, ist das eine gewaltige Leistung.
Es gibt hier viele starke Feministinnen. Sie führen #MeToo-Kampagnen an, streiken für Lohngleichheit und organisieren sich gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Die meisten Schweizer Männer, die ich kenne, darunter viele sehr hilfsbereite männliche Kollegen, sind für die Gleichstellung der Geschlechter.
Die Frage, ob es in den USA oder in der Schweiz ungerechter zugeht, kann weder beantwortet werden, noch interessiert sie mich.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Es kommt immer darauf an, was gemessen wird und für wen.
Es gibt in der Schweiz einen unbestreitbaren Anachronismus, und zwar die strikte Rollenteilung zwischen Vätern und Müttern. Viele öffentliche Schulen schliessen mittags, damit die Kinder zu Hause Mittagessen können; Kinder im Grundschulalter haben einen oder zwei Nachmittage schulfrei. Die freien Nachmittage variieren zudem je nach Klasse, so dass in unserem ersten Jahr hier an vier Nachmittagen immer mindestens eines meiner drei Kinder nicht in der Schule war.
Dementsprechend arbeitet die überwiegende Mehrheit der Mütter Teilzeit. Im Jahr 2015 waren nur etwa 14 Prozent der Mütter mit Partner und mit Kindern unter sechs Jahren Vollzeit erwerbstätig (d.h. 90-100%). Auch mit steigendem Alter der Kinder kehren Mütter mit Partnern nicht wieder zu einer Vollzeitbeschäftigung zurück; in der Tat sind es weniger als 20 Prozent aller Mütter von Jugendlichen von 15 bis 24 Jahren.
Familie und Karriere?
Im Gegensatz zu den USA, wo man trotz Teilzeitarbeit noch Chancen auf eine Führungsposition haben kann, gehen Arbeitgeber in der Schweiz fast automatisch davon aus, dass Frauen, die weniger als 100 Prozent arbeiten, keine Führungsaufgaben übernehmen wollen, die zusätzliche Verantwortung, Reisetätigkeit oder Stress erfordern. Der Glaube, dass die Mutterschaft die oberste Priorität einer Frau ist, ist tief verwurzelt.
Oft verlieren Frauen, die aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkehren, sogar Führungsaufgaben, die sie zuvor lange ausgeübt hatten – und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt zurückschrauben wollen.
Wer als Mutter beruflichen Ehrgeiz an den Tag legt, ist mit zahlreichen expliziten und unbewussten Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert. Man gilt schnell als arrogant, verbissen oder anormal – alles Eigenschaften, die in der Schweizer Kultur nicht gern gesehen werden.
Mütter werden ständig gefragt, warum sie überhaupt arbeiten gehen.
Viele Männer verdienen genug, um ihre Familie zu versorgen.
Ein Nachbar fragte neulich meinen Mann, warum ich denn mit drei Kindern überhaupt arbeiten gehen wolle. Als ich mich für einen Deutsch-Intensivkurs anmeldete, fragte mich die Sekretärin, ob ich neben den drei Kindern überhaupt zum Lernen käme. Nach einem Vortrag an der Schule meines Sohnes wünschte der Direktor meinem Mann, der an der Universität unterrichtet, einen schönen Tag bei der Arbeit und mir, die ebenfalls an der Universität unterrichtet, einen schönen Tag mit den Kindern.
Ich sollte vielleicht erwähnen, dass alle drei es wirklich freundlich meinten.
Es herrscht die Vorstellung, dass eine Mutter, die in einem bedeutsamen Job gute Arbeit leistet, automatisch ihre Kinder vernachlässigt. Wer einer Mutter also bei der Arbeit mehr Verantwortung überträgt, schadet demnach quasi ihrem Familienleben.
Wo sind die Mütter?
Viele Schweizer Frauen – aber keine Schweizer Männer – müssen auch heute noch zwischen Kindern oder einer hochkarätigen Karriere „wählen“. Als beispielsweise vor Kurzem zwei Frauen für den Bundesrat kandidierten (so dass heute die Frauen 3 von 7 Sitze innehaben), haben alle in einem Presseinterview von sich aus erklärt, dass sie wahrscheinlich als Mütter nicht so weit gekommen wären.
Nur sehr wenige Professoren an Schweizer Top-Universitäten und nur sehr wenige CEOs oder Führungskräfte in der Privatwirtschaft sind Mütter, und überhaupt sind in der Schweiz insgesamt nur 14-16 Prozent der oberen Führungskräfte und Verwaltungsräte weiblich. Im Jahr 2016 waren nur 6 Prozent der leitenden Verwaltungsratsmitglieder von Schweizer Unternehmen Frauen. Leider gibt es keine Zahlen darüber, wie viele dieser Frauen Mütter sind. Im Gegensatz dazu sind viele Männer in Führungspositionen in der Schweiz Väter.
Lieber den Mund halten? Really?!
Viele Schweizerinnen haben mir hinter vorgehaltener Hand bestätigt, dass es ihnen schon ähnlich ergangen ist. Einige baten mich, weiter öffentlich darüber zu sprechen, weil ich als Aussenseiterin Dinge sagen kann, die sie nicht können. Andere meinten es sicher nur gut, als sie mir sagten: „Ja, das kenne ich. Aber manchmal ist es besser, den Mund zu halten. Du kannst es dir nicht leisten, negativ aufzufallen.»
Manche reden das Problem klein. Eine erfolgreiche, kinderlose Frau erklärte mir, dass die Schweiz „nicht sexistisch, sondern nur traditionell“ sei – als ob die Diskriminierung von Frauen mit Jodeln oder Käseherstellung verglichen werden könnte.
Für manche ist die Tatsache, dass es hier viele erfolgreiche (kinderlose) Frauen gibt, der Beweis dafür, dass die Schweiz geschlechtsbezogene Diskriminierung überwunden habe, und sie merken nicht, wie widersprüchlich das tönt. (Und natürlich gibt es auch in der Schweiz einige sehr erfolgreiche Frauen mit Kindernmit Kindern; die Frage ist aber, ob sie die Regel sind oder die Ausnahme, die die Regel bestätigt).
Sie meinen es doch nicht böse!
Manche behaupten, dass ein Verhalten nicht sexistisch sein kann, wenn es nicht so gemeint ist oder wenn noch andere Faktoren eine Rolle spielen. Natürlich sind noch andere Faktoren relevant und natürlich handeln die Leute normalerweise nicht absichtlich sexistisch! Die relevante Frage ist aber nicht: „Ist vorsätzlicher Sexismus der einzige Grund, warum das passiert?“ sondern vielmehr: „Würde das einem Mann auch passieren?“
Einige dieser Gespräche haben sich auch in eine unerwünschte Richtung entwickelt. Leute, die ich eigentlich respektiere, scheinen auf einem völlig anderen Planeten zu leben. Während in meiner Welt Geschlechterdiskriminierung teuer und ineffizient ist, man zum Wohle von allen diese Themen ansprechen und überwinden muss, muss man in deren Welt Konflikte vermeiden und den Status Quo um jeden Preis aufrechterhalten.
Und überhaupt bin ich eine schwierige Person.
Das Problem, so gab man mir zu verstehen, sei nicht etwa der Sexismus, sondern wenn jemand laut darüber spricht.
Wie weiter?
An schlechten Tagen denke ich darüber nach, den „Halt einfach den Mund“-Rat anzunehmen. Wenn ich zwischen gefürchtet oder gemocht werden wählen müsste, würde ich eigentlich lieber gemocht werden. Als Neuankömmling in einem fremden Land – und erst noch einem, das aus historischen Gründen grossen Wert auf Höflichkeit, Vorhersehbarkeit und Konfliktvermeidung legt – ist dieser Wunsch zu gefallen, nicht immer „die vorlaute Amerikanerin“ zu sein, manchmal fast überwältigend.
Dann jedoch kommen mir die Generationen von Frauen in den Sinn, denen viel Schlimmeres drohte, als nur „nicht liebenswert“ zu sein. Manche meiner Kundinnen mussten Herausforderungen überwinden, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Und dann denke ich, dass es an der Zeit ist, erwachsen zu werden.
So lerne ich nun, mich in meiner neuen Rolle als „komplizierte Frau“ zurechtzufinden. Ich organisiere, demonstriere, sammle Geld, arbeite mit NGOs, forsche, lehre, schreibe, rede mit Reporter:innen und ermutige andere Frauen, sich laut zu äussern. Manchmal muss ich mit Menschen, die ich mag, schwierige Gespräche führen und manchmal mache ich mich dabei unbeliebt.
Aber immer, wenn mir Leute erzählen, wie sie diskriminiert wurden, dann höre ich zu.
Allen, die sich seit Langem mit diesen Themen beschäftigen, möchte ich sagen:
Es tut mir leid, dass ich erst so spät zu euch gestossen bin. Danke für eure Geduld. Nun bin ich da – wie kann ich helfen?
Autorin
Alexandra Dufresne ist eine in den USA ausgebildete Rechtsanwältin für Kinder und Flüchtlinge. Sie lehrt Rechtswissenschaften an mehreren Schweizer Hochschulen und arbeitet mit Menschenrechts-NGOs in der Schweiz, Europa, Afrika und den USA zusammen. Sie hat drei Kinder und ist eine der Mitgründerinnen von Komplizierte Frauen, einer Gruppe von Menschen aller Geschlechter, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz einsetzen.
Dieser Text erschien im Original auf Englisch zuerst auf www.groknation.com – dem Blog von Big-Bang-Theory Schauspielerin Mayim Bialik
Übersetzung: Katharina Bleuer von Buchstabensalat.ch
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 10. Juli 2019 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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