Nach dem Baby kommt die Rechnung
Frauen, die an den längerfristigen Folgen einer Geburt leiden, zahlen oft hunderte von Franken für Eingriffe oder Therapien selbst. Das muss sich ändern.
Aktualisiert am 5. September 2025

Als Marina* den Brief ihrer Krankenkasse liest, kann sie es kaum glauben. 1’709 Franken soll sie für einen Eingriff bezahlen, der direkt mit der Geburt ihres Kindes zusammenhängt.
Bei der Nachgeburtskontrolle hatte ihre Gynäkologin Plazentareste in der Gebärmutter gefunden und erklärt, dass sie entfernt werden müssen. Der chirurgische Eingriff wurde auf fünf Wochen nach der Kontrolle angesetzt und verlief gut. «Gebärmutterwandspiegelung und selektive Ausschabung» steht im Bericht, zusammen mit den effektiven Kosten, die Marina alle selbst übernehmen soll, weil sie eine hohe Franchise hat.
Marina ist nicht einverstanden und benachrichtigt ihre Gynäkologin, die unverzüglich an Marinas Krankenkasse schreibt: Da der Eingriff in direktem Zusammenhang mit der Schwangerschaft und Geburt stehe, erachte sie es als gerechtfertigt, den Eingriff über die Franchise zu verrechnen.
Zwei Wochen später kommt das Schreiben der Krankenkasse: «Wir bezahlen die Behandlungskosten nach gültigem Tarif aus der Grundversicherung – die Kostenbeteiligung übernimmt Frau *.» Sprich: Marina muss die 1’709 Franken bezahlen.
Wieso muss eine Frau gewisse Folgen einer Geburt selbst bezahlen?
Rechtlich gesehen ist das legitim. Laut Schweizer Gesetz werden Krankheitsbehandlungen ab der 13. Schwangerschaftswoche bis zum 56. Tag nach der Geburt übernommen, ohne dass die Frau sich beteiligen muss. Sobald die Frist verstrichen ist, gibt es für die Folgen einer Geburt keine volle Kostenübernahme mehr. (Anmerkunge der Redaktion: Gewisse gesetzliche Regelungen werden momentan, Stand September 2025, gerade überarbeitet, siehe dazu die Infobox am Ende dieses Textes.)
Morena Hostettler Socha von der Ombudsstelle der Krankenkassen bestätigt auf Anfrage: «Wenn eine Behandlung, auch im Zusammenhang mit der Mutterschaft, mehr als 56 Tage nach der Mutterschaft stattfindet, wird eine Kostenbeteiligung erhoben.» Die Stelle erhalte jährlich etwa 30 Anfragen zu dieser Problematik.
Bricht sich eine Frau während der Schwangerschaft (ab der 13. Woche) also das Bein, zahlt die Krankenkasse – ohne Selbstbehalt. Hat sie eine frühe Fehlgeburt oder Komplikationen nach der Geburt, etwa weil Fachpersonen einen Plazentarest übersehen haben, zahlt die Frau. Je nach Franchise bis zu 2’500 Franken.
Für Nationalrätin Irène Kälin ist das diskriminierend: «Die acht Wochen sind zu eng definiert.» Sie findet:
Es darf nicht sein, dass Mütter plötzlich eine Rechnung für direkt mit der Geburt zusammenhängende Eingriffe selbst zahlen müssen, nur weil sie das Pech hatten, dass ihr Operationstermin oder eine Diagnose nicht innerhalb dieser Frist lag.
Irène Kälin
Kälin reichte bereits 2019 eine Motion zur Kostenbefreiung von Schwangeren während der ganzen Schwangerschaft ein, die im November 2020 vom Ständerat angenommen wurde (siehe dazu die Infobox am Ende dieses Textes.). Die Kostenbefreiung sorgt unter anderem dafür, dass sich Frauen nach einer frühen Fehlgeburt neben der Trauerarbeit nicht auch noch mit Kosten für eine Ausschabung etc. belastet sehen.

Ein wichtiges Signal, dass diese Motion angenommen wurde. Aber…
Die Umsetzung der Motion ist nach drei Jahren immer noch nicht in Kraft, was mit einer langwierigen Revision des Krankenversicherungsgesetzes begründet wird. Sie verliere langsam die Geduld, sagt Kälin. «Solange die angenommene Motion nicht umgesetzt wird, bleiben die bisherigen Diskriminierungen bestehen und das ist je länger es dauert, je unhaltbarer.» Denn bis dahin müssen Schwangere bei Komplikationen in den ersten 13 Wochen nach wie vor zahlen.
Jetzt will sich Kälin auch für Mütter nach der Geburt einsetzen. Kommende Woche wird sie eine Motion für eine Verlängerung der Kostenbefreiung auf 12 Monate nach der Geburt für alle Leistungen einreichen, die in direktem Zusammenhang mit der Geburt stehen. «Alles andere ist viel zu kurz und diskriminierend.»
Das sieht auch Marina so. «Während der Schwangerschaft wirst du verhätschelt und versorgt, wo es nur geht. Aber sobald du geboren hast, musst du plötzlich selbst schauen», sagt sie.
Ich muss zahlen, weil ein behandelnder Arzt Plazentareste übersehen hat? Das ist doch nicht fair.
Marina*
Marina beglich damals ihre Rechnung, fragt sich aber, wie das Frauen machen, die sich diesen Betrag nicht einfach so leisten können.
Dasselbe fragt sich auch Fabienne Riedo. Lange Zeit nach der Geburt hatte sie das Gefühl, einen Fremdkörper zwischen den Beinen zu haben. Wegen der Pandemie musste sie einen Online-Rückbildungskurs buchen, der trotz kompetenter Leitung wenig brachte. Nach Monaten des Unwohlseins diagnostizierte ihr Gynäkologe eine Senkblase und verordnete eine spezialisierte Rückbildung im Inselspital.
Die Kosten musste Fabienne selbst übernehmen, nicht einmal ihre Zusatzversicherung zahlte etwas an den Kurs. «Dabei ist doch total klar, dass ich den Staat auf lange Sicht mehr koste, wenn ich diese Rückbildung jetzt nicht mache.»
Eine Senkung der Organe kann massive Folgen haben.
Wie viele Frauen nach der Geburt an einer Senkung der Organe leiden, ist nicht erforscht. Auch die Gebärmutter oder der Enddarm können betroffen sein.
Expert:innen gehen aber davon aus, dass ein Drittel aller Frauen von einer Senkung betroffen ist – auch solche, die nicht geboren haben. Eine unbehandelte Senkblase kann zu Inkontinenz und schweren Rücken- und Unterbauchschmerzen führen. Ohne geeignete Therapie kann es ausserdem sein, dass die Harnblase vollständig absinkt und den Harnleiter abklemmt, was lebensgefährliche Folgen haben kann.
Weil der Beckenboden nach einer Geburt geschwächt ist, wird eine Senkblase oftmals erst spät bemerkt. Hinzu kommt, dass die Therapie mittels Beckenbodentrainings oft Monate dauert. «Eine befristete Kostenübernahme macht da null Sinn», sagt Fabienne Riedo.
In der Schweiz gibt es keine Zahlen zu den Kosten, die eine Geburt längerfristig verursachen kann. Der Konsens scheint zu sein: Was nach der Geburt passiert, ist Privatsache.
Folgen einer Geburt? Sollen die Frauen selber regeln…
«Dabei kann man mit wenig finanziellem Aufwand Anreize schaffen, damit es Müttern nach der Geburt besser geht», sagt Irène Kälin. Deshalb will sie mit einer zusätzlichen Motion die Obligatorische Krankenversicherung dazu bewegen, sich an den Kosten eines Rückbildungskurses zu beteiligen. Denn während in der Schweiz 150 Franken Beteiligung an einen Geburtsvorbereitungskurs gesetzlich verankert sind, gehen die Rückbildungskosten bei vielen Kassen voll zu Lasten der Frau.
Kälin sagt:
Zum einen wird so der Anschein erweckt, dass ein Geburtsvorbereitungskurs gesundheitlich wichtiger ist als die Rückbildung. Zum Anderen hat es zur Folge, dass viele Mütter aus finanziellen Gründenauf einen Kurs zur Rückbildung verzichten.
Irène Kälin
Rückbildung nach der Geburt sei aber essenziell, um späteren gesundheitlichen Problemen präventiv entgegenzuwirken.
Fabienne Riedo und Marina geht es schon lange nicht mehr ums Geld. Marina sagt:
Uns Müttern wird suggeriert: Du wolltest ein Kind, jetzt schaust du halt. Als wären wir selbst schuld an unseren Geburtsfolgen.
Marina*
Eine unbefristete Kostenübernahme wäre da nicht bloss ein Nice-to-have, sondern ein aktives Zeichen dafür, dass man die Geburt und ihre Folgen genauso ernst nimmt wie die kostenbefreite Schwangerschaft. Auch für Fabienne Riedo eine Selbstverständlichkeit: «Gesundheit nach der Geburt darf kein Privileg sein.»
* Name der Redaktion bekannt
Information
Politische Entwicklung seit Erscheinen dieses Artikels
Seit Publikation dieses Artikels im März 2023 hat sich auf gesetzlicher Ebene einiges getan:
- Die von Irène Kälin 2019 eingereichte Motion zur Kostenbefreiung von Schwangeren während der ganzen Schwangerschaft wurde im Juni 2024 im Zusammenhang mit der geplanten Änderung des Krankenversicherungsgesetzes (Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2) abgeschrieben. Diese Änderung ist beschlossene Sache, die Referendumsfrist ist im Juli 2025 abgelaufen. Seither ist sie in Überarbeitung durch das Bundesamt für Gesundheit (Stand September 2025). Sie wird voraussichtlich 2027 in Kraft treten und unter anderem Folgendes beinhalten: Die allgemeinen medizinischen Leistungen und Pflegeleistungen bei Krankheit werden neu bereits ab dem ersten Tag der ärztlich oder von einer Hebamme bescheinigten Schwangerschaft vollumfänglich gedeckt sein, also ohne Kostenbeteiligung der Schwangeren. Dies gilt auch bei einer Fehlgeburt in den ersten 12 Wochen oder einem legalen Schwangerschaftsabbruch.
- Die von Irène Kälin im März 2023 eingereichte Motion «Kein künstliches Ende der Kostenbefreiung für alle mit der Mutterschaft in direktem Zusammenhang stehenden Leistungen» wurde im September 2024 vom Nationalrat abgelehnt mit folgender Begründung: «Es ist oft nicht möglich, und mit fortschreitender Zeit immer schwieriger, zu belegen, welche gesundheitlichen Probleme in direktem Zusammenhang mit einer Schwangerschaft oder Niederkunft stehen. Eine solche Regelung würde zu einer je nach Leistung unterschiedlichen Umsetzung führen, was die Gleichbehandlung der Versicherten gefährden würde.»
- Auch die im März 2023 von Irène Kälin eingereichte Motion zur Kostenbeteiligung an der Rückbildung nach der Geburt wurde im September 2024 abgelehnt. «Der Bundesrat ist der Ansicht, dass heute die medizinisch notwendigen Massnahmen von der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) vergütet werden, und sieht in einer breiten Kostenübernahme von Rückbildungskursen mit zu wenig bekanntem Nutzen ein Risiko für eine Kostenausweitung zulasten der OKP.»
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 10. März 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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