«Ich wusste, dass mein Kind tot ist. Mein Körper wusste es noch nicht»
Eine Fehlgeburt in den ersten Wochen ist nicht so schlimm, weil es ja noch so früh ist? Das dachte Martina Müller mal. Dann erlebte sie eine Missed Abortion – und es zog ihr den Boden unter den Füssen weg.
Das ist die Geschichte eines Lebewesens, das sich still und heimlich verabschiedet hat. Es ist die Geschichte eines Kindes, das gegangen ist, bevor es als Kind erkennbar war. Es ist die Geschichte eines Körpers, der nicht gemerkt hat, dass er nicht mehr schwanger ist. Es ist die Geschichte eines Herzchens, das nicht schlagen wollte.
Es ist die Geschichte einer Fehlgeburt. Meine Geschichte.
Es sollte die erste Schwangerschaftskontrolle werden. Ich war nervös, aber eigentlich nicht besorgt. Mir war seit Wochen wahnsinnig übel, ich war extrem müde, hatte aber keine Blutungen, keine Schmerzen, nichts. Ich war einfach schwanger. Mein Mann war dabei, wie schon bei den Schwangerschaftskontrollen unseres ersten Kindes.
Und dann haben wir das Ultraschallbild gesehen. Da hat sich nichts bewegt. Ganz deutlich haben wir den Embryo gesehen. Da war er in seiner Fruchtblase. Völlig regungslos.
Der Arzt fragte mich, wann der Schwangerschaftstest positiv gewesen sei. Ob ich sicher sei, dass ich nicht schon länger schwanger war. Oder weniger lang. Ich war sicher. Und dann dieser Satz: «Es hat keinen Herzschlag». Ich habe sofort begonnen zu weinen.
Ich hatte eine sogenannte Missed Abortion.
Eine Fehlgeburt, die der Körper noch nicht bemerkt hat.
Und ich hatte drei Optionen: Abwarten, bis der Körper den Embryo selber abstösst, was aber noch mehrere Wochen dauern konnte, Tabletten einnehmen, die den Abgang auslösen würden, oder einen operativen Eingriff: eine Ausschabung. Was für ein schrecklicher Begriff. Ich müsse mich nicht gleich entscheiden, sagte der Arzt, ich solle mir Zeit nehmen, es pressiere nicht.
Wie gelähmt verliessen wir die Arztpraxis, mein Mann und ich. Im Auto haben wir beide geweint. Damit hatten wir einfach nicht gerechnet.
Mein Kind hatte keinen Herzschlag. Hatte es überhaupt schon gelebt? Hatte es vorher als Leben gegolten? Medizinisch wohl nicht. Emotional schon. Sobald ich wusste, dass ich schwanger war, hatte ich mich auf mein Kind gefreut. Mein Kind. Nicht Fötus oder Embryo oder – seien wir ehrlich: Zellhaufen.
Was ich verloren hatte, war mein Baby. Unser zweites Kind, das ich Anfang September in den Armen halten sollte.
Wir werden diesen Beitrag noch aufbretzeln für unsere neue Webseite. Drum sieht momentan nicht alles rund aus. Aber mal ehrlich: gut genug. Danke für deine Geduld!
Eine Fehlgeburt kann passieren. Fehlgeburten kommen sogar sehr oft vor.
Ich wusste das, so wie das jede schwangere Frau weiss. Ich wusste, dass es ein richtiger und wichtiger Vorgang der Natur ist, ein nicht lebensfähiges Wesen abzustossen. So früh wie möglich. Bei mir war’s in der neunten Schwangerschaftswoche.
Ich hatte immer geglaubt, eine so frühe Fehlgeburt sei zwar traurig, aber nicht ganz so schlimm, weil’s doch noch so früh ist.
Ich konnte mir das Ausmass des Schmerzes nicht vorstellen. Es hat mich völlig unvorbereitet getroffen.
Ich bestand nur aus Traurigkeit. Und dann kam die Wut.
In den folgenden Tagen war ich wütend auf meinen Körper.
Ich fühlte mich von ihm im Stich gelassen und verraten. Ich hatte mich immer auf mein Bauchgefühl verlassen können. Egal ob beruflich oder privat. Mein Bauchgefühl wusste auch beide Male, dass ich schwanger war, bevor ein Test überhaupt ein Ergebnis hätte zeigen können.
Aber jetzt? Jetzt wusste es der Kopf zum ersten Mal besser. Mein Bauch sagte mir immer noch «ich bin schwanger». Aber das stimmte nicht. Zum ersten Mal konnte ich mich nicht mehr auf mein Bauchgefühl verlassen.
Das riss mir den Boden unter den Füssen weg.
In einem Punkt waren sich Kopf und Bauch jedoch einig: Sie waren noch nicht bereit dazu, mein Kind loszulassen.
Nach einer Woche sass ich wieder beim Arzt. Der erneute Ultraschall bestätigte, was ich schon wusste: Der leblose Embryo war noch immer in meinem Bauch. Die Assistenzärztin gab mir die Tabletten und wir sind wieder nach Hause gefahren.
Zwei Tage später schrieb ich in mein Tagebuch: «Mein Sternchen. Ich kann nicht sagen, ich bin bereit, denn das bin ich nicht. Aber ich lasse dich ziehen, du darfst gehen. Ich halte dich nicht zurück an einem Ort, an dem es keine Zukunft für dich gibt. Ich hätte mir ein ganzes Leben mit dir gewünscht, nicht nur diese wenigen Wochen. Aber ich bin froh, dass ich mich von dir verabschieden konnte. Du bleibst für immer in meinem Herzen.»
Und jetzt? Ich war nicht schwanger.
Aber ich war auch nicht nicht schwanger.
Ich war traurig, müde, kaum funktionsfähig. Aber ein Tag nach dem anderen verging und ich kümmerte mich um meinen Sohn (wenn auch nicht besonders gut), ich kaufte ein, kochte, machte den Haushalt, ging arbeiten (wieder: nicht besonders gut – an dieser Stelle ein riesiges Dankeschön an meinen verständnisvollen Chef).
Und die ganze Zeit dachte ich an nichts anderes als an mein totes Kind. Ich wollte, dass es vorbei ist. Dass mein Körper es gehen lässt.
Gleichzeitig hatte ich grosse Angst davor.
Es war alles so surreal. Und gleichzeitig sehr real.
Ich wusste, dass mein Kind tot ist. Ich glaube, ich hatte das mittlerweile akzeptiert. Und es fühlte sich an, als ob das Gewicht, das zuvor auf meinen Schultern lag, in mich hineingerutscht war. In meinen Bauch, in meinen Magen, in mein Herz.
Ich konnte aufrecht durch den Alltag gehen, aber innerlich zog mich alles nach unten.
Durch Zufall fand ich eine Hebamme, die sich mit Fehlgeburten auskennt, und die mir gleich einen Termin gab. Ich weiss nicht, was ich ohne sie gemacht hätte.
Sie hat mir viele Fragen gestellt: Kannst du mit deinem Mann trauern? Weisst du, was du mit dem Embryo machen möchtest? Spülst du es das WC runter oder möchtest du ein Abschiedsritual vorbereiten? Wenn du es auf deine Art verabschieden oder beerdigen möchtest, weisst du, wie du es auffangen kannst? Ist jemand bei dir, wenn es passiert?
Fragen, von denen ich mir wünsche, ich hätte sie nie beantworten müssen.
Aber sie waren so wichtig. Und ich bin froh, wurden sie mir gestellt. Meine Hebamme hat mich Frage um Frage darauf vorbereitet, was mich erwartet, wenn ich die Tabletten nehme und mein Kind dann tatsächlich verliere.
Sie hat mir dabei geholfen, mich mit meinem Körper zu versöhnen. Und vor allem hat sie mir eines gegeben: ein kleines bisschen Kontrolle in einer Situation, in der ich mich völlig machtlos fühlte.
Zehn Tage nachdem ich erfahren hatte, dass ich mein Kind verliere, habe ich die Tabletten eingenommen. Meine Hoffnung, dass der Körper doch noch merkt, dass da was nicht stimmt, hatte sich nicht erfüllt. Ich hielt es nicht aus, länger zu warten.
Die Tabletten zu nehmen, war schwierig.
Mit der Einnahme würde es endgültig vorbei sein. Vorbei der Traum, ein paar Monate später mein zweites Kind in den Armen zu halten.
Einen Tag, nachdem mein Baby für immer von mir gegangen ist, habe ich in mein Tagebuch geschrieben: «Jetzt bist du gegangen, mein Sternchen. Mein Kopf, mein Herz und schlussendlich auch mein Körper waren bereit, dich ziehen zu lassen. Und jetzt weiss ich auch: Ich habe dich nicht an diesem traurigen Wintersamstag mit Bauchkrämpfen auf dem WC verloren. Ich habe dich zehn Tage zuvor verloren, als mir der Satz «Es hat keinen Herzschlag» das Herz gebrochen hat. Mach’s gut, mein Sternchen, du bleibst für immer in meinem Herzen.»
Informationen zum Beitrag
Dieser Beitrag erschien erstmals am 23. Oktober 2020 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.
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